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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[30.]
Schleichers Chance. Tatsachen und Möglichkeiten


EV Nr. 293 v. 14.12.1932

Dem neuen Reichskanzler von Schleicher werden die Vorschußlorbeeren gleich in Fudern ins Haus geführt. Nach dem leichtfertigen und dilettantischen Herrn von Papen, der so recht ein lebendes Beispiel für das satirische Wort bildet, daß „man in Deutschland eher lernt, die Nase zu rümpfen, als sie zu putzen", wird der General von Schleicher von vielen Leuten als ein Fortschritt und eine Entspannung angesehen. Papen, das war der sofortige Verfassungsbruch und der Staatsstreich von oben, die zum blutigen Bürgerkrieg führen mußten. Und Schleicher?

Schleicher ist im Prinzip nicht etwa das Gegenteil davon. Die größere politische Bedeutung des Generals gegenüber dem pleite gegangenen Generalstabsmajor liegt darin, daß er nicht von vornherein provoziert, sondern zu besänftigen und zu überzeugen versucht. Er hat erkannt, daß man es mit der dünnen Oberschicht, die sich nach der vollen Restauration sehnt, auf die Dauer nicht schaffen kann. Er hat rechtzeitig gemerkt, daß das Experiment der Papen, Gayl und ihre Pläne des Verfassungsbruchs scheitern mußten, daß das schroffe und aufgeblasene Wilhelminertum viel zu schwach war, um sich gegen das Volk durchzusetzen. Er hat gesehen, daß es sich hier nur um ein Intermezzo handeln kann. Wie alle „Bonapartisten" weiß er, daß zu dieser Art des Staatsstreichs nicht nur eine Armee, sondern auch Massen gehören.

Darum bemüht sich Schleicher, mag er nun bewußt oder unbewußt solche bonapartistischen Methoden haben, darum, Volksmassen für sich und seine politische Linie zu gewinnen. Darum brüllt und schnauzt er nicht, sondern wirbt und überredet. In richtiger Erkenntnis der Kräfteverhältnisse lehnt er das - wie er es selbst so schön ausdrückt - „Verfassungsgequatsche" der Papen und Gayl ab und erklärt, daß „das Volk etwas zu fressen haben" muß.

Die schöne Parole der Arbeitsbeschaffung und der sozialen Besserung ist also da. Aber solch ein Wort muß bald eingelöst werden. Gegenüber der Widrigkeit der Zufälle und der Schwere der Wirtschaftskrise gibt es nur ein Schutzmittel: rechtzeitig Anschluß an die Massen zu finden. Hier liegt auch das Geheimnis der Tatsache, daß Schleicher die Verbindung mit Hitler niemals abreißen ließ. Er ist dabei in einer besseren Position als seine Vorgänger. Er weiß sehr gut, daß der Nationalsozialismus nicht auf die Dauer in der Opposition zur Armee stehen kann. Er kennt die Zusammenhänge zwischen der Reichswehr und dem Offizierskorps der SA. Er braucht, nicht nur aus parlamentarischen Gründen, den Zusammenschluß eines erheblichen Teils des Volk. Wenn Schleicher zu den Massen will, dann will er es in erster Linie zu den braunen Massen des deutschen Volkes. Wenn er die Verfassung unangetastet läßt, dann ist das nur ein vorläufiger Entschluß, erwachsen aus der Erkenntnis, daß er heute noch nicht stark genug ist, sie zu brechen. Aber im tiefsten Grunde ist dieser Opportunist, trotz aller modernistischen Regungen, ein Mann des Autoritätsstaates, ein Antidemokrat, ein Monarchist, ein Gefangener seiner Herkunft und seiner Kaste. Nur scheint es ihm nicht opportun, seine Ziele heute schon zu verkünden. Er findet Gläubige für seine Retterrolle, weil in dieser schnellebigen Zeit viele Leute die politischen Taten Schleichers vergessen haben, die damit begannen, daß er die Reichswehr aus der Beeinflussung des demokratischen Staatswillens herausziehen half und die darin gipfelte, daß er am 20. Juni die Machtmittel zur Verfügung stellte, mit denen die Arbeiterklasse auch formal aus dem Staat herausgedrängt wurde.

Es geht geradezu eine Schleicherpsychose durch die deutsche Presse. Seine journalistische Leibwache in der „Täglichen Rundschau" spricht sogar von dem „glänzenden Start des Kabinetts Schleicher" und meint, daß die Voraussetzungen für seine Regierungstätigkeit so einzigartig günstig sind, daß alles mit einem großen glänzenden Erfolg enden müsse.

Demgegenüber gilt es, einmal die Tatsache festzustellen, daß es mit diesen glänzenden Voraussetzungen weder innen- noch außenpolitisch weit her ist. Im Innern ist das parlamentarische Schicksal des Schleicherkabinetts durchaus ungewiß. Wenn er sich gewaltsam gegen die Reichstagsmehrheit durchsetzen will, dann kommt er in die Gefahr vorzeitiger Demaskierung, und dann kann der Bürobonaparte der Bendlerstraße erleben, daß er die Massen noch nicht für sich gewonnen hat und 100.000 Bajonette ein sehr stark überschätzter Faktor in der deutschen Politik sind. Außenpolitisch aber kann er nur von solchen Erfolgen reden, die ihm die deutsche Presse zubilligt, das heißt, entscheidende Fortschritte kann und wird er nicht erringen. Er muß im Gegenteil auf dem Wege friedlichster Konzessionspolitik Anschluß an die Richtlinien suchen, wie sie Hermann Müller, Rathenau und Stresemann gewiesen haben. Die Rückkehr zu der Abrüstungskonferenz ist eine Abkehr von der großsprecherischen vorlauten Politik des Kabinetts Papen, dessen ungeschicktester Vertreter er selbst mit seinen Aufrüstungsproklamationen gewesen ist.

So bleibt ihm nur die Arbeitsbeschaffung. Es war immer ein Vorrecht der Generalstäbler, von der politischen Psychologie nichts zu verstehen und grob und materialistisch zu denken. Aber Herr von Schleicher müßte sich eigentlich doch der sehr beschränkten Erfolgsmöglichkeiten dieses Programms bewußt sein. Gewiß sprechen die Wahrscheinlichkeiten dafür, daß der Schrumpfungsprozeß der internationalen Produktion und des Warenaustausches seinen tiefsten Punkt erreicht hat. Aber eine lange Periode der Depression liegt nach dem allgemeinen Urteil noch vor uns. Gar zu gewalttätige Versuche, sie in eine Konjunktur umzuwandeln, bedeuten eine Gefährdung der Währung. Das Reich, die Länder und die Gemeinden, die Eisenbahnen, die Banken, der städtische Grundstücksmarkt beanspruchen alles verfügbare Geld. Wie in Deutschland, so ist es auch fast überall sonst in der Welt. Zu entscheidenden Schritten gegen den Großbesitz zum Beispiel, einer Zwangsanleihe zur Finanzierung der Arbeitsbeschaffung aber kann sich der neue Kanzler nicht entschließen.

Über diese Tatsache, daß der preußische Offizier von Schleicher nicht über seinen Schatten springen kann, hilft auch das ganze liebesdienerische Geschwätz vom „sozialen General" nicht hinweg. Selbstverständlich muß Schleicher jetzt in sozialpolitischer Hinsicht weitgehend nachgeben, wenn er nicht von vornherein den heute noch für seine Politik unerträglichen Krach mit dem Reichstag haben will. Aber was ist das schon für ein Entgegenkommen, wenn die Lohnabbauverordnung aufgehoben wird, nachdem heute selbst Unternehmer einen Lohnabbau nicht mehr für möglich halten? Was ist das für eine soziale Gesinnung, die großmütig eine Winterhilfe gewährt, die von allen Parteien gefordert wird? Die Zeiten, in denen der bessere Teil des preußischen Offizierskorps sich zu gut dünkte, um der bewaffnete Büttel parvenühafter Verdiener zu sein, sind längst vorbei.

Die Atmosphäre der Erschlaffung, der politischen Übersättigung und Resignation verschleiert den wahren Tatbestand. Der aber ist darin zu sehen, daß die heutige Reichswehr nicht bei den Massen, sondern beim Geldsack stehen muß, denn die Reichswehr lebt in den Ideengängen der Leute von Besitz und Bildung. Die Neutralitätsatmosphäre, die um sie gebreitet wird, ist agitatorischer Schwindel. Der Herkunft ihrer Führer, der Tradition der Truppe und der klassenbewußten Stellung nach ist diese deutsche Armee ganz außerhalb des republikanisch-sozialen Ideenkreises, geschweige denn der proletarischen Interessen.

Dramatische Zuspitzung der Klassenkämpfe auf entscheidende Situationen wird den Schleier zerreißen. Sie wird Schleicher, seine Ziele und seine Verbündeten als das enthüllen, was sie sind: ein besonders gefährliches Stück der deutschen Gegenrevolution. Was Schleicher heute loyal und biedermännisch verkündet, ist eine aus taktischen Gründen erfolgende Vernebelung des Kampffeldes. Der sofortige Vorstoß der Sozialdemokratie auf allen Gebieten, eingeleitet durch das Mißtrauensvotum im Reichstag, wird den Nebel zerreißen!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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