FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 27 (Fortsetzung)]



2. Deutsche politische Exilanten und die Radikalisierung der Revolution 1793/94:
Die Rezeption einer jakobinischen Kultur?


In der deutschen Jakobinerforschung ist ihr Verhältnis, wie übrigens auch das der Mainzer Klubisten, zur Terrorzeit und zur jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur der Jahre 1793/94 oft unberücksichtigt geblieben, und wenn dies doch der Fall war, nicht differenziert genug behandelt worden. Zu pauschal fallen die Darstellungen der Historiker aus, die bemüht sind, die feste

[Seite der Druckausg.: 28]

Kontinuität ihres revolutionären Engagements in den Vordergrund zu stellen. In einem Artikel über den Pfälzer Christian Friedrich Laukhard betont Hans-Werner Engels Laukhards Zustimmung zur Jakobinerdiktatur. [Hans Werner Engels, Friedrich Christian Laukhards Rechtfertigung der revolutionären Jakobinerdiktatur, in: Die demokratischen Bewegungen in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht. Einzelveröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin, Bd. 29, Berlin, 1980, S. 56-72.]
Sich auf dieses Beispiel konzentrierend, vertritt er darüber hinaus die These, dass eine Vielzahl von Deutschen – u.a. die, die in den Revolutionsarmeen mitkämpften – ebenso wie Laukhard mit der Jakobinerdiktatur einverstanden waren. [Ebd., S. 58.] Aufgrund der Quellenlage erweist es sich indes als unmöglich, nachzuvollziehen, inwieweit diese Deutschen über die politischen Maßnahmen, die in Paris getroffen wurden, informiert waren und welches Verhältnis sie eventuell zu ihnen entwickelten. Ihre reine Anwesenheit in den Revolutionsarmeen kann nicht als ein Zeichen ihrer Zustimmung zur jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur interpretiert werden.

Die Legitimierung der Revolution und das Festhalten an einem revolutionären Engagement setzt nicht notwendigerweise die Zustimmung zum gesamten Revolutionsverlauf voraus. Das weitere Eintreten für die französische Revolution zur Zeit der jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur und nach dem Sturz von Robespierre im Thermidor weist nicht unbedingt auf ein positives Verhältnis zum Terror hin. Außerdem kann das nachthermidorianische Engagement vieler Mainzer und anderer deutscher Revolutionsanhänger zugunsten Frankreichs und seiner Revolution nicht als ein indirektes Zeichen ihrer gesamten Zustimmung zum Revolutionsverlauf, einschließlich der Terrorzeit, gelten. Die Diskontinuität des Engagements des Mainzer Klubisten Georg Wilhelm Böhmer bildet in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Er spielte als Privatsekretär von Custine eine Schlüsselrolle zur Zeit der ersten französischen Besatzung von Mainz und gilt als einer

[Seite der Druckausg.: 29]

der prominenten "Mainzer Jakobiner". Merkwürdigerweise hat bisher die Einstellung Georg Wilhelm Böhmers zur Radikalisierung der Revolution keine besondere Beachtung gefunden. Zwar wird seine kritische Haltung in dem umfangreichen "Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa" [Axel Kuhn, Helmut Reinalter, Alain Ruiz, Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992.] erwähnt, doch kommentiert Heinrich Scheel jene Haltung, die sich vor allem anhand eines handschriftlichen Briefes belegen lässt, lediglich in der Einleitung in seinem großen Werk zur Mainzer Republik. Diesen Brief ließ Böhmer in der preußischen Haft auf dem Petersberg bei Erfurt nach der Kapitulation von Mainz im Juni 1794 einem unbekannten Freund zukommen. In diesem Brief distanziert er sich stark vom revolutionären Frankreich:

    "Vermutlich wirst du es schon [...] bemerkt haben, dass meine Vorliebe zu Frankreichs Verfaßung in ernstes Nachdenken übergegangen ist, oder vielmehr, dass die Resultate meines dermaligen Denkens über diesen Gegenstand mit dem meiner früheren Ueberlegungen nicht mehr völlig übereinstimmend sind. Nunmehr muß ich dir ohne allem Rückhalt sagen, dass meine Urtheile über das französische Volk und über dessen Revolution, die ich [...] mit warmer Liebe umfaßte, fast gänzlich geändert haben. Ich sehe nicht mehr ein Volk, welches von seinem eigenem Monarchen aufgefordert die Felsenlast ihrer Kultur entschlossen und muthvoll von sich abwälzt." [Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Klubisten-Akten, Fasc. 89, folie 7 bis 14.]

Was Scheel als Umschwung eines impulsiven Temperaments interpretiert [H. Scheel stützt sich dabei auf die Kommentare der Schwägerin Böhmers und die Eickenmeyers, einem der ersten Mainzer Klubisten. Siehe: H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1, S. 76.], kann vielmehr als eine logische Entwicklung betrachtet werden. Selbst wenn die Radikalisierung der Revolution bei Böhmer eine tiefgreifende Krise auslöste, bedeutete sie nicht einen Verzicht auf ein politisches Engagement. In dem bereits

[Seite der Druckausg.: 30]

zitierten Brief schreibt Böhmer nämlich weiter, die mögliche Reaktion seines Freundes antizipierend:

    "Also bist du jetzt ganz deinen ehemaligen Grundsätzen über Freiheit und Völkerglück untreu geworden? höre ich dich fragen. Ich antwortete: nur über die Mittel zur Beförderung des letztem haben sich meine Überzeugungen geändert. Ich verabscheue gewaltsame Revolutionen, ein einzigen Fall ausgenommen, wenn Regent und Bürger sie gemeinschaftlich beschließen – und glaube dagegen, dass mein deutsches Vaterland sich mit Zuversicht dasjenige von der Billigkeit seiner Regenten versprechen darf, was Frankreich sich von Revolutionen verspricht." [Ebd.]

Unter dem Eindruck der Radikalisierung der Revolution knüpft Böhmer also am aufklärerischen Ideal einer "Reform von Oben" für Deutschland an, einem Ideal, das die Politisierung vieler späterer deutscher Revolutionsanhänger zur Zeit der Spätaufklärung begleitete. Da Böhmer seine politischen Ideale von der eigenen revolutionären Erfahrung Frankreichs 1794 gut unterscheiden kann, kann er zu einem republikanischen Frankreich zur Zeit des Direktoriums wieder ein gutes Verhältnis entwickeln, ohne jedoch die Politik der jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur akzeptiert zu haben. Nach seiner Entlassung aus der Petersburger Festung flüchtete er Anfang 1795 mit seiner Frau nach Paris, wo er einer der entschiedensten Befürworter der erneuten Besetzung und Annektierung der linksrheinischen Gebiete durch Frankreich werden sollte.

Wenn Böhmer weiterhin das naturrechtliche Fundament der Revolution unterstützt, lehnt er offen dessen radikale Umsetzung zur Zeit der jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur ab und bleibt der freiheitlichen Tradition der Aufklärung treu. Aber auch die Rechtfertigung jener radikalen Umsetzung führt nicht zu einem endgültigen Bruch mit aufklärerischen Idealen. Die Kontinuität des revolutionären Engagements von Georg Forster und vom Württemberger Georg Kerner, die beide die Radikalisierung der Revolution in Paris erlebten, ist nicht von einer aktiven Rezepti-

[Seite der Druckausg.: 31]

on einer jakobinischen Kultur abhängig, sondern vielmehr von einer konsequenten Ablehnung der gegenrevolutionären Alternative.

Auf welche Argumentationsstrategien griffen also Forster und Kerner zurück, um die Radikalisierung der Revolution zu rechtfertigen, ohne jedoch der Politik der Wohlfahrtsdiktatur zustimmen zu müssen? Bei der Untersuchung dieser Frage verdient der Einfluss der politischen Konstellationen und des wechselhaften Revolutionsverlaufs auf solche Argumentationsstrategien eine besondere Beachtung. Nach dem 9. Thermidor und dem Sturz von Robespierre gewann die Terrorzeit eine ganz andere Bedeutung im Gesamtablauf der Revolution und nahm einen wichtigen Platz in den nachthermidorianischen Debatten ein – diese Wandlung der Bedeutung des Terrors übersah die deutsche Jakobinerforschung, deren Sinn für die Kontextualisierung der zugänglichen Quellen ungenügend blieb.

Für Walter Grab, der in seinen Veröffentlichungen stets bemüht war, die Kontinuität des Engagements der sog. "deutschen Jakobiner" zu betonen, "hielten die deutschen Volkstribune" – damit waren letztere gemeint – "auch während der Jakobinerdiktatur an der Überzeugung fest, dass Frankreich für die Sache der ganzen Menschheit kämpfe", indem sie "die Exzesse der Schreckensherrschaft den Untaten einzelner zuschrieben." [Walter Grab, Zur Definition des mitteleuropäischen Jakobinismus, in: Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1980.] Für Grab relativierten sie also die Episode des Terrors, indem sie ihn als das Ergebnis der Tätigkeiten einzelner betrachteten und somit als eine unbeabsichtigte Abweichung vom normalen Revolutionsablauf interpretieren konnten. Eine solche Sichtweise ist zwar in den Zeitzeugenberichten verbreitet, kommt aber erst nach dem Sturz von Robespierre zum Tragen, als sie die nachthermidorianischen Debatten über den Terror beherrschte. Vor dem Sturz von Robespierre tendierten Forster und Kerner eher dazu, auch wenn teils nur implizit formuliert, die Terrorzeit

[Seite der Druckausg.: 32]

als eine von der Revolution nicht zu trennende Episode anzusehen bzw. darzustellen.

Die Untersuchung der zeitgenössischen Reaktion der deutschen politischen Exilanten in Paris auf die Radikalisierung der Revolution und die Umsetzung terroristischer Maßnahmen ist problematisch. Die relevanten Quellen sind nicht nur fragmentarisch, sondern auch in einer Zeit geschrieben, in der Ausländer in Frankreich einer prekären Situation ausgesetzt waren und kritische Meinungsäußerungen zur Lebensgefahr werden konnten. Nach dem Gesetz vom 17. September 1793, der sogenannten "loi des suspects", standen in erster Linie die Ausländer unter Verdacht, Agenten der konterrevolutionären Mächte zu sein und wurden nicht selten festgenommen. [Von der Gruppe von deutschen politischen Exilanten, die sich 1793/94 bereits in Paris aufhielten, wurden Gustav Schlabrendorf und Karl Friedrich von der Trenck festgenommen. Georg Kerner und Konrad Engelbert Oelsner flüchteten zur Zeit des großen Terrors in die Schweiz: Kerner floh im April 1794 nach Zürich und Oelsner im Mai desselben Jahres dorthin zu seinem Freund Paul Usteri. Beide waren Zeugen des ausländerfeindlichen Klimas. Bereits im August 1792 wies Oelsner darauf hin: "Der Aufenthalt von Paris ist jetzt äusserst unangenehm; das Mißtrauen schielt aus aller Augen; niemand wagt seine Meinung zu sagen; Exekutionen sind die tägliche Unterhaltungen des Volkes." In: Oelsner, Luzifer oder gereinigte Beiträge zur Geschichte der Revolution, zweyter Theil, Reprint [1799], Kronberg/Ts. 1977, S.118. Forster unterstrich im Januar 1793 die heftige Ausländerfeindlichkeit: "Der Haß gegen Ausländer bricht immer hämischer und niederträchtiger hervor." In: Georg Forster, Sämtliche Schriften (Briefe 1792-1794), Bd. 17, Berlin 1989, S. 310.]
Das Schicksal des Mainzer Klubisten Adam Lux, der trotz der Hegemonie der Bergpartei die Säuberung des Nationalkonvents von seinen girondistischen Elementen am 31. Mai 1793 durch das Volk der Pariser Sektionen öffentlich kritisierte und infolgedessen hingerichtet wurde, mag in dieser Hinsicht nicht überraschen. Vermutlich hat sein Beispiel viele andere erschreckt, die in Paris verweilten und mit ihm sogar befreundet waren. Der Rückgriff auf private Briefe ermöglicht jedoch eine partielle Beleuchtung ihres Verhältnisses zur Radikalisierung der Revolution.

[Seite der Druckausg.: 33]

Zwar rechtfertigten Forster und Kerner beide die Radikalisierung der Revolution, ihre Haltungen gegenüber der jakobinischen Wohlfahrtsdiktatur unterscheiden sich jedoch grundsätzlich: Während Forster auch mit der Wirtschafts- und Religionspolitik dieser Diktatur einverstanden war [Über die Stellungnahme Forsters zur Sitzung des Nationalkonvents vom 17. November 1793, in der die Dechristianisierung verordnet wurde, siehe: Ebd. (Parisische Umrisse), Bd 10/2, S. 607-608. Über seine Stellungnahme zur Wirtschaftspolitik, siehe: Ebd., S. 608. Forster relativierte selbst die Tätigkeiten des revolutionären Tribunals in einem Brief vom 23. Juni 1793: "Eine Schande der Revolution ist das Blutgericht [...]. Wenn diese Auftritte vorüber sind, übersieht man sie in der Geschichte, um der heilsamen Folgen willen, die man, zwar nicht durch sie aber doch nebenher, durch die Revolution erlangte". In: Ebd., Bd. 17, S. 375.], verabscheute Kerner sowohl die revolutionären Exzesse als auch die terroristischen Maßnahmen.

Als Forster nach seiner Ankunft in Paris seine Unzufriedenheit über die revolutionäre Realität mehrmals ausdrückte, wurde er allmählich zum Verteidiger der Bergpartei gegen die Gironde. Somit muss er als Ausnahme gelten, denn im Gegensatz zu Forster blieben die meisten deutschen politischen Exilanten auch nach ihrer Beseitigung aus dem nationalen Konvent Anhänger der Gironde.

In seinen Briefen an seine Frau und sogar in einer kleinen Schrift, die 1794 in der Zeitschrift "Die Friedenspräliminarien" von Ludwig Ferdinand Huber [Ludwig Ferdinand Huber (geb. 14.9.1764 Paris, gest. 24.12.1804, Ulm): Legationssekretär, Publizist. Siehe: Axel Kuhn, Helmut Reinalter, Alain Ruiz, Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992, S. 59-60.] erschien, greift Forster auf drei verschiedene Argumente zurück, um die Radikalisierung der Revolution zu legitimieren. Wenn die leidenschaftlichen Exzesse, die Forster in Paris erlebte, ihn auch zuerst erschütterten und an dem Ausgang der Revolution zweifeln ließen [Während Forster die Revolution aus der Ferne als das Werk der kalten Vernunft betrachtete, wurde er in Paris mit einem Ausbruch vieler Leidenschaften konfrontiert, die er nicht erwartet hatte und missbilligte: "Aus der Ferne sieht alles anders aus, als man es bei näherer Besichtigung findet. Dieser Gemeinspruch dringt sich mir hier sehr oft auf. Ich hänge noch fest an meinen Grunsätzen; allein ich finde die wenigsten Menschen ihnen treu: Alles ist blinde Leidenschaftliche Wuth, rasender Partheigeist, und schnelles Aufbrausen, das nie zu vernünftigen ruhigen Resultaten gelangt". In: Georg Forsters Werke (Brief an Therese Forster, den 8. April 1793), Bd. 17, S. 341. Unmittelbar nach dem 31. Mai 1793, als die Pariser Sektionen die Gironde aus dem Nationalkonvent entfernten, schreibt er, indem er auf die Rolle der Pariser Sektionen hinweist: "Die Feigheit des Nationalkonvents war schuld, dass es ihnen gelang. Nun thut jene Partei, was sie will. Ich erwarte alles, was Leidenschaft in einer Republik und zumal einer gährenden, bei verderbten Zeitläufen vermag." In: Ebd. (Brief an Therèse Forster vom 4. Juni 1793), S. 362.], verschwand

[Seite der Druckausg.: 34]

diese Einstellung jedoch, sobald er den Leidenschaften eine wichtige Funktion im Hinblick auf die Verbesserung des Menschengeschlechts zuwies. Diese Funktion ist auf eine Geschichtsauffassung zurückzuführen, die zuerst nur implizit formuliert wurde. In einem Brief vom 10. Juni 1793 an seine Frau behauptet er, dass der Entwicklungsverlauf der Leidenschaften, der mannigfache Wirkungen und Gegenwirkungen zur Folge habe, ein Zweck des menschlichen Daseins sei. [Ebd., S. 365.] Darüber hinaus suggeriert er, dass die Revolution nicht zufällig ausgebrochen sei. [So schreibt er: "Ich glaube nun einmal an die Wichtigkeit der Revolution im großen Kreise menschlicher Schicksale; glaube, dass sie nicht nur sich ereignen mußte, sondern auch den Köpfen, den Fähigkeiten eine andre Entwicklung, dem Ideengang eine neue Richtung geben wird". In: Ebd., S. 364.]
Sie sei nämlich Teil eines geschichtlichen Prozesses, der sich anhand ihres Ablaufs konkretisiere. Aus dem Zusammenschluss von Geschichtsauffassung und Revolutionstheorie erklärt sich – so Forster – die Funktion der revolutionären Leidenschaften innerhalb einer Menschheitsgeschichte. Die Revolution wird von Forster zu einem Werk der Vorsehung stilisiert, die aus den Wirkungen der menschlichen Leidenschaften Verbesserungen im Menschengeschlecht veranlasst. Aus diesem Grund habe die Vorsehung, so Forster, die Revolution in Frankreich ausbre-

[Seite der Druckausg.: 35]

chen lassen, wo die Menschen sich am wenigsten fähig erwiesen hätten, sich zu verbessern:

    "Fragen sie, warum die Vorsehung dieses Mißverhältniß zwischen der Unhaltbarkeit einer Regierung und der Unfähigkeit des Volks sich eine neue zu schaffen, geduldet, und in diesem Zeitpunkt die Revolution hat fallen lassen? – Wer anders kann Ihnen antworten, als die unbegreifliche und unergründliche Weisheit der Vorsehung selbst! ich fühle nicht den Beruf, diesen Artikel der Theodicee auszuarbeiten, wenn ich gleich für mich überzeugt bin, dass unsere Revolution, als Werk der Vorsehung, in dem erhabenen Plan ihrer Erziehung des Menschengeschlechts gerade am rechten Orte steht, und dass Frankreich, nach dem schweren Verhängnisse, das über ihm waltet, sich dennoch zu einer geläuterten, vernünftigen, wohltätigen Verfassung emporarbeiten wird." [Ebd. (Parisische Umrisse), S. 600.]

Forster stilisiert die Terrorzeit als eine lehrreiche Erfahrung, die eine Verbesserung des Menschengeschlechts ermöglichen soll.

Die gewaltätigen Begleiterscheinungen der Revolution 1793/94 werden auch von Forster legitimiert, dadurch, dass er sie als eine notwendige Folge des übermäßigen königlichen Despotismus im vorrevolutionärem Frankreich darstellt. Vor diesem Hintergrund konnte er letztlich die Jakobiner von 1793/94 aus der Verantwortung für die Exzesse entlassen: "Ich bin meiner Philosophie gewiß genug", schreibt er in einem Brief vom 11. Juli 1793, "um mich bei dem Gedanken zu beruhigen, dass nichts in der Welt durch Zufall geschieht, und dass die Veränderungen, die sich in unsern Tagen zugetragen haben, die unvermeidliche Folge der Verbrechen der vorhergehenden Regierungen waren." [Ebd., Brief an Thomas Brand (?) vom 11. Juli 1793, S. 386.] Für Forster war also die Revolution eine Folge des französischen Despotismus und diente zu dessen Heilung. [So schreibt er: "Die Meinung, die ich bestreite, hält die Verderbtheit für die bittere Frucht der Revolution; ich hingegen glaube, dass eine allgemein gewordene selbstsüchtige Stimmung die Ursache der Revolution ist, und nur durch sie geheilt werden kann". In: Ebd. ( Parisische Umrisse ), S. 607.]

[Seite der Druckausg.: 36]

Diese Idee, dass der übermäßige französische Despotismus nur durch sich selbst geheilt werden könne, deckt sich zum größten Teil mit der Auffassung, die revolutionären Leidenschaften spielten eine entscheidende Rolle in der Menschheitsgeschichte.

Forsters drittes Argument zur Legitimierung der Radikalisierung der Revolution ist der konterrevolutionäre Widerstand, infolge dessen die Jakobiner zu außerordentlichen Maßnahmen gezwungen wurden, die insofern gerechtfertigt seien, als sie einen Triumph der Konterrevolution verhinderten. [In einem Brief vom Juni 1792 weist Forster darauf hin, dass: "Es leicht gesagt [ist], dass die Jakobiner zu weit gehen, aber wer kann leugnen, daß, so wie sie das Heft aus den Händen geben, die Gegenrevolution gemacht sey? Freilich wird diese von Allen gewünscht, die gegen die Jakobiner sprechen. In einem Augenblicke, wo ein solch schweres Gewicht in diese Sache geworfen wird, haben sie Anstrengungen, Überspannungen, wenn man will nöthig, um die andere zu senken. Nie hatte die Tyrannei so viel Unverschämtheit, so viel Ausgelassenheit, nie wurden alle Grundsätze so mit Füßen getreten, nie herrschte Verleumdung mit so zügelloser Gewalt." In: Ebd., Brief an Christian Gottlob Heyne vom 5. Juni 1792, S. 127.]

In dieser Hinsicht speist sich Forsters Rechtfertigung der Wohlfahrtsdiktatur aus einem Geist, den man auch bei Georg Kerner wiederfindet. Genauso wie Forster suggeriert Kerner, dass die Radikalisierung der Revolution eine Folge ihrer Bedrohung durch die konterrevolutionären Mächte sei und daher relativiert werden müsse. Die Radikalisierung sei eine zwar abstoßende, aber dafür nur vorübergehende Erscheinung. Kerner leitet das Scheitern der konterrevolutionären Mächte aus einer impliziten Geschichtsauffassung ab, die wie bei Forster den glücklichen Ausgang der Revolution voraussetzt. In einem Brief vom März 1794 zur Zeit des großen Terrors verleiht er gleichzeitig seiner tiefen Niedergeschlagenheit und seiner Hoffnung auf bessere Zeiten Ausdruck, wobei sich letztere auf die Siege der Revolutionsarmeen stützen:

    "In mich selbst muß ich den großen Gram verschließen, der [...] mein Innerstes zerstört, mich bei Tag verfolgt und bei Nacht mich in meiner Ruhe stört – O Zukunft! O Freiheit! O Republik! – Doch! Mö-

    [Seite der Druckausg.: 37]

    gen die Menschen auch noch so sehr an euch zerren, der Ereignisse Allgewalt scheint für eure Erhaltung sowie für den Untergang der Tyrannen zu bürgen! Schon den ganzen Tag über höre ich den Donner der Kanonen, die hier seit kurzer Zeit verfertigt wurden und die man gegenwärtig probiert. Angenehme Musik für meine Ohren, jeder Knall ist ein Urteilsspruch über die Feinde der Freiheit – möge jeder dieser Donnerschlünde Tat und Zernichtung unter unsere Gegner schleudern und niemals Bürgern zur Waffe gegen Bürger dienen." [Brief an Auguste Breyer vom 2. März 1794 in: Hedwig Voegt (Hrsg.), Georg Kerner. Jakobiner und Armenarzt, Reisebriefe, Briefe, Lebenszeugnisse, Berlin 1978, S. 433.]

In dem Maße, wie Kerner einer optimistischen Geschichtsauffassung anhängt, lässt er das Ende der Terrorzeit mit dem Triumph der revolutionären Armeen zusammenfallen. Wenn auch gerechtfertigt, betrachtet Kerner die Terrorzeit als eine dunkle Episode der Menschheitsgeschichte, die mit dem Widerstand der konterrevolutionären Mächte unmittelbar verbunden ist. Der Nachthermidorkontext sorgte für eine weitgehende Vertiefung jener Sichtweise, indem die Terrorzeit im nachhinein und vorherrschend als das Ergebnis der Verschwörung der Koalitionsmächte gegen das revolutionäre Frankreich interpretiert wurde. Somit kann die Terrorzeit als eine zufällige Abweichung vom Revolutionskurs umgedeutet werden; eine Interpretation, die die Versöhnung vieler deutscher Revolutionsanhänger mit Frankreich ermöglichte.

Für die Mehrheit der deutschen politischen Exilanten, die unmittelbar mit der Radikalisierung der Revolution konfrontiert wurden, bedeutete die Terrorzeit oft eine schwierige und traumatische Erfahrung, die sie gern im nachhinein beschwören wollten. In der Nachthermidorzeit konnten sie sich auf zweierlei Theorien des Terrors stützen, die sich überlagerten: Erstens eine subjektivische Theorie, die den Terror als ein Machtsystem interpretierte und diese Phase als den Gewaltanmaßungsprozess selbstsüchtiger Menschen betrachtete – eine Überspitzung dieser Theorie fand im Thermidor im verbreiteten Gerücht Nieder

[Seite der Druckausg.: 38]

schlag, Robespierre sei ein verdeckter König gewesen [Über die Erscheinung und die Verbreitung dieses Gerüchts siehe: B. Baczko, Robespierre-roi, ou comment sortir de la terreur, in: Le débat, Nr. 39, 1986.];
zweitens eine Verschwörungstheorie, die den Terror als das Ergebnis der Intrigen der bezahlten Agenten der konterrevolutionären Mächte im Innern Frankreich präsentierte.

In der Nachthermidorzeit entstanden nach dem Prozess von Nantes [Dieser Prozess war v.a. gegen den Volksrepräsentanten Carrier gerichtet, der im Laufe des Jahres 1793 Massenertrinken in der Loire organisiert hatte.], also einige Monate nach dem Sturz von Robespierre, eine Reihe von Schimpfwörtern, die sich auf die Leitfiguren des Terrorregimes bezogen. Jene wurden als Kannibalen, Blutmenschen und Bluthunde bezeichnet, Vokabeln, die von den Deutschen in Paris öfter verwendet wurden.

Im Nachthermidorkontext spielte die Interpretation des Terrors in Frankreich eine große Rolle, denn oft waren die Thermidorpolitiker in das Terrorregime verwickelt gewesen und verfolgten dann das Ziel, Schuldige zu nennen, um sich aus der Verantwortung zu befreien. Bereits am 28. Juli 1794, einen Tag nach dem Sturz von Robespierre, nahm Barère – ein enger Mitarbeiter Robespierres – gegen das Terrorregime Stellung. Er griff die Anmaßung der Gewalt durch einzelne Menschen an, die despotisch den Jakobinerklub und die öffentliche Meinung unterwarfen. Laut Barère hatte sich Robespierre in seinem Unterjochungsunternehmen auf eine selbstsüchtige und heuchlerische Partei gestützt, die das Ziel der alleinigen Macht verfolgte. [Siehe: Archives parlementaires, séance du 10 Thermidor an II (28 juillet 1794), Nr 49, Bd. 93, 1 ère série [Reprint], Paris 1982, S. 611-614.]
Diese Sicht des Terrors eignete sich am ausgeprägtesten Karl Engelbert Oelsner an, der sich 1790 in Paris aus reiner Bewunderung für die Revolution niedergelassen hatte. Indem Oelsner den Terror als ein Machtsystem deutete, wurde er dazu verführt, den 31. Mai 1793 – den Tag, an dem die Pariser Sektionen die Gironde aus dem Nationalkonvent entfernten – rückblickend als

[Seite der Druckausg.: 39]

das erste Manövrieren der machtsüchtigen Partei um Robespierre zu interpretieren. Dieses Ereignis sei nur eine entscheidende Etappe in dem Prozess der Machtergreifung gewesen, die auf einem Täuschungsmanöver beruht habe. Die Anführer des Terrorregimes werden von Oelsner zu Demagogen stilisiert: Um ihre privaten Absichten besser verfolgen zu können, hätten sie die Sprache des Volkes benutzt. Dadurch dass sie den Raub befürwortet und der Anarchie somit freien Lauf gelassen hätten, hätten sie sich beim Volk beliebt gemacht und ihre Macht befestigt. [So schrieb er z.B.: "Diese Apostel des Raubes verbreiteten Mißtrauen unter der Maske von Volkssprache und Volksmanier. Sie bewaffneten die Klasse, deren wahres Eigenthum Arbeit und Industrie ist, gegen die Bürger, welche sie als Reiche verhaßt machten, um sie der Rache und Proskription preis zu geben."]

Kerner greift wie Oelsner dieselbe Anarchistenpartei an. Diese Partei sei aber nicht nur eine Versammlung ehrgeiziger Menschen, die an die Macht gelangen wollten, sondern eine Partei, die sich vom Ausland bezahlen lasse. So verknüpft er eine Verschwörungstheorie mit der Interpretation des Terrors:

    "Es waren die entgegengesetzten Empfindungen von denen, die mich marterten, als ich vor 8 Monaten dies nämliche Frankreich verließ, wo das Verbrechen und die Aristokratie unter der Maske eines wilden Republikanism Greuelthaten auf Greuelthaten häuften, um eine unerfahrene und durch die schnell aufeinander folgenden großen Begebenheiten betäubte Nation von einer Stufe des Elends zur andern und so rückwärts in die Arme des Königstums zu schleudern." [Hedwig Voegt (Hrsg.), Georg Kerner. Jakobiner und Armenarzt, Reisebriefe, Briefe, Lebenszeugnisse, (Briefe aus Paris, Januar 1795), Berlin 1978, S. 69.]

Mit der Hinrichtung von Robespierre war für Kerner die Zeit der Entschleierung der Revolutionsgeschichte gekommen, nämlich die "Zeit, dem erstaunten Europa den Machiavellism der Höfe von London, Wien, Petersburg, Berlin aufzudecken und so die kalkulierten Abscheulichkeiten, die uns die Geschichte der fränkischen Revolution darbietet, wenigstens zur großen Hälfte

[Seite der Druckausg.: 40]

auf eben diese Höfe mit Recht und Billigkeit überzuwälzen." [Ebd., März 1795, S. 112.] Mit diesem Kommentar beginnt Kerners zurückblickende Interpretation des Terrors, die sich nur noch auf eine Verschwörungstheorie stützt. Diese Sichtweise findet sich in fast allen nachthermidorianischen Zeitzeugenberichten derjenigen Deutschen wieder, die als "Jakobiner" bezeichnet wurden. Sie wurde am konsequentesten von Georg Friedrich Rebmann entwickelt, der sich 1796/97 in Paris aufhielt.

Für Rebmann war es nicht möglich, im Thermidor in der Terrorzeit etwas anderes als einen geheimen Anschlag der auswärtigen Despoten zu sehen. [So schreibt er: "Nein es war nicht möglich, dass irgend ein echter Republikaner die Hand der Despotie in dieser Verwirrung aller Grundsätze, aller Ruhe, aller Ordnung hätte verkennen können. Die Wahrheit leuchtete selbst aus den schändlichen Blättern hervor, durch welche jene Verräter ihre Mördereien als Großtaten verkündeten. Dank sei den verkehrten Maßregeln der auswärtigen Despoten, dass die gemißhandelten Franken sich nicht den Tigern an der Grenze in die Arme warfen, um den Hyänen im Innern zu entgehen." In: Andreas Georg Friedrich Rebmann, Werke und Briefe (Schreiben eines Deutschen an Louvet, Stellvertreter des fränkischen Volks), Bd. 3, Berlin 1990, S. 62.] Die revolutionären Ausschweifungen vom September 1791 und vor allem vom 31. Mai 1793 werden von ihm rückblickend als Bestandteil einer konterrevolutionären Verschwörung interpretiert. Der 31. Mai 1793 falle mit einer Intrige der konterrevolutionären Mächte zusammen, die das Ziel verfolgten, die Revolution zugrundezurichten. Zur Verfeinerung dieser Verschwörungstheorie berichtet Rebmann über den tatsächlichen Umgang Marats mit den Agenten Pitts, des Premierministers von England. [Siehe: Schlüssel zur geheimsten Geschichte der Revolution, in: Andreas Georg Friedrich Rebmann, Werke und Briefe, Bd 2, (Die Geißel), Berlin 1990, S. 184-207.] Diese Verschwörungstheorie erlaubte ihm letztendlich, die Terrorzeit ganz deutlich vom normalen Revolutionsablauf zu trennen und sein republikanisches Ideal zu retten. Laut Rebmann habe die Terrorzeit nur eine Minderheit

[Seite der Druckausg.: 41]

des Volkes betroffen, was bedeutet, dass die Thermidorverhältnisse die Republik nicht in Gefahr hätten bringen können:

    "Die Anarchie, die Auflösung aller gesellschaftlichen Bande, die Gewalttätigkeit, welche unter Robespierrens Tyrannei in Frankreich anzutreffen war [...] war nie herrschender Geist der Nation, sondern ein Paroxysmus, durch die auswärtigen Mächte, durch die fürchterlichen Kabalen gegen die Nation gewaltsam hervorgebracht. Auch in Frankreich würde dieser Zustand nie von selbst entstanden sein. Als man aber die Nation von Außen und von innen mit Gewalt und Verräterei angriff, als man selbst die Maske der Volksliebe und des Patriotismus nicht verschmähte, um das Volk dem Hungertode preiszugeben, da musste die Nation natürlicherweise in einen exaltierten Zustand versetzt werden." [Stimme eines deutschen Bürgers bei Gelegenheit des kurmainzischen Friedensantrags, in: Ebd. (Das neue graue Ungeheuer, 1795), S. 55.]

Somit konnte sich Rebmann in seiner revolutionären Überzeugung bestätigt fühlen und an eine Karriere im französischen Dienst denken. Auf sein Betreiben hin wurde er im Dezember 1797 zum Richter des Kriminalgerichts in Mainz ernannt. [Siehe: Joseph Hansen, Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der französischen Revolution. 1780-1801, Bd. IV, P. Hanstein, Bonn 1935, S. 545: Ernennung der Beamten und Richter in den vier rheinischen Departements durch den Regierungskommissär Rudler.]
Danach erhielt er mehrere Stellen in den neugegründeten linksrheinischen Departements. [Die vier französischen Departements auf dem linken Rheinufer: Rhein und Mosel, Roer, Donnersberg sowie Saar wurden im Januar 1798 eingerichtet. Siehe: Ebd.: Einrichtung der vier rheinischen Departements durch den Regierungskommissär Rudler. 23. Januar 1798. Rebmann übte seine Funktion als Richter des Mainzer Kriminalgerichts bis September 1799 aus, danach wurde er Richter am dortigen Revisionsgericht und nach dessen Verschiebung in Trier. Unter dem napoleonischen Konsulat wurde er Präsident des Kriminalgerichtes von Mainz und ab 1811 des Apellationsgerichtes von Trier. Siehe: Axel Kuhn, Helmut Reinalter, Alain Ruiz, Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992, S. 90-91.]

Die herausgearbeiteten Beispiele haben gezeigt, dass die Kontinuität des revolutionären Engagements der Deutschen, die

[Seite der Druckausg.: 42]

als "Jakobiner" bekannt wurden, in keiner Weise als Kriterium für Jakobinismus dienen kann. Die Kontinuität setzt keine Zustimmung zur 1793/94 erfolgten Radikalisierung der Revolution voraus. Auch im Ausnahmefall von Georg Forster, der zwar eine Zeit lang vom Ausmaß der revolutionären Exzesse erschüttert war, dennoch aber der Wohlfahrtspolitik offensichtlich zustimmte, bedeutet diese Kontinuität keine aktive Rezeption der jakobinischen Kultur. Weit davon entfernt, den Vorrang des Gemeininteresses über das der Individuen anzuerkennen oder die Gesellschaft als einheitlich zu erfassen, bleibt er seinen ursprünglichen Idealen und seinem Moralismus kantischer Herkunft, der sich auf das Individuum konzentriert, treu. Für Forster kann der gesellschaftliche Fortschritt weiterhin nur vom individuellen Fortschritt ausgehen. So unterstreicht er die moralische Pflicht, die jedem Individuum obliegt, nachdem er auf das Chaos, das von den revolutionären Leidenschaften erzeugt worden war, hingewiesen hat: "Die Mannigfaltigkeit der Wirkungen und Gegenwirkungen, dieses Resultat der verschiedenen Entwicklungsarten der Leidenschaften und der Seelenkräfte, scheint ein Zweck unsres Daseyns zu seyn, bei welchem wir nicht einmal gefragt werden, ob wir ihn wollen. Uns bleibt es nur überlassen, in dies alles Moralität zu bringen, indem wir mit Bewußtsein wirken und leiden. Diese Moralität ist dann immer nur das Werk des einzelnen Wesens, das auf sich selbst zurückwirkt." [Georg Forsters Werke (Brief vom 10. Juni 1793), Bd. 17, S. 365.] Von diesem Standpunkt aus erklärt sich die Zustimmung Forsters zur Wirtschaftspolitik der Wohlfahrtsdiktatur durch den positiven Einfluss, die sie seines Erachtens auf die Moralität jedes Individuums haben kann. Sie kann für ihn die Individuen nicht nur dazu ermuntern, ihre Selbstsucht im Zaum zu halten, sondern kann ihnen auch dazu verhelfen, sich vom Materialismus ab- und den moralischen Werten zuzuwenden. Weit davon entfernt, die strenge Wirtschaftspolitik der Wohlfahrtsdiktatur als ein notwendiges Instrument zu betrachten, die materielle Gleichheit

[Seite der Druckausg.: 43]

der Individuen zu fördern und sie einem Gemeininteresse unterzuordnen, stimmt Forster dieser Politik nur im Hinblick auf die Wirkung zu, die sie auf die Moralität eines jeden Individuums haben kann [Über die Wirtschaftspolitik der Jakobinerdiktatur schrieb er: "Ich komme zur letzten und mächtigsten Wirkung der Revolution und der ihr inwohnenden Kraft der öffentlichen Meinung. Sie hat der Habsucht, der Gewinnsucht, dem Geitze, mit einem Worte, der ärgsten Knechtschaft, zu welcher der Mensch hinabsinken konnte, der Abhängigkeit von leblosen Dingen, einen tödlichen Streich versetzt. Die Finanzoperationen des National-Convents zweckten schrittweise dahin ab. Indem man den Wechsel- und Aktienhandel verbot, indem man eine Zwangsanleihe ansetzte, die den Kapitalisten und Rentirer traf; indem man alle Staatsschulden in ein Buch einschreiben ließ; indem man die Ausfuhr aller Waaren, die zu den Bedürfnissen des Lebens gerechnet werden, untersagte; indem man die Handwerker requirirte, dass sie für den Staat arbeiten, und die junge Mannschaft des ganzen Landes, dass sie ihren Herd verlassen und die Gränzen decken sollte: lehrte man die ganze Nation Aufopferungen machen, die dem Eigenthum einen Theil seines eingebildeten übermäßigen Werthes benahmen." In: Georg Forster, Sämtliche Schriften, Bd. 10/2, S. 608.].
So bleibt er dem radikalen Demokratismus der Jakobiner fremd.

Forster ausgenommen, weckte die Radikalisierung der Revolution bei den anderen Deutschen eher Ablehnung. Dabei setzten sie sich aber meistens weiterhin für die revolutionären Prinzipien ein. Diese Dichotomie zwischen weiterer Legitimierung der Revolution und ablehnender Haltung zu ihrem Kurs deutet auf die besondere Bedeutung der Revolution als Gesamtphänomen hin, deren Ausgang als notwendigerweise glücklich betrachtet wird. Im Gegensatz dazu lassen sich die unerwünschten Ausbrüche und Exzesse durch die äußeren Umstände bzw. durch den Angriff der Koalitionsmächte erklären und rechtfertigen, wobei sie als vorläufige und zufällige Abweichungen angesehen werden. So können sie als eine ledigliche Verschiebung des Revolutionsausgangs gelten und ohne Wirkung auf deren endgültige Verwirklichung bleiben. Die unmittelbare Interpretation des Terrors, der für viele eine Grenzerfahrung bedeutete, lässt diese Erkenntnis in den Vordergrund treten. Gleichzeitig deutet sie auf

[Seite der Druckausg.: 44]

eine Revolutionsauffassung hin, die auf eine optimistische Geschichtskonzeption aufbaut. Diese Auffassung unterscheidet sich tendenziell von der zeitgenössischen französischen Vorstellung, die französische Revolution sei ein absoluter und alleinstehender Bruch in der Geschichte. Insofern weist sie auf die Bedeutung von kulturellen Werten und Vorstellungen in der Deutung des revolutionären Phänomens hin. Diese prägen die individuellen Revolutionserfahrungen der deutschen Revolutionsanhänger, deren Eigenarten nun hervorgehoben werden sollen, um endgültig auf die Frage nach der Berechtigung des Begriffes "deutscher Jakobinismus" eine (negative) Antwort zu geben und diesen Beitrag zur Enthmytisierung des "deutschen Jakobinismus" am besten abzurunden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2002

Previous Page TOC Next Page