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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[22.]
Der Dolchstoß! Das Deutschland Wilhelms II. drängt vor


EV Nr. 127 v. 3.6.1932

Die Dolchstoßlegende bildet einen Teil der großen nationalsozialistischen Lüge, mit der sich die Reaktion seit vierzehn Jahren wieder an die Macht zu schleichen bemüht. Die Dolchstoßwahrheit aber ist die, daß die früher herrschenden Schichten schon im Weltkrieg sich politisch und moralisch als unzulänglich erwiesen haben. Sie haben den Krieg nicht zu verhindern, nicht militärisch zu siegen, ja, nicht einmal rechtzeitig Schluß zu machen verstanden. Der Eigennutz und der Klassendünkel haben im Krieg wahre Orgien gefeiert. Großagrariern und Schwerindustriellen war er bequemster und größter Profit.

Jedesmal, wenn es nicht weiter ging, haben sich „die Edelsten der Nation" seitwärts in die Büsche geschlagen und anderen überlassen, zu retten, was noch zu retten war. Die Sozialdemokraten haben das am Schluß des Ruhrkrieges ebenso erfahren, wie am Ende des Weltkrieges. Jetzt, wo der Krieg dank der immer stärker nationalistisch gefärbten Außenpolitik und dem rücksichtslosen Klassenegoismus des Großbesitzes zum drittenmal verloren geht, wird es zum erstenmal anders. Die Reaktion wittert ihre Chance, und die Beutemacher zeigen keine Klugheit. Jetzt begibt sich die deutsche Reaktion freiwillig in eine Lage, die ihr innerstes Wesen offenbaren muß.

Der Plan war fein gesponnen. Nach der Konferenz von Lausanne sollte die Regierung Brüning wegen ihrer „neuesten Niederlage", eben dieser Lausanner Konferenz, im Orkus verschwinden. Daß Lausanne schon aus rein sachlichen Gründen nicht den endgültigen Abschluß der Reparationsfrage bringen konnte, und daß die nationalistischen Treibereien, das kraftmeierische Geblödel der Nationalsozialisten und vor allem der Sturz Gröners durch seine eigenen Untergebenen die Situation noch weiter verschlechtert hatten, wußten die Drahtzieher wohl. Aber sie wollten sich in das gemachte Bett legen: ohne außenpolitische Verantwortung und mit dem Hinweis darauf, daß Brüning und die „Marxisten" die Situation eben verfahren hätten, gedachten sie in der inneren Politik ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Die Generäle glaubten ihren persönlichen Ehrgeiz befriedigen und ihre selbstverliehene Rolle der nationalen Sendung zur Erweckung der deutschen Wahrhaftigkeit spielen zu dürfen. Die große Industrie meinte eine radikale Unschichtung in der steuerlichen und sozialen Lastentragung vornehmen und das Prinzip der sozialen Versicherung verschwinden lassen zu können. Die norddeutschen Großgrundbesitzer aber meinten, ihr Bankrott lasse sich jetzt als Schicksalsfrage der deutschen Nation aufputzen. Die große Revolte der inflationshungrigen Schuldner, der Aufstand der Untüchtigen, die fremde Hilfe und Privilegien wollen, ist das tiefste Prinzip dieser Bewegung, die Frage: „Wie lebe ich am besten auf fremde Kosten?" ihr letztes Motiv.

Alle diese Wünsche sind jetzt mit aller Kraft lebendig. Aber die Voraussetzungen, unter denen sie verwirklicht werden sollten, sind doch nicht eingetreten. Brüning hat die Unhaltbarkeit dieser Position erkannt und - durch die Rechnung fuhr ein dicker Strich. Er ließ sich nicht dazu herbei, den andern erst die Kastanien aus dem Feuer von Lausanne zu holen, um sich dann fortjagen zu lassen. Als er vom Reichspräsidenten keine Zusicherungen über dessen Haltung zu ihm für die Zeit nach Lausanne erhalten konnte, ging Brüning. Und jetzt treten die Leute aus dem Dunkel auf einmal und etwas zu früh für ihren Geschmack ins Rampenlicht verantwortlicher internationaler Politik. Und wie stehen sie da! Wenn es nicht um das deutsche Schicksal ginge, man käme aus dem Lachen über diese Heroen einfach nicht mehr heraus. Dieses „Kabinett der Persönlichkeiten", die sich nur deswegen als Persönlichkeiten aufspielen dürfen, weil sie gesellschaftlich aus einer bestimmten Schicht stammen.

Die neue Regierung ist ohne Möglichkeit und ohne Fähigkeit, in Lausanne etwas zu erreichen. Ein erfolgreicher Reichskanzler von Papen ist in der internationalen Politik undenkbar. Daß dieser Mann überhaupt zum privisorischen Lenker deutscher Politik berufen werden konnte, zeigt die grauenhafte politische Unbegabung der deutschen Reaktion. Amerika und England lehnen ihn wegen seiner Spionage- und Sabotagetätigkeit in den Vereinigten Staaten während des Krieges ab. Dabei ist besonders peinlich, daß die angelsächsische Presse mit unnachahmlicher Ironie feststellt, daß nicht am schlimmsten diese Tätigkeit, sondern der Umstand sei, daß von Papen sich als schlechter Spion erwiesen und sich furchtbar töricht und ungeschickt bei diesem Geschäft angestellt habe. Das ist die Anerkennung der Persönlichkeit und ihrer Qualitäten gerade in den beiden Ländern, auf deren Hilfe der neue Außenminister von Neurath (auch ein Kapitel, über das noch vieles gesagt werden muß!) mit größter Bestimmtheit rechnet. Wenn demgegenüber von der Versöhnlichkeit von Papens gegenüber den Franzosen geredet wird, dann sei hier festgestellt, daß Deutschlands neuester Kanzler wohl verwandtschaftliche Bindungen mit der französischen Schwerindustrie hat, dem französischen Volk aber und seiner Linksregierung weltenfern steht. Seine ganze Franzosenpolitk besteht in der Propagierung der Militärallianz mit der Spitze gegen Osten. Darum ist man in Paris über den neuen Mann ebenso verstimmt wie in London und Washington. Sein Außenminister aber ist ein Mann, von dem die ganze Welt weiß, daß er von vornherein gegen den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund war. Jetzt fehlt nur noch, daß zum Führer der deutschen Delegation in Lausanne - Herr Dr. Schacht ernannt wird, der Unterhändler von Haag ruhmreichen Angedenkens anno 1929. Wir segeln mit vollem Wind in die Katastrophe.

Dieses Kabinett des antiquierten preußischen Adels - das gerade darum von der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei toleriert wird - mutet an wie ein Gespensterreigen aus den Tagen Wilhelms II. Zustandegekommen ist es ja auch nach den bewährten Methoden des Kaiserreichs. Die Clique der Unverantwortlichen, die seit Bismarcks Sturz in jeder Krise ihre Finger drin gehabt hatten, sind in dem Neudeck der Republik genau so am Werk gewesen wie einst im Mai im Nominten und Liebenberg des Kaiserreichs. Sie haben die früheren Katastrophen heraufbeschworen, wie sie es heute tun. Das Vaterland kümmert sie wenig, das zeigt ihr Dolchstoß zwei Wochen vor Lausanne. Das Volk aber kümmert sie noch weniger. Wie will man der Finanznot steuern, wie den Gemeinden helfen? Was wird mit der Wirtschaft, was mit dem Arbeitsmarkt, was mit der Währung? Aus dem Kauderwelsch der Nationalsozialisten wird man ebensowenig klug wie aus den pathetischen Beschwörungen der Deutschnationalen. Jede Äußerung widerspricht der anderen und nichts hat Hand und Fuß. Man weiß nicht recht, täuschen die Drahtzieher nur andere oder auch sich selbst, wenn sie dem Reichspräsidenten einreden, er dürfe nicht mehr mit Notverordnungen regieren, sondern müsse wieder parlamentarische Zustände herbeiführen. An der subjektiven Ehrlichkeit des Reichspräsidenten zweifeln wir durchaus nicht, aber die ganze Kampagne hat doch den Zweck, das parlamentarische System für immer wegzuschaffen. Das Ziel sind ja grundlegende Verfassungsänderungen im Sinne der Autokratie und der Klassenherrschaft. Der Außenminister von Neurath hat doch wohl für diese ganzen Kreise gesprochen, als er klug und bescheiden vor einiger Zeit erklärte: „Ich will nicht Minister werden, solange diese Quatschbude von Reichstag noch etwas zu sagen hat." - Daß man übrigens nicht im Traum daran denkt, das System der Notverordnungen zu verlassen, hat der Staatssekretär Meiner zugegeben. Wie ja überhaupt diese Zartheit gegenüber der Notverordnungspolitik erst mit reichlicher Verspätung sich bemerkbar macht und gerade in dem Augenblick, in dem die alte Regierung zum erstenmal den ostelbischen Großgrundbesitzern an das faule Leder will und die industriellen Klassenhoffnungen auf Vernichtung des sozialen Versicherungsprinzips enttäuscht. Jetzt beginnt erst der Terror gegen alles Soziale!

Hier muß Klarheit geschaffen werden. Die deutsche Zukunft darf nicht davon abhängen, ob General von Schleicher oder die Nazis oder beide zusammen den außen- und innenpolitischen Zusammenbruch herbeiführen. Die deutsche Arbeiterklasse ist zu stolz, um abzuwarten, welches Ziel der Macht- und Profithungrigen zum Schluß den Knochen zwischen den Zähnen behält. Die Not schreit nach Erlösung! Die kann nur kommen durch die Niederwerfung der anderen, die sich jetzt in ihrem wilden Drang zur Macht so unklug und voreilig demaskiert haben.

Die deutsche Sozialdemokratie ruft das gesamte Arbeitsvolk auf zum großen Entscheidungskampf für Klasse und Nation! Die Unglückswahl von 1930, aus der das politische Zwielicht, die Zersetzung der Demokratie und damit zwangsläufig die Übermacht der Präsidialgewalt und das System der Notverordnungen entstand, muß korrigiert werden. Das Volk kann siegen, es braucht nur zu wollen!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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