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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[2.]
Die politische Lage und der Wiedereintritt der SPD in die Reichsregierung.
Rede am 9.6.1921 in Esslingen


EV Nr. 139 v. 18.6.1921

Innerhalb der Partei war niemand entzückt über den Wiedereintritt unserer Genossen in die Regierung, [Die SPD hatte sich am 10.3.1921 dazu entschlossen, die Weimarer Koalition zu erneuern und in die Regierung einzutreten. Sie wurde gebildet unter der Führung des früheren Finanzministers Joseph Wirth als neuem Reichskanzler. Wirth (1879-1956) als Vertreter des linken Zentrumsflügels genoß großes Ansehen bei der SPD. - Zum Regierungseintritt vgl. Winkler, Von der Revolution, S. 450ff.] keiner aber auch direkt gegen den Eintritt. Kein Mensch wollte die Verantwortung auf sich nehmen, die die Ablehnung des Londoner Ultimatums zur Folge gehabt hätte, und zwar erstens aus nationalpolitischen, zweitens aus wirtschaftlichen Gründen. Die Ablehnung des Londoner Ultimatums hätte eine vollständige Zerstückelung des Reiches zur Folge gehabt, die Einheit des Reiches wäre in Frage gestellt worden. Die Entente war darauf angewiesen, in kurzer Zeit große Summen von Deutschland zu erhalten. Die Kardinalfrage zur Erfüllung dieser Forderung war, woher soll Deutschland diese Summen nehmen: Wir waren gezwungen, die Milliarden Bons auszugeben, die möglichst auf dem ausländischen Finanzmarkt untergebracht werden müssen; wir müssen uns aber trotzdem die Möglichkeit verschaffen, diese Anleihe in Deutschland unterzubringen. Da diese Papiere in Deutschland steuerfrei sind, wird ein Sturm auf solche losgehen; den Kapitalsverschiebern ist hier eine Handhabe gegeben, ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Die Nachteile dieser Zwangssteuerfreiheit der Bons werden sich ganz bedenklich in den Erträgnissen unserer Einkommen- und Kapitalsteuer, wie überhaupt in unserer ganzen Steuergesetzgebung fühlbar machen. Hätten wir uns auf die Ausgabe der Bons nicht eingelassen, so wäre unweigerlich die Besetzung weiterer größerer Gebietsteile des deutschen Reichs gefolgt und die Bons wären dann unter militärischem Zwang doch ausgegeben worden. Durch unsere Unterschrift sind uns immer wieder Verhandlungsmöglichkeiten mit den Ententestaaten gegeben. Die buchstäbliche deutsche Reparation wird wohl nie Wirklichkeit. Die deutsche Goldmark besitzt heute nur 50 Prozent ihres Friedensgoldwertes. Zur Erfüllung der Reparationen ist es unerläßlich, daß wir wieder auf den Stand unserer Friedensausfuhr kommen. Das Programm der neuen Regierung ist auf der einen Seite ein Steuerprogramm, auf der anderen Seite ein Wirtschaftsprogramm. Es wird ein Kampf entbrennen zwischen direkten und indirekten Steuern. Die alten Steuergesetze müssen restlos ausgebaut werden. Wir haben jetzt die Gefahr, Reparationsgewinnler zu bekommen. Dr. Wirth hat vor allem die Schaffung eines Zucker- und Zündholzmonopols ins Auge gefaßt. Diese Monopole werden eine Reserve für uns bilden. Wir müssen die neuen Steuergesetze so gestalten, daß dem Proletariat seine nackte Existenz erhalten bleibt, und das zwingt uns, in die Regierung zu gehen. Der eigentliche Kriegsgewinner ist England, politisch hat sich sein Gewinn noch nicht gefestigt, es kann uns jeden Augenblick im Rücken brauchen. Diese Reparationen sind für den Sozialismus günstig. Wir dürfen uns nicht außerhalb der Linie stellen, man muß die Maschine bedienen. Die deutsche Arbeiterschaft muß wieder zu einer Einigung kommen, sie kann nur kommen, wenn ein Teil gesiegt hat. In dieser Einheitsorganisation muß Solidaritätsgefühl und Disziplin voran sein, es darf nie wieder vorkommen, daß einer aus den Reihen springt und dem Führer die Mütze herunterreißt und sich an die Spitze stellt. Von der einigen Arbeiterschaft wird es abhängen, ob in den nächsten 30 Jahren die Spekulation herrscht, oder ob wir in eine Zeit kommen, in der die Werte schaffender Arbeit ausschlaggebend sind; wir haben mit unseren englischen Brüdern in einen Wettstreit zu treten, den entscheidenden Schlag haben wir zu führen, wir die große Partei, die wir der roten Fahne der Sozialdemokratie treu geblieben sind, dann wird uns die Führung zufallen - dann haben wir etwas getan für uns, für den Sozialismus und die ganze Menschheit.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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