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1. Die Mainzer Republik: die Geburtsstunde eines "deutschen Jakobinismus"?


In Mainz konnten zwar deutsche Revolutionsanhänger Akteure einer Umgestaltung der bestehenden Strukturen werden. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit sie wirklich "Revolutionäre" sein konnten, schließlich gab es in der Welt, in der sie lebten, weit und breit keine Revolution. Die Umstände bzw. das Ausbleiben einer revolutionären Bewegung scheinen eine entscheidende Rolle gespielt zu haben, denn die fehlende Mobilisierung der Volksschichten in Mainz veranlasste bei den Mainzer Anhängern der Revolution zwar eine politische Betätigung, die sich allerdings nicht wesentlich vom Engagement anderer deutscher Anhänger der Revolution unterscheidet, welche isoliert blieben. Jene Betätigung drückt sich in erster Linie durch eine literarische Aufklärungsarbeit aus.

Selbst in Mainz, wo die Anhänger der Revolution den Schutz und die Unterstützung der französischen revolutionären Armee von Custine – dem französischen General, der im Oktober 1792 Mainz erobert hatte – genießen konnten, blieb das politische Experiment der "Mainzer Republik" von beschränktem Ausmaß. Seine Grenzen werden insbesondere anhand der Aktivitäten des dort zwei Tage nach Ankunft der Franzosen errichteten Jakobinerklubs deutlich: Sie bestanden ausschließlich in Aufklärungsarbeit über die Prinzipien der Revolution für die unteren Volksschichten, während der Pariser Jakobinerklub darüber hinaus vor allem der Vorbereitung der parlamentarischen Debatten im Nationalkonvent diente und sehr früh ein politisches Forum für die führenden Revolutionäre war. Im Gegensatz zum Pariser Klub unterließ es der Mainzer Klub offenbar absichtlich, sich aktiv in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen und sich

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Teile der Befugnisse der auf Anlass von Custine errichteten Allgemeinen Administration [Die Allgemeine Administration wurde auf Initiative von Custine am 19. November 1792 errichtet. Siehe: Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 3, Berlin 1989, S. 109.] zu erstreiten. "Die in der Aufklärung wurzelnde Ausgangsvorstellung, durch bloße Belehrung – auch durch das eigene Beispiel – die Denkungsart der Menschen und damit die Welt gründlich verändern zu können", betont Heinrich Scheel in seiner Monographie über die Mainzer Republik, "ließ den Klub vor Aktivitäten zurückscheuen, die in staatliche Belange hineinreichten und als unstatthafte Kompetenzüberschreitungen empfunden wurden." [Als Illustration dieser Aussage greift Scheel auf das Beispiel von Weisenau zurück, wo der Klub sich äußerst vorsichtig benahm. Im November 1792 hatten zwei dortige Bürger dem Klub die Absicht erklärt, einen Freiheitsbaum zu errichten, und ihn darum gebeten, Vertreter zu entsenden. Dadurch wollte die minoritäre Gruppe, die hinter der beabsichtigten Freiheitspflanzung stand, ihre Position durch die Autorität des Mainzer Klubs stärken. Haupt widersacher im Dorf war der Amtsvogt Steppes, der zum selben Zeitpunkt dem Klub beigetreten war und von Exzessen in Weisenau berichtete. Zur Untersuchung einer solchen Darstellung entschloss sich der Klub, Kom mis sare nach Weisenau zu schicken. Sein darauf gefasster Beschluss blieb aber sehr moderat, da die fünf ernannten Kommissare bei ihrem Geschäft "jede Eigeninitiative tunlichst vermeiden sollten". Siehe: Ebd., S. 103.]
Sehr schnell machte sich der Effekt der konterrevolutionären Propaganda nach der Zurückeroberung von Frankfurt im Dezember 1792 bemerkbar. Schon in der zweiten Januarhälfte 1793 verlor der Mainzer Klub eine beträchtliche Zahl seiner Mitglieder. Im März war diese Entwicklung so weit fortgeschritten, dass der französische Nationalkommissar des Pouvoir exécutif, Simon [Der Straßburger Johann Friedrich Simon traf mit seinem Schwager Gabriel Grégoire aus Thionville im Laufe des 31. Januar 1793 in Mainz ein. Die ihm und seinem Schwager von der Pariser Regierung ausgestellten Vollmachten beauftragten die beiden ausdrücklich, das Dekret des Konvents vom 15. Dezember 1792 durchzusetzen. Dieses Dekret proklamierte die notwendige Freiheit und Souveränität aller Völker, die von den Waffen der französischen Republik befreit worden waren und noch befreit werden sollten. Siehe: Décret concernant la proclamation de la liberté et de la souveraineté à tous les peuples chez lesquels la République a porté et portera ses armes in: Archives Parlementaires, Bd. 55, 1 ère série, Paris 1899, S. 70-76.], seine Auflösung an-

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ordnete. Gleichzeitig rief er zur Gründung eines neuen Klubs auf, er strebte damit eine Entfernung aller gemäßigten Elemente aus dem bestehenden Klub an. Der Übergriff des französischen Kommissars zeigt eindrucksvoll die fehlende Autonomie des Klubs durch die Abhängigkeit von der französischen Besatzungsmacht. Im Gegensatz zum Projekt des Mainzer Klubisten Christoph Friedrich Cotta [Friedrich Christoph Cotta (geb. 1758 Stuttgart, gest. 1838 Trippstadt in der Pfalz): Entstammte einer wohlhabenden Familie des württembergischen Bürgertums. Ab 1775 Reichspostverwalter, wo er während seines Jura stu diums im Umfeld eines aufgeklärten Kreises junger schwäbischer Intellektueller lebte; 1786 Dr. jur. in Heidelberg; Beginn der journalistischen Tätigkeit als Redakteur der Cottaschen Stuttgarter Hofzeitung; 1788 Dozent an der Karlsschule. Die französische Revolution beschleunigte den Umbruch seiner loyalen Haltung zur Opposition. Als seine Arbeit zunehmend offizielle Kritik erfuhr, emigrierte er 1791 nach Straßburg und trat der dortigen Kon stitutionsgesellschaft bei. 1792 kam er im Stab des französischen Generals Custine nach Mainz, wo er die Revolutionsbewegung durch populäre Aufklärungsschriften und Mitarbeit im Jakobinerklub (Vizepräs./Präs. im Febr./ März 1793) förderte. Siehe: Axel Kuhn, Helmut Reinalter, Alain Ruiz, Bio graphisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd.1, Frankfurt/M. 1992, S. 24-25.], der für die Gründung des neuen Klubs voraussetzen wollte, dass die neuen Mitglieder keine öffentlichen Ämter bekleideten [Ebd., S. 211.], wollte der Kommissar Simon, dass dieser neue Klub wie in Paris der Vorbereitung der parlamentarischen Debatte im Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent diente. Dieser Konvent sollte am 17. März 1793 seine Arbeit aufnehmen. Als der neue Klub, die sog. "Société des Allemands libres", in den letzten Märzwochen des Jahres 1793 vermutlich diese Funktion ausübte, wurde ihren Aktivitäten fast gleichzeitig mit der Belagerung der Stadt durch die preußischen Truppen ein Ende gesetzt. So spielte die militärische Entwicklung eine entscheidende Rolle, sie verhinderte plötzlich und heftig die Entfaltung von politischen Aktivitäten in Mainz.

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Es wäre unzutreffend, vor diesem Hintergrund von einem Ausbleiben jeglicher Radikalisierung auszugehen. Dennoch muss sie relativiert werden. Zwar zeichnete sich in Mainz im Laufe der französischen Besatzung eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die Revolutionsgegner ab und somit eine Radikalisierung des politischen Kurses, die letztendlich zu Sondermaßnahmen führte. Diese Entwicklung muss aber zum größten Teil als eine Folge des besonderen Status von Mainz interpretiert werden, das als besetztes Gebiet unter das Dekret vom 15. Dezember 1792 fiel. Diesem Dekret zufolge war die systematische Abschaffung der Privilegien für Adel und Klerus in den besetzten Gebieten vorgesehen, was der Volksrepräsentant Cambon in Paris mit Eifer unterstützt hatte. Die Umsetzung zweier Dekrete in den letzten Tagen des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents, die u.a. die Deportation der Oppositionellen über den Rhein und die rücksichtslose Beschlagnahmung der Güter der Emigranten verordnete, kann nicht allein auf die Eigeninitiative der lokalen politischen Akteure zurückgeführt werden, sie ist vor allem eine Folge des Dekrets vom 15. Dezember 1792 [Dieses Dekret proklamierte die Souveränität der von den Franzosen befreiten Gebiete. Siehe Anm. 16.]. Sie hat weniger mit einer Eigendynamik des lokalen politischen Kurses zu tun als mit einer Nachahmung der schon länger in Frankreich ausgeübten Politik gegen die Gegner der Revolution. Dort gehörte die Deportation sehr früh zu den im "code pénal" aufgeführten Strafen. [Siehe: Code pénal des 25. September und 6. Oktober 1791.] Am Anfang betraf sie nur die königliche Familie, danach wurde sie durch mehrere legislative Akte ausgeweitet. Auch die Beschlagnahmung der Güter der Emigranten wurde vorher in Frankreich beschlossen. [Vor dem 10. März 1793 war die Beschlagnahmung der Güter der Emigranten schon in Gang. Am 28. März 1793 wurde sie durch ein Dekret reglementiert, das sieben Kategorien von Emigranten definierte. Siehe: Archives parlementaires, Bd. 60, 1 ère série, Paris, 1901, S. 643-653.]

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Auch wenn die lokalen Akteure offenbar eine aktive Rolle in der Ergreifung radikaler Sondermaßnahmen gegen ihre Gegner spielten – die mangelnde Wahlbeteiligung zum Rheinisch-Deutschen Konvent und die Proteste der einheimischen Bevölkerung gegen die neuen Einrichtungen mögen sie dazu bewogen haben – , sollte man nicht die Rolle der französischen Kommissare aus dem Blick verlieren, die die Deportationen unmittelbar förderten. Bis zum Scheitern der Mainzer Republik blieb der Spielraum der Mainzer Akteure beschränkt, da sie sich nicht auf eine lokale revolutionäre Bewegung stützen konnten. Wie dem auch sei, in der ersten Monaten der Besatzung wagten es einige, sich gegen die Besatzungsmacht zu behaupten und vorübergehend Eigeninitiative zu ergreifen. Sehr schnell wurde Custine vorgeworfen, sich von der revolutionären Propaganda abgewendet zu haben und sich nur auf die militärischen Ziele zu konzentrieren. Seine militärische Führung und Unbeweglichkeit wurde nach der Wiedereroberung von Frankfurt zunehmend kritisiert. Nachdem die Kommissare der Armee das Vermögen des Kurfürsten beschlagnahmt hatten, drängten einige Mainzer zur schnellen Annahme der französischen Konstitution und riefen die Bevölkerung zur Wahl. Dadurch hofften sie, der Bevormundung durch die Besatzungsmacht sobald wie möglich zu entgehen, die Souveränität der besetzten Gebiete zu proklamieren und das Vermögen des Kurfürsten zurückzugewinnen. [Ebd., S. 128.] Die Bevormundung und die Unbeweglichkeit von Custine, der mit der alten Elite der Stadt verhandelte, schürten die Unzufriedenheit der lokalen Akteure und sorgten vorübergehend für die Verschärfung ihrer Positionen. Im Januar 1793 wehrte sich Georg Forster [Johann Georg Adam Forster (geb. 1754 Nasenbuben b. Danzig, 1794 Paris): 1772/75 Teilnahme mit dem Vater an J. Cooks zweiter Südseereise; F. schrieb die Reisebeschreibung, die ihn berühmt machte; 1777 Reise nach Paris; 1778/84 erstmals in Deutschland, zunächst in Düsseldorf, dann Kassel, wo er eine Stellung als Prof. für Naturwissenschaften am Collegium Carolinum erhielt; Eintritt in die Freimaurerloge; 1784/87 Universitätsprof. in Wilna/Polen; 1788 nahm er die Stelle eines Universitätsbibliothekars in Mainz an; 1790 Reise mit A.v. Humboldt durch Westeuropa; er wurde ab Okt. 1792 der bedeutendste Politiker der Mainzer Republik, als Mitglied und zeitweise Präsident des Jakobinerklubs, als Vizepräsident der von den Franzosen eingesetzten provisorischen Administration, Wahlkommissar, sowie im März 1793 als Abg. und Vizepräsident des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents; als Leiter einer Deputation reiste F. nach Paris, um das Anschlussgesuch zu überbringen. Nach Beendigung der Mission wurde ihm die Rückkehr durch die Belagerung und schließlich Rückeroberung von Mainz durch preußische Truppen unmöglich gemacht. F. blieb in Paris, übernahm diplomatische Aufträge. Anfang Dez. 1793 erkrankte F. an dem Scharbock und starb vereinsamt nach einer Lungenentzündung in Paris. Siehe: Axel Kuhn, Helmut Reinalter, Alain Ruiz, Biographisches Lexikon zur Geschichte der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa, Bd. 1, Frankfurt/M. 1992, S. 37-39.] – zu dieser Zeit Präsident des Mainzer Jakobinerklubs

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– in einem Rechenschaftsbericht entschieden gegen das herabwürdigende Ansinnen Custines, die provisorisch errichtete Mainzer Behörde der Allgemeinen Administration als bloßen Vollstrecker militärischer Befehle missbrauchen zu wollen. [H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 3, S. 159-160.] Aus derselben Unzufriedenheit gegen Custine erklärt sich das Verhalten des Klubisten Andreas Joseph Hofmann [Andreas Joseph Hofmann (geb. 1752 Maria-Zell, gest. 1849 Winkel): Studium der Philosophie in Mainz und Würzburg; 1778 Privatdozent für Philosophie in Wien; Hofrat beim Fürsten Hohenzollern-Hechingen; 1784 Prof. für Philosophie, seit 1791 auch für Naturrecht in Mainz; Mitglied der Mainzer Lesegesellschaft, wo er scharfe Kritik an Adel und Klerus übte; 1791/92 verschiedene Ermahnungen durch die Regierung; 1792 Mgl. des Mainzer Klubs, dort zahlreiche Anträge, Reden und Flugschriften, zugleich französischer Armeekommissar im Rheingau; im Febr./März französischer "Subkommissar" bei den Wahlen auf dem Land, Abg. des Mainzer Konvents und dessen Präsident; dann Präsident der 2. "Allgemeinen Administration"; am 24.7. Flucht nach Frankreich; Exil in Paris. Siehe: Ebd., S. 56-57.] während der viel diskutierten Sitzungen vom 10. und 11. Januar 1793 im Klub, in denen er für heftige Polemik sorgte und prominente Mitglieder angriff. In diesen Sitzungen prangerte er die Räubereien der Kriegskommissare und die folgsame Zusammenarbeit einiger Mainzer mit den Franzosen an, u.a. des führenden Klu-

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bisten Joseph Anton Dorsch [H. Scheel, Die Mainzer Republik, S. 160; Anton Joseph Dorsch (1758 Heppenheim - 1819 Paris): 1774/81 Studium der Philosophie und Theologie; 1781 Priesterweihe, dann Kaplan in Finthen; 1784 Mitglied der Mainzer Illuminaten, dann Prof. der Philosophie in Mainz; seit 1790 geriet er als Kantianer mit dem Vikariat in Konflikt und emigrierte nach Straßburg, wo er Mitglied des dortigen Jakobinerklubs und konstitutioneller Priester wurde. Im Okt. 1792 wurde er als Kommissar des Straßburger Klubs nach Mainz entsandt; Mitglied des Mainzer Klubs; zahlreiche Reden und Flugschriften; Präsident der 1. "Allg. Administration"; Subkommissar in Speyer; im Juli 1793 Flucht nach Paris. Siehe: Ebd., S. 28-29.].
So erscheint die Radikalisierung einiger Mainzer Anhänger der Revolution nicht als das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der revolutionären Praxis, sie ist vielmehr auf einen Konflikt mit den französischen Machthabern und auf die besondere Situation eines unter dem Dekret vom 15. Dezember 1792 unterworfenen Gebiets zurückzuführen. Unter diesem Blickwinkel ist es problematisch, von der Existenz einer jakobinischen Kultur in Mainz und im Heiligen Römischen Reich auszugehen. Wenn die Mainzer Radikalisierung nicht vergleichbar mit der französischen ist, die in den sich überschlagenden Ereignissen der Revolution entstand und in einen konsequenten Demokratismus mündete, inwieweit unterscheiden sich die politischen Ansichten der Mainzer Revolutionsanhänger von denjenigen der Revolutionäre in Frankreich? Wie eigneten sie sich die revolutionären Prinzipien an?

Wie oben schon angedeutet, beschränkte sich in Mainz die Beziehung der entschiedensten Revolutionsanhänger zu den unteren Volksschichten auf Aufklärungsarbeit. Sie bemühten sich, die revolutionären Prinzipien bekanntzumachen, und entwickelten in ihren Flugschriften eine liberale Interpretation der Menschenrechte. Am Anfang ihrer politischen Überzeugung stehen freiheitliche Gedanken. Sie sind Bestandteil einer Weltanschauung, in der die menschlichen Talente und Fähigkeiten eine entscheidende Funktion haben. Ihre freiheitliche Entfaltung verspricht nicht nur ständigen Fortschritt, sie soll die Gesellschaft gar zum Wohlstand führen. So weisen eine Vielzahl von

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Mainzer Klubisten wie die Physiokraten auf den schöpferischen Pluralismus der menschlichen Talente hin und somit auf die großartige Bereicherung, die die Vernichtung der Privilegien sowie die Abschaffung des Zunftsystems und der Zollschranken zur Folge haben sollen. Ihnen zufolge wird die französische Besatzung zu einer regen ökonomischen Dynamik ihrer Region führen, die es vorher nie geben konnte, in einer Gesellschaft, in der die menschlichen Fähigkeiten nicht gefördert wurden. Um diese Dynamik aufrechtzuerhalten, darf jedoch dem fruchtbaren Wetteifer der menschlichen Talente kein Einhalt geboten werden. Vor diesem Hintergrund wird die Gleichheit stets als ein vom Freiheitsprinzip abgeleitetes Prinzip verstanden. Weit davon entfernt, die Perspektive eines materiellen Ausgleichs zu verbergen, definiert sie den Rahmen, in dem die Menschen ihre Freiheit genießen können und sich am besten gemäß ihrer natürlichen Begabungen entwickeln können. Sie wird lediglich als eine Gleichheit der individuellen Autonomie verstanden. Praktisch wird sie oft als eine Gleichheit aller Bürger vor der einheitlichen Gesetzgebung verstanden. Aus dieser Perspektive heraus verurteilt z.B. Mathias Metternich [Mathias Metternich (geb. 1747 Steinefrenz im Westerwald, gest. 1825 Mainz): Besuch des Jesuitengymnasiums in Hadamar; 1776 Lehrer an der Pfarrschule St. Emmeran; seit 1780 an der Normalschule Mainz; 1786 Prof. der Mathematik und Physik in Mainz; Mitglied des Illuminatenordens, Mitglied der Mainzer Lesegesellschaft. 1792/93 führender Mainzer Jakobiner, Gründungsmitglied des Klubs, dessen Präsident Febr. bis Apr. 1793, Verf. zahlreicher Flugschriften, Redakteur der Zeitung "Der Bürgerfreund"; Mitglied der Mainzer Munizipalität, Subkommissar bei den Wahlen, Mitglied des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents; Mitglied der 2. Administration; bei der Wiedereroberung von Mainz durch preußischen Truppen verhaftet und misshandelt; Haft in Ehrenbreitstein und Erfurt; 1795 nach Frankreich abgeschoben. Siehe: Ebd., S. 77-78.]
– ein führendes Mitglied des Mainzer Jakobinerklubs – ausdrücklich die Perspektive eines materiellen Ausgleichs der Individuen, da er den Wert des Verdiensts sowie des Fleißes zugrunde richten würde und somit die menschlichen Fortschritte auf dem Weg zum Wohlstand und zur

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sozialen Glückseligkeit behindern würde. In seiner prorevolutionären Zeitschrift "Der Bürgerfreund" veröffentlicht er einen fiktiven Dialog, um dem einfachen Volk sein Gleichheitsprinzip zu erläutern. So antwortet er auf den Protest eines verarmten Gesprächspartners, der sich über den angehäuften Reichtum seines Nachbarn aufregt:

    "Wenn man arbeitsam und sparsam ist, so besitzt man zwo Hauptbürgertugenden, und diese Tugenden machen gewöhnlich reich; und wenn man nun das Gut und Geld, welches die Tugend erwarb, wieder wegnehmen wollte, ja da wäre die Tugend beleidigt, und also ein Laster. Es hätte auch die Folge, dass kein Mensch mehr arbeiten und sparen würde; das wäre dann eine abscheuliche Gesellschaft auf der Welt, wo man hungern oder stehlen müßte." [Die Schriften der Mainzer Jakobiner und ihrer Gegner (1792-1802), hrsg. von der Stadtbibliothek, München u.a., Saur [Mikrofilm]: Der Bürgerfreund, S. 60.]

Für Metternich soll also der Wohlstand eines Individuums im Verhältnis zu seiner Arbeitsleistung stehen. Nach diesem Verständnis scheint die potentielle materielle Ungleichheit keine Grenze zu haben. Sie ist zulässig, so lange sie die Freiheit der Individuen nicht gefährdet. Sie darf allerdings nicht Ausmaße annehmen, die die Autonomie der Bürger gefährden. So schreibt z.B. der Klubist Georg Wedekind [Georg Christian Gottlieb Wedekind (geb. 1761, gest. 1831 Darmstadt): Medizinstudium in Göttingen und Erlangen; 1787 Prof. für Medizin in Mainz, Freimaurer, Leibarzt des Kurfürsten. Durch Streit mit Kollegen fiel er in Ungnade. Im Okt. 1792 informierte er Custine über die mangelhafte Besatzung von Mainz. Mitbegründer des dortigen Klubs; dessen Präsident im Nov./Dez. 1792, Initiator des ersten Freiheitsbaums in Mainz; im Febr./März 1793 französischer Subkommissar, Abg. des Mainzer Konvents. Im März 1793 Flucht aus Mainz, dann Arzt in Armeespitälern in Straßburg und Landau; 1796 Redakteur der "Rheinischen Zeitung" in Straßburg; 1798 Rückkehr nach Mainz. Siehe: Biographisches Lexikon, ebd., S. 128-129.] in einer Rede vom 26. Februar 1793:

    "Manche leiden an dem Wahne, als brächte die Gleichheit auch eine gleiche Austeilung der Güter mit sich, da sie sich doch nur auf die Personen erstreckt. Es muss einmal Arme und Reiche geben, wenn

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    der Fleiß seine Belohnung finden, wenn wir nicht alle in Trägheit versinken sollen. Die Gerechtigkeit muss der Gleichheit zur Seite stehen. Jene will, dass alles, was mir mein Fleiß auf eine niemanden kränkende Weise erwirbt, mein Eigentum sei; sie will, dass ich davon keinen Gebrauch machen und es meinen Kindern hinterlassen kann; diese Gleichheit aber, macht es mir zur Pflicht, dass ich mich wegen meines Reichtums nicht über andere erhoben dünke und mir ein größeres Maß von Freiheit zueigne." [Georg Wedekind, Die Rechte des Menschen und Bürgers in: H. Scheel, Die Mainzer Republik, Protokolle des Jakobinerklubs, Bd. 1, Akademie-Verlag, Berlin 1975, S. 738. Wedekind brachte die Vorlage seiner Rede auch als selbständige Flugschrift heraus.]

Aus dieser Sichtweise ist "Gleichheit" als "Gleichheit an Autonomie" zu begreifen. Eine Voraussetzung hierfür sehen die Klubisten darin, dass Individuen den gleichberechtigten Anspruch des anderen auf Autonomie respektieren. In diesem Sinne stützen sich die Mainzer Klubisten auf einen Moralismus kantischer Herkunft: Für Metternich "besteht die Freiheit darin, dass jeder alles thun darf, was keinem andern schadet" [Die Schriften der Mainzer Jakobiner und ihrer Gegner (1792-1802), hrsg. von der Stadtbibliothek, München u.a., Saur [Mikrofilm]: Der Bürgerfreund, S. 37.].
Bei Georg Forster erhält die Freiheit einen etwas strenger formulierten moralischen Inhalt. Er fordert nicht nur die Individuen auf, ihre Unabhängigkeit gegenseitig zu respektieren, sondern ruft sie auch auf, fleißige Zeitgenossen zu sein:

    "Ein jeder will also frei sein; aber die wenigsten bedenken, dass frei sein nicht heißt: faulenzen oder ohne Gesetz herumlaufen, oder dem Nachbarn ungestraft schaden tun, sondern es heißt: dem Gehorsam leisten, wie ein guter, frommer Mensch arbeiten, und mit seinem Fleiß Weib und Kind ernähren, andern Menschen Hilfe und Schutz geben. [...] Den Leuten alles das zu tun, was Ihr wollt, dass sie Euch tun sollen." [H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 3, S. 273.]

Selbst wenn sie (so definiert) eine moralische Pflicht impliziert, ist die Freiheit auch bei Forster nicht von einer Solidarität abhängig, die die Interessen der Individuen denen der Gemein-

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schaft unterordnet. Sie beruht weiterhin auf dem individualistischen Postulat der Aufklärung und besteht in der Fähigkeit jedes einzelnen Bürgers, die Wahrheit des moralischen Prinzips zu erkennen. So bleibt den Mainzer Klubisten eine einheitliche Konzeption der Gesellschaft und der nationalen Souveränität weitgehend fremd, die sehr früh in Frankreich eine zentrale Bedeutung erlangte. In den parlamentarischen Debatten um die Erklärung der Menschenrechte bestimmte diese Konzeption sogar ein anthropomorphes Bild der Nation:

    "Die Nation, so schreibt der Abbe Sieyès [Emmanuel Joseph Sieyès, bekannt als Abbé Sieyès, spielte eine große Rolle während der Revolution. 1789 veranlasste er die Umwandlung der États généraux in die Assemblée nationale (Nationalversammlung). Seine zwei Essays "Essai sur les privilèges" und "Qu’est-ce que le Tiers État?" machten ihn berühmt.] an einer Stelle, [entspricht] genau dem Einzelnen im Naturzustand […], der ohne Schwierigkeit alles für sich selbst ist. Der einzelne wie die Nation brauchen zu ihrer Leitung eine Regierung: beim einzelnen hat die Natur dafür gesorgt, sie hat ihm einen Willen gegeben, um zu überlegen und sich zu entscheiden, Arme, um zu handeln, und schließlich Muskeln, um die ausführende Gewalt zu unterstützen. Eine Nation dagegen, die ja nur ein künstlich geschaffenen Körper ist, erhält gemeinschaftlichen Willen, Handlungsfähigkeit und Kraft erst durch ihre Glieder. Aber das Resultat der Errichtung entspricht trotzdem genau dem Ergebnis, das aus der Natur hervorgeht. Durch ihr künstliches Hirn, ihre künstlichen Arme und Muskeln ist die Nation ganz genauso ‘alles für sich selbst’." [Marcel Gauchel, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, [Aus dem Frz.] Rowohlt, Reinbek 1991, S. 99.]

Wie Marcel Gauchet erkannte, hatte "die Metapher Erfolg. Sie erfuhr eine besonders erstaunliche Erweiterung in der Rede von Rabaut Saint-Etienne am 4. September 1789 über das königliche Veto [Nachdem die Constituante mit der Erklärung der Menschenrechte fertig geworden war, widmete sie sich der Schaffung einer neuen Verfassung. Am Anfang der Diskussion erhielt die Debatte um das königliche Veto eine zen trale Bedeutung, denn sie stellte unmittelbar die Frage nach der Natur und Zugehörigkeit der Souveränität. Da der neu zu wählenden Assemblée die ganze Souveränität gehören sollte, wollten die Abgeordneten dem König nur ein "aufschiebendes Veto" (veto suspensif, gemeint ist ein Veto, mit dem sich der König nur während zweier Legislaturperioden einem Gesetz widersetzen konnte) zubilligen.].
In dieser Rede wurde sie als Argument gegen die

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Aufteilung der gesetzgebenden Gewalt in zwei Kammern verwendet." [Ebd.]

Mit einem solchen Bild der Nation konnten die Revolutionäre in Frankreich vor der königlichen Autorität als vereint erscheinen und somit die Legitimität der Monarchie besser in Frage stellen. Mit der Flucht des Kurfürsten war in Mainz die Gefahr eines Konflikts mit der Autorität frühzeitig gebannt worden. Vor allem aber besaßen die Mainzer Klubisten ein tiefes Vertrauen in die harmonische Wirkung der menschlichen Talente und individuellen Interessen, so dass bei ihnen die Idee einer einheitlichen Nation oder Souveränität keine Rolle spielte. In den Debatten des Mainzer Jakobinerklubs wird die Legitimität des Gesellschaftsvertrages nicht mit dem Willen einer vereinten Nation begründet, sondern vielmehr mit der Fähigkeit jedes einzelnen Bürgers, die Richtigkeit der Vertragsgrundlagen zu erkennen. Die Idee der Souveränität wird nicht durch eine vereinte Nation verkörpert, sie bleibt ein abstrakter Bestandteil des politischen Denkens der Klubisten, der von der Vernunft allgemein erkannt werden kann. Hier liegt der entscheidende Unterschied der Mainzer Debatten zu der Entwicklung des revolutionären Denkens in Frankreich, das – wie Furet zugespitzt formuliert – "keinen Ausweg kennt, der auf die letztliche Harmonie der Interessen und die Gemeinnützlichkeit bestimmter Konflikte hinausläuft. Selbst wo er sich der Ökonomie zuwendet, etwa einer liberalen ökonomischen Theorie, wie im Falle der Physiokraten, muss es den Gesellschaftsbereich in einem einheitlichen Bild verkörpern, nämlich in der rationalen Autorität des legalen Despotismus." [François Furet, 1789. Jenseits des Mythos, Junius, Hamburg 1989, S. 42.] Im Gegensatz dazu entwickelten Mainzer Klubisten

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Positionen, die ihr Vertrauen in die spontane Vereinbarkeit der individuellen Interessen und Begabungen widerspiegeln. Weit davon entfernt, das gesellschaftliche Gleichgewicht und den Wohlstand zu gefährden, kann in ihren Augen das Zusammenwirken von individuellen Interessen den Wohlstand sogar befördern. Letztlich ist für den Klubisten Mathias Metternich die menschliche Ungleichheit an Talenten und Begabungen nicht willkürlich, sondern ein notwendiger Bestandteil der göttlichen Schöpfung. Dadurch wird ein Fortschrittsprozess eingeleitet, der seine Dynamik gerade aus der Verschiedenheit der individuellen Begabungen erhält:

    "Es ist nun in der ganzen Schöpfung Gottes so, dass Verschiedenheit bey lebenden und leblosen Geschöpfe herrscht und wenn man darüber denkt, so entdeckt man in eben dieser Verschiedenheit große Weisheit und Vollkommenheit. Nun wie würde das doch so toll und verderblich von Menschen behandelt seyn, wenn sie diese Verschiedenheit zu einer Gleichfömigkeit, oder (wenn du willst) zur Gleichheit machen wollten. Diese Verschiedenheit herrscht […] unter der gesamten Volksmenge eines Staates. Diese Volksmenge oder die Nation muß, wenn sie selbst ein kluger Haushälter seyn will, die verschiedenen Talente zu dem brauchen, wozu sie da sind. Der eine hat Anlage vermittels Stimmen, Geduld und Kopfhaltigkeit zu einem Volkslehrer; aber ihm fehlt der Muth zum Krieger." [Die Schriften der Mainzer Jakobiner und ihrer Gegner (1792-1802), hrsg. von der Stadtbibliothek, München u.a, Saur [Mikrofilm]: Der Bürgerfreund, S. 60.]

Der Glauben an die weise Bestimmung der menschlichen Verschiedenheit fällt mit einer christlichen Interpretation der Menschenrechte zusammen, die grundlegend anders ist als das französische Verständnis. Viele Erklärungen über die Menschenrechte, welche im Klub vorgetragen und als Flugschrift von den Mainzer Klubisten veröffentlicht wurden, weisen auf die christliche Weltanschauung ihrer Autoren hin, die in ihrer Argumentation der göttlichen Vorschrift des Evangeliums einen höheren Stellenwert zuweisen. Dabei wollen sie nicht nur die Übereinstimmung des Naturrechts mit der christlichen Religion

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aufzeigen, sondern den Inhalt der Menschenrechte durch die Heilige Schrift definieren. In seiner Flugschrift "Die Rechte des Menschen und Bürgers" verknüpft z.B. Wedekind die bereits oben erläuterte Definition der Freiheit unmittelbar mit der Lehre des Christentums:

    "Die Freiheit besteht darin, tun zu können, was niemand anders schadet. Dieses Recht der Freiheit erhält seine Anwendbarkeit durch den Grundsatz der Sittenlehre: jede deiner Handlungen müsse so beschaffen sein, dass sie als Gesetz für alle Vernünftigen Wesen angesehen werden kann. Eine Folgerung aus diesem Grundsatz der Moral ist die Christuslehre: was ihr nicht wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch nicht." [Georg Christian Gottlieb Wedekind, Die Rechte des Menschen und Bürgers, in: H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd 1, S. 748.]

Aus dieser Sicht heraus heben viele Klubisten die moralische Nützlichkeit der christlichen Religion hervor. Für den Geistlichen und Kaplan Münch aus Wöllstein, auch ein Mitglied des Jakobinerklubs, lehrt sie "nichts gegen das Naturrecht, sie ist vielmehr eine erweiterte, versinnlichte, erhöhte Naturreligion." [Dieses Zitat stammt aus seiner sogenannten Rede: "Der Staatsbürger kann und muss als Christ ein Patriot wie der Neufranke sein oder Übereinstimmung der neufränkischen Staatsverfassung mit der Christusreligion" in: H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1, S. 678.]
In diesem Zusammenhang unterstreicht er den positiven Einfluss der Religion auf die Gesellschaft, vorausgesetzt, dass sie zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückgeführt wird. Er fordert den Erhalt eines geistlichen Standes, gleichzeitig aber auch die Abschaffung der Privilegien des Klerus. Für Forster ist die christliche Religion eine "Ergänzung der Sittenlehre, worauf Menschenglück beruhe" [Anrede an die Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit in: Georg Forsters Werke, Bd. 10/1, S. 55.]. Auch Dorsch ist der Meinung, dass der Wohlstand von der Erfüllung des christlichen Gesetzes abhängt. [Über die Freiheit. Eine Predigt von Anton Joseph Dorsch, bei Joh. Treuttel, Straßburg 1795, S. 12.] Nach Ansicht des Klubisten Anton Fuchs [Anton Fuchs (1766 Mainz - 1812 Riga): 1792 Mitbegründer des Mainzer Klubs. Er hielt dort mehrere Reden, verfasste Flugschriften, redigierte den Kosmopolitischen Beobachter und vertrieb revolutionäre Flugschriften. Kommissar bei der Verfassungsumfrage vom Dez. 1792, Steuereinnehmer in der Grafschaft Falkenstein, wo er im Febr./März 1793 als französischer Subkommissar wirkte, Abg. und Sekretär des Mainzer Konvents und Mitglied der 2. "Allgemeinen Administration". Im Juli 1793 Flucht nach Paris. Siehe: Biographisches Lexikon, ebd., S. 40-41.] kann der

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gesellschaftliche Frieden nur erzielt werden, wenn die Menschen sich nach der Gottes- und Nächstenliebe richten:

    "Der unnachahmliche Lehrer des Christentums hat uns die Liebe Gottes und des Nächsten als das größte und vorzüglichste Gesetz hinterlassen, ohne welche kein Frieden hienieden staathaben kann. Der Friede, die Gemütsruhe für sich selbst und das trauliche Verständnis mit unserem Nebenmenschen ruhet ganz auf dieser Stütze." [Anton Fuchs, Etwas über die von Stumme aufgeworfene Frage, in: H. Scheel, Die Mainzer Republik, Bd. 1, S. 338.]

So erhält letztlich das Freiheitsprinzip einen moralischen Inhalt christlicher Natur. Eine christliche Interpretation der Menschenrechte können die Mainzer Klubisten dazu nutzen, die Ängste der Bevölkerung vor den revolutionären Prinzipien zu zerstreuen und der Unbeweglichkeit der Mainzer Unterschichten ein Ende zu setzen. Sie entspricht aber vor allem ihrer tiefen Überzeugung und Weltanschauung, die sich auch in ihrer Interpretation der Revolution widerspiegelt.

Während die Mainzer Klubisten darum bemüht sind, die zentrale Rolle der Religion neu zu definieren, ist die Diskussion in Frankreich um ihre Rolle von vornherein kontrovers. Sie erhält in den Debatten um die Erklärung der Menschenrechte im Sommer 1789 einen ganz anderen Stellenwert. Als die Präambel der Erklärung der Menschenrechte das Prinzip einer Anrufung an das oberste Wesen erwähnte, sorgte es für einen Disput innerhalb des 6. Büros der konstituierenden Versammlung, das mit der Redaktion der Erklärung beauftragt worden war. Im Gegensatz zu den Anhängern einer solchen Anrufung wollten sich einige ausschließlich auf die Natur als höchste Autorität berufen.

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In seiner Wortmeldung vom 20. August 1789 unterstreicht der Abgeordnete Laborde die natürliche Herkunft der Menschenrechte und vertritt eine Position, die vom Abbé Sieyès [Siehe: Anm. 34.] am konsequentesten verteidigt wurde. Dieser beurteilte die Anrufung an Gott als "unnütz, sogar als kindisch", da "der Mensch allein wegen seiner Kondition als Mensch seine Rechte besitzt" und weil "sie die Folge und die Übereinstimmung seiner moralischen und physischen Fähigkeiten sind." [Übersetzt aus dem Französischen. Originalzitat in: Marcel Gauchet, La Révolution des droits de l’homme, nrf gallimard, Paris, 1989, S. 138. Siehe: Le Hoday, rédacteur du journal des États généraux, Bd. 1, S. 175.] Dieses Verständnis der Menschenrechte wird von einer säkularen Vision geleitet, die das Selbstverständnis der Revolutionäre in Frankreich als Akteure des Zeitgeschehens mitprägte und in keiner Form bei den Debatten des Mainzer Jakobinerklubs in Erscheinung getreten ist. Dadurch unterscheiden sich die politischen Ansichten der Mainzer Klubisten grundsätzlich von denjenigen der Revolutionäre in Frankreich. Ihre christliche Weltanschauung bestimmt eine freiheitliche Interpretation der Menschenrechte, die mit einem radikalen Demokratismus unversöhnlich erscheint. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen erklären, dass die Mainzer Klubisten trotz der Erfahrung des Terrors die Sache der Revolution weiter verteidigten? Warum hielten sie an ihrem revolutionären Engagement fest? Bedeutet es, dass sie im Zeichen der Radikalisierung der Revolution zu Anhängern der Wohlfahrtsdiktatur wurden? Löste das revolutionäre Paris eine Radikalisierung ihrer politischen Ansichten aus, nachdem sie im wenig umstürzlerischen Mainzer Umfeld vergeblich versucht hatten, der Revolution den Weg zu ebnen? Nach der Zurückeroberung von Mainz gelang es vielen Klubisten, ins Exil nach Frankreich zu entkommen. Darunter war eine nicht unbeträchtliche Anzahl, die sich nach Paris begab, dort mit der revolutionären Realität unmittelbar konfrontiert wurde und die Möglichkeit erhielt, sich an

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der großen Revolution zu beteiligen. Ließ diese Erfahrung sie zu Jakobinern werden?

Diese Fragestellung verdient es – allein wegen der bescheidenen Überlieferung von schriftlichen Zeugnissen, die die Wahrnehmung der revolutionären Realität reflektieren –, auf die Gruppe der Deutschen erweitert zu werden, die sich ebenfalls aus politischen Gründen in Paris aufhielten und als "deutsche Jakobiner" bezeichnet wurden. Viele davon waren bereits zu Beginn der Revolution nach Paris gegangen – wie der Schlesier Konrad Engelbert Oelsner – , um dort als freier Mensch zu leben und sich über die revolutionären Ereignisse eine fundierte Meinung zu bilden, oder – wie im Fall des jungen Württembergers Georg Kerner oder des Franken Georg Friedrich Rebmann – um der Verfolgung durch die Gegenrevolutionäre in ihrer Heimat zu entkommen. Genau wie die Mainzer Klubisten wurden sie von ihren Gegnern als "Jakobiner" eingestuft, da sie im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Aufklärungselite auch nach der Radikalisierung der Revolution an ihrem Engagement festhielten. Nun möchte ich zeigen, dass die scheinbare Kontinuität ihres Engagements keineswegs mit einer notwendigen Zustimmung zum gesamten Revolutionsverlauf – insbesondere zur Phase des Terrors – bzw. mit einer aktiven Rezeption der jakobinischen Kultur gleichzusetzen ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2002

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