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Peter Lösche
Parteienstaat in der Krise?


Überlegungen nach 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland

Kein Zweifel: Wir Deutschen sind Weltmeister im Lamentieren. Da wird über Parteienverdrossenheit gejammert, diese gleichgesetzt mit Politikverdrossenheit, ja zuweilen auch mit Demokratieverdrossenheit in einen Topf geworfen. Das „Verdrossenheitssyndrom" ist nicht neu, es trug früher nur andere Etiketten: In den 60er Jahren hieß das „politische Entfremdung", in den 70er Jahren „Krise der Demokratie" oder „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus". Überhaupt: Der Krisenbegriff war schnell bei der Hand, wurde auf alles gepappt, was Veränderung und Wandel ausmachte. Verwendet man den Krisenbegriff nicht alltagssprachlich, nimmt ihn ernst, trotz seiner Vielfalt in unterschiedlichen Forschungskontexten, dann entpuppt sich unsere politische Gegenwart und auch die Geschichte der Bundesrepublik als längst nicht so dramatisch, wie es das politische Feuilleton allzu oft suggeriert.

Wird Krise innerstaatlich bzw. innerparteilich begriffen als plötzliches Auftreten bzw. drastische Zuspitzung von Gefahrensituationen, die mit herkömmlichen Mitteln der Problemlösung nicht bewältigt werden können und bis an den Rand des Bürgerkrieges führen bzw. - bezogen auf Parteien - im Zusammenbruch eines historisch überkommenen Parteiensystems zu resultieren drohen, dann hat es seit 1949 und bis heute weder eine Krise noch Krisen des Parteienstaates gegeben. Im Gegenteil: Meine These für die folgenden Überlegungen lautet, daß man versucht ist, im Kontext der deutschen Geschichte, aber auch im internationalen Vergleich (auf den ich nicht eingehen werde) das Hohelied des bundesrepublikanischen Parteienstaates anzustimmen, daß wir im Rückblick auf die letzten 50 Jahre von einer Erfolgsgeschichte der Parteien, des Parteiensystems und des Parteienstaates sprechen können. Dabei werde ich keineswegs glorifizieren und manch Kritisches anmerken. Ich spitze aber meine These bewußt und positiv zu, um mich von den ständigen Lamentierern deutlich abzugrenzen.

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Was heißt „Parteienstaat", was meint „Parteienstaat" in der politischen Realität? Im folgenden wird von einem zunächst umgangssprachlichen Verständnis von Parteienstaat ausgegangen. Denn ein politiksoziologisches analytisches Konzept von dem, was „Parteienstaat" bedeuten kann, also eine Theorie des Parteienstaates, ist bisher nicht entwickelt worden. [ Zum Begriff „Parteienstaat" vgl. Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993; Peter Haungs: Die Bundesrepublik - Ein Parteienstaat? Kritische Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Mythos, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4 (1973), S. 502-524; Peter Haungs: Parteiendemokratie in der Bundesrepublik, Berlin 1980; Wilhelm Hennis: Der „Parteienstaat" des Grundgesetzes: eine gelungene Erfindung, Hamburg 1992.] Zu Beginn der Weimarer Republik wurde der Begriff Parteienstaat als negatives Schlagwort benutzt, das gegen die Demokratie und Republik gerichtet war. „Parteienstaat" galt als Gegenstück zu dem überkommenen Ämter- und Beamtenstaat der konstitutionellen Monarchie, der als neutraler, politikfreier, vor allem vom „Gezänk der Parteien" freier Staat begriffen wurde, der gegenüber der Gesellschaft nicht nur selbständig war, sondern sich gerade dadurch positiv abhob. Dieser Begriff war also aufgeladen mit Ressentiments und Vorurteilen gegen Demokratie, Republik und natürlich gegen die Parteien.

Im Unterschied dazu wird im folgenden unter „Parteienstaat" positiv eine repräsentative Demokratie - in der Regel parlamentarischer und nicht präsidentieller Ausprägung - verstanden, in der Parteien in der Verfassungsrealität, d. h. beim Zustandekommen politischer Entscheidungen und bei deren Legitimation, die dominierende Rolle spielen. Parteien sind dabei die wichtigsten, wenn auch nicht die alleinigen Träger politischer Willensbildung, indem sie unterschied-liche partikulare Bedürfnisse und Interessen in der Gesellschaft (abstrakt und unzutreffend: „den Volkswillen") aufnehmen und in die legislativen und exekutiven Verfassungsorgane vermitteln und umgekehrt die dort gefaßten Entscheidungen gegenüber dem Volk begründen und damit Legitimation für das politische System insgesamt schaffen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist in dem umrissenen Verständnis ein Parteienstaat par excellence. Dies zeigen bereits folgende, eher formelle Regelungen:

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1. Nach Artikel 21 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, eine Formulierung, die in der Vergangenheit von den bundesrepublikanischen Parteien fast zu einem Allzuständigkeitsanspruch im Bereich der politischen Willensbildung und damit in Richtung auf ein Parteienmonopol entwickelt worden ist.

2. Ebenfalls nach Artikel 21 GG sind die Parteien in besonderer Weise privilegiert, da sie nur nach einem komplizierten und beschränkten Antragsverfahren vom Bundesverfassungsgericht dann verboten werden können, wenn sie theoretisch und in ihrer politischen Praxis den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widersprechen. Im Unterschied dazu können nach Artikel 9 GG Vereine, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, vom Bundesminister des Inneren bzw. von den Landesinnenministern verboten werden.

3. Parteien werden staatlich alimentiert, nämlich aus dem Bundes- und den Landeshaushalten teilfinanziert. Dies gilt für die Parteien selbst und für die ihnen nahestehenden Stiftungen sowie für die Parteien im Parlament, also für die Fraktionen.

Um die besondere Bedeutung der Parteien im Parteienstaat zu präzisieren, muß auf die ihnen in der Politikwissenschaft, insbesondere in der politischen Soziologie, zugewiesenen Aufgaben bzw. Funktionen in der Verfassungswirklichkeit eingegangen werden. Folgt man einschlägigen Veröffentlichungen, kann ein entsprechender Funktionskatalog wie folgt aussehen:

1. Funktionen im intermediären Bereich zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System, nämlich: Organisation von Wahlen; Rekrutierung und Auswahl des politischen Personals; Artikulation gesellschaftlicher Interessen; Aggregation gesellschaftlicher Interessen in den Parteien; Schaffung von Legitimation für das politische System.

2. Funktionen im gouvernementalen Bereich: Regierungsbildung; Strukturierung des Parlaments durch Fraktionen und Oppositionsbildung; Politikformulierung und Politikausführung; Selektion von Amts- und Mandatsträgern; Adressat politischer und gesellschaftlicher Anforderungen.

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Einigen Beobachtern erscheinen Parteien in der Wahrnehmung dieser Funktionen wie Verfassungsorgane, die neben dem Bundespräsidenten, dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und dem Bundesverfassungsgericht existieren. [ So etwa die Auffassung von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker: Richard von Weizsäcker im Gespräch, Frankfurt a. M. 1992.] Doch greift dieses Verständnis zu kurz oder besser: Es ist zu einseitig, nämlich ausschließlich am Staat bzw. am Obrigkeitsstaat orientiert. Für das Funktionieren des Parteienstaates entscheidend sind aber nicht die „staatlichen", sondern gerade jene Funktionen, die die Parteien als Mittler zwischen Gesellschaft und Staat wahrnehmen. So problematisch diese ideal-typische und aus dem deutschen Idealismus kommende Trennung von Gesellschaft und Staat auch sein mag, so sind Parteien in ihrer konkreten Tätigkeit doch in beiden Bereichen verankert, „zu Hause". Jede noch zu formulierende Parteienstaatstheorie bzw. -soziologie hat von dieser Mittlerfunktion auszugehen.

Der Katalog, der auf die eigentlichen Tätigkeiten der Parteien zwischen Gesellschaft und Staat fokussiert ist, läßt sich auf vier wesentliche Funktionen zuspitzen:

1. Selektionsfunktion: Durch Parteien findet die Rekrutierung und Auswahl der politischen Elite aus der Gesellschaft - vom Ortsrat bis zum Kanzleramt - statt. Was häufig übersehen und gesinnungsethisch abgewertet wird: Parteien waren und sind immer auch Patronageorganisationen, nämlich Vereinigungen von Bürgern, die Ämter, Posten, Funktionen, Beförderungen und Karrieren zu vergeben haben. Daran ist überhaupt nichts Anrüchiges. Politisch problematisch (und dann natürlich auch moralisch fragwürdig) ist es, wenn Machtpositionen um ihrer selbst erobert werden, es also nicht mehr (auch) um die Durchsetzung von Inhalten geht. Das große Verdienst unserer Parteien in den 50er und 60er Jahren bestand nicht zuletzt darin, den öffentlichen Dienst demokratisiert zu haben - trotz des Einfalltors für ehemalige Nazis, das der Artikel 131 GG bot.

2. Mediatisierungsfunktion: Parteien und ihre Vertreter in Parlament und Regierung sind Vertreter von Partikularinteressen, die in der Gesellschaft angelegt sind. Der Begriff „Partei" ist bekanntlich von „pars" ( = Teil) abgeleitet, Parteien vertreten nur einen Teil der Inter-

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essen der Gesellschaft. Erst wenn die Parteien und ihre Parlamentarier sich auch dazu bekennen, Repräsentanten von - zugespitzt formuliert - Sonderinteressen bzw. Sonderbedürfnissen zu sein, wird die freimütige Austragung von kollektiven Interessengegensätzen möglich, wird dann ein daraus resultierender Kompromiß akzeptabel und nicht als „fauler" denunziert und muß die eigene, spezifische, interessengefärbte Position nicht mit dem Heiligenschein, nicht mit der Gloriole des Gemeinwohls umgeben werden. Erst wenn Konsens darüber besteht, daß Parteien und Parlamentarier eine Doppelrolle als Repräsentanten von Partikularinteressen und Repräsentanten der Nation spielen, kann auf die Diskussion allgemeingültiger Prinzipien, hehrer Grundsätze, verzichtet werden, können Parteien die Wagenburgen verlassen, aus denen heraus sie - wie in der Weimarer Republik - Weltanschauungsschlachten geschlagen haben. [Anm.3: Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 21 und S. 46f.]

3. Aggregationsfunktion: Auch innerhalb ihrer eigenen Mauern, innerparteilich, bemühen Parteien sich, gegenläufige und widerstreitende Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die außerhalb wie innerhalb der Partei organisiert sein können, auszugleichen, zwischen ihnen einen Kompromiß zu finden und zugleich eine eigene „parteiliche" Position zu formulieren. Parteien integrieren also die breitgestreuten Gruppenwillen. Im Idealfall wirken sie als soziale und politische Katalysatoren. Wer die politische Tätigkeit der Interessengruppen nicht durch den Filter „Parteien" leitet, sondern direkt in den Prozeß staatlicher Willensbildung eingliedern will, endet notwendigerweise beim Stände- oder beim Verbändestaat. [ Ebd., S. 47.]

4. Friedensstiftung: Indem Parteien die Mediatisierungs- und die Aggregationsfunktion wahrnehmen, tragen sie zur Friedensstiftung bei. Der Parteienstaat bietet Regelungsmechanismen zur Konfliktaustragung zwischen den Parteien und innerhalb der Parteien und damit auch zwischen divergierenden gesellschaftlichen Interessen. Es sind also Regeln festgelegt, nach denen Kampf um Macht(anteil) stattfindet, ohne daß dieser in Bürgerkrieg ausartet. Voraussetzung hierfür ist natürlich, daß sozial und politisch darüber eine Verständigung hergestellt worden ist, nach welchen Regeln Konflikte ausgetra-

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gen werden und welche Grundwerte unstrittig sind. Erst die Anerkennung der Grundwerte (wie Bewahrung der Menschenrechte, Minoritätenschutz), die den Regelungen zur Konfliktaustragung zugrunde liegen, machen diese auch sinnvoll.

Die Wahrnehmung aller oder doch des wesentlichen Teils der gerade genannten vier Funktionen durch die Parteien macht den Parteienstaat aus. Ohne starke Parteien kann ein parlamentarisches Regierungssystem nicht auskommen.

Moderne parlamentarische Regierungssysteme sind dadurch gekennzeichnet, daß die Exekutive bzw. das Kabinett und die Parlamentsmehrheit eng miteinander verschränkt sind, eine politische Aktionseinheit bilden, nämlich die Regierungsmehrheit. [ Zu den Strukturelementen des parlamentarischen Regierungssystems im Vergleich mit dem präsidentiellen vgl. Winfried Steffani: Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979; Winfried Steffani (Hrsg.): Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen 1991, S. 11ff.; Peter Lösche: Parteienstaat Bundesrepublik - Koalitionsbildungsstaat USA. Überlegungen zum Vergleich von Regierungssystemen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 20 (1989), S. 283-291.] Ihr steht die Opposition gegenüber. Aus dieser Konstellation ergibt sich im parlamentarischen Regierungssystem die Chance zur Kontrolle; diese Konstellation, das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition, stellt die Gewaltenteilung dar, nicht der Gegensatz von Legislative und Exekutive.

Und es sind die Parteien, die die Klammer bilden, um die verschiedenen Zweige des politischen Systems (Exekutive und Parlamentsmehrheit zur Regierungsmehrheit) und - im Fall der föderalistischen Bundesrepublik - seine verschiedenen Ebenen, Bund, Länder und Gemeinden, ineinanderzufügen.

Bekanntlich haben wir es in der Bundesrepublik mit einem höchst komplizierten System der Gewaltenteilung, der Gewaltenkontrolle und der Gewaltenverschränkung zu tun, das dem amerikanischen System von checks and balances näher steht als dem simplen bipolaren britischen, in dem sich die „ins" und „outs" gegenüberstehen. Bei uns reden nicht nur die Länder, der Bundesrat, die Kommunen, das Bund-

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esverfassungsgericht, zwei Zentralbanken in Frankfurt, die europäischen Institutionen in Brüssel und Straßburg, die NATO, sondern vor allem die Verbände und Interessengruppen aller Art mit, so daß der Kanzler - trotz seiner Richtlinienkompetenz - ein „armer Tropf" ist, ein Moderator, der - wenn er zu den Großen seines Faches zählen will - Prioritäten zu setzen hat und in einer Legislaturperiode bestenfalls zwei oder drei größere Ziele durchzusetzen vermag. Wenn es im Zeitalter der Globalisierung, Internationalisierung, Europäisierung und Ökonomisierung überhaupt eine Chance für den Primat der Politik gibt, dann durch die Parteien.

Die Parteien sind der Kitt, der die politischen Institutionen in ihrem Innersten und untereinander zusammenhält - und zwar insbesondere durch informelle Absprachen und Kooperationen. Das Stichwort hier heißt „Elefantenrunden": Es gehört nämlich zum Wesenskern parlamentarischer Regierungssysteme und hat nichts mit Geheimbünden oder „Mauschelei" zu tun, wenn der Chef der Exekutive, in der Bundesrepublik also der Kanzler, und die wichtigsten Minister, die Partei- und die Fraktionsvorsitzenden gerade in Koalitionsregierungen, aber auch bei Ein-Parteien-Regierungen, sich informell zu gegenseitiger Information, Abstimmung und Konsenssuche treffen. Durch Fraktions- und Parteidisziplin in zentralen (allerdings nicht allen, z. B. nicht Gewissensfragen) legislativen Angelegenheiten konstituieren sich Regierungsmehrheit und Opposition. Konkret: Das wichtigste Gesetz im Verlauf eines parlamentarischen Jahres, das Haushaltsgesetz, erhält die Unterstützung der Parlamentsmehrheit. Fehlt diese, haben wir es mit einer offenen Regierungskrise zu tun.

Wer lamentiert, daß der klassische Gegensatz von Exekutive und Legislative durch die Parteien überlagert werde, wer die Unvereinbarkeit von Ministeramt und Parlamentsmandat, von Kanzleramt und Parteivorsitz herstellen will, befindet sich noch in der Frankfurter Paulskirche von 1848, sein Verständnis ist das eines Dinosaurier-Parlamentarismus, er projiziert den Gegensatz von absolutem Herrscher und Volksvertretung auf die Gegenwart, er ist im Denken des Obrigkeitsstaates - bewußt oder unbewußt - gefangen. [Anm 6.: Vgl. hierzu Peter Lösche: Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995), S. 149-159.]

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Im Unterschied zu Weimar ist die Bundesrepublik ein echter Parteienstaat geworden. Die Weimarer Republik war kein parlamentarisches, vielmehr ein semipräsidentielles Regierungssystem: Der vom Volk direkt gewählte Reichspräsident konnte das Parlament und damit die Parteien leicht aushebeln. Er ernannte den Reichskanzler, er konnte den Reichstag relativ leicht auflösen und mit Hilfe des Notverordnungsartikels 48 regieren. Hinzu kam, daß die Parteien, historisch vorbelastet, nicht in der Lage waren, inhaltliche und personelle Kompromisse zu schließen. Sie verblieben vielmehr in ihren sozialmoralischen Milieus oder waren Agenturen von Verbänden. Die Einheit und Reinheit des Programms, Prinzipienreiterei, nicht Pragmatismus und Konsensfindung herrschten.

In der Geschichte der Bundesrepublik sind die Parteien aus den sozialmoralischen Milieus herausgewachsen, die ideologischen Wagenburgen öffneten sich, Weltanschauungsschlachten werden nicht mehr geschlagen. Viele Gründe waren für diese Entwicklung verantwortlich: Die Tertiärisierung der Gesellschaft, Ausdifferenzierung und Individualisierung in der Gesellschaft; Klassengegensätze wurden durch den Sozialstaat überbrückt; die Bundesrepublik säkularisierte sich zunehmend; die Revolution im Bildungswesen in den 70er Jahren tat ein übriges.

Die Parteien in der Bundesrepublik haben sich seit Mitte der 60er Jahre, nicht zuletzt dadurch, daß sie sich aus den weltanschaulichen und organisatorischen Bindungen ihrer sozialmoralischen Milieus zunehmend emanzipiert haben, jenem Idealtyp von Partei genähert, der zum Funktionieren eines parlamentarischen Regierungssystems notwendig ist. Sie haben zunehmend jene vier Funktionen erfüllt, die einleitend hervorgehoben wurden.

Das anfänglich breit ausgefächerte und auch im Wahlverhalten noch dicht an Weimar haftende Parteiensystem hat sich schließlich in den 60er und 70er Jahren auf ein 2 ½-Parteiensystem konzentriert, in dem zwei große Volksparteien und eine kleine Honoratiorenpartei miteinander konkurrierten. Dreimal fanden Regierungswechsel statt, so daß das Spiel von Regierungsmehrheit und Opposition zu funktionieren schien. Und die Beteiligung bei Bundestagswahlen lag über
90 %. Die Parteien waren akzeptiert.

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Diese idyllischen Zeiten sind bekanntlich vorbei. Parteienverdrossenheit ist in aller Munde. Haben wir es mit einer Krise des Parteienstaates zu tun, oder ist dieser gar an sein Ende gekommen? Die tatsächliche oder angebliche Krise des Parteienstaates wird u. a. an folgenden Phänomenen festgemacht: In Umfragen zeigt sich, daß Wähler mit den Parteien unzufrieden sind, Parteiakzeptanz nachgelassen hat; Großparteien verlieren an Stimmen; kleine Parteien am Rande wie die Grünen, die PDS und vorübergehend die Republikaner und die DVU haben Wähler gewonnen; der Anteil der Nichtwähler steigt ebenso wie der Anteil der Wechselwähler; die Mitgliederzahlen aller Parteien - mit Ausnahme der Grünen, die stagnieren - sinken. Ohne Zweifel haben wir es mit Parteienverdrossenheit, wohl kaum mit einer Krise des Parteienstaates, auf keinen Fall aber mit dem Infragestellen der parlamentarischen Demokratie zu tun.

Zu fragen ist, worin Parteienverdrossenheit gründet: [ Vgl. hierzu und mit weiteren Literaturangaben Lösche, Parteienverdrossenheit [ wie Anm. 6 ] , S. 149 ff. ] Hier sind ganze Ursachenbündel zu nennen: Neue Partizipationsformen haben sich im Zeitalter des Postmaterialismus eingebürgert, Individualisierungsschübe halten an, Politikinhalte sind immer komplizierter und komplexer geworden, so daß Parteien in sich geschlossene Konzeptionen dem Wähler einfach nicht zu offerieren vermögen. Vor allem aber haben Parteien selbst einige der Gründe zu verantworten, die zum Verdruß über sie geführt haben. Dazu gehören die bekannten und berüchtigten Parteifinanzierungs-, Diäten- und Korruptionsaffären. Viel schwerer wiegt aber die Tatsache, daß Parteien in der Hochzeit ihrer Blüte - und zuweilen auch noch heute - den Eindruck erweckt haben, als seien sie allzuständig, als verfügten sie über ein Monopol in der politischen Willensbildung. Parteien haben ihre Kompetenzen überdehnt und sind in Bereiche eingedrungen, in denen sie nichts zu suchen haben. Zu nennen sind hier die berühmt-berüchtigten Rundfunk- und Fernsehräte, in denen nicht nur nach parteipolitischen Gesichtspunkten abgestimmt wird, sondern in denen es fraktionsmäßige „Freundeskreise" gibt, die sich vor den offiziellen Sitzungen treffen. Ferner haben die Parteien in öffentlichen Verwaltungen Patronage überdehnt: Warum bei der Ernennung von Theater- und Opernintendanten Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt, ist in der Öffentlichkeit ebensowenig verständlich zu machen wie die Tatsache, daß in man-

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chen Landstrichen der Bundesrepublik eine Beförderung vom Studienrat zum Oberstudienrat ohne ein bestimmtes Parteibuch nicht gelingen will. Auf der lokalen Ebene schienen und scheinen Parteien allgegenwärtig zu sein: Sie mischen in den Vereinen mit, beim Sport- und Gesangsverein, beim Schützenverein und bei der Freiwilligen Feuerwehr. Diese Allgegenwart verstärkt den Eindruck, Parteien seien allzuständig. Genau hier liegt aber das Problem, das in den letzten Jahren auf die Parteien wie ein Bumerang zurückgekommen ist. Sie haben nämlich aufgrund ihres Allzuständigkeitsanspruches Erwartungen geweckt, die sie in der politischen und gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik nicht zu erfüllen vermochten und vermögen. Wegen ihres Monopolanspruchs werden sie heute für vieles verantwortlich gemacht, für das sie überhaupt nicht zuständig sind. Konkret: Einzelne Parteien können für die Globalisierung der Kapitalmärkte, die Internationalisierung der Arbeitsmärkte, die Defizite in den öffentlichen Haushalten oder die Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen, nicht verantwortlich gemacht werden.

Zur Parteienverdrossenheit trägt auch bei, daß unsere Großparteien sich damit schwer tun, mit ihrer eigenen Fragmentierung und Segmentierung, mit ihrer eigenen Vielfalt und Widersprüchlichkeit umzugehen. Dies trifft aktuell die SPD stärker als die CDU, ist bei dieser aber strukturell auch angelegt. Entgegen dem Image, das SPD und CDU in der Öffentlichkeit, aber auch bei einigen Fachwissenschaftlern haben, sind diese keine hierarchischen oder oligarchischen Mammut-Organisationen, sie stellen vielmehr das dar, was wir als „lose verkoppelte Fragmente", als „lose verkoppelte Anarchie" bezeichnet haben. [ Zum Begriff der „lose verkoppelten Anarchie" vgl. Peter Lösche/Franz Walter: Die SPD. Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 173ff.; Peter Lösche: „Lose verkoppelte Anarchie". Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 43/93, S. 34-45; Peter Lösche: Haben die Volksparteien noch eine Chance? Die SPD als „lose verkoppelte Anarchie", in: Wienand Gellner/Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Umbruch und Wandel in westeuropäischen Parteiensystemen, Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, S. 181-194.]

In der Organisation dezentralisiert und fragmentiert, mit einem großen Maß an Autonomie für die einzelnen Gebietsverbände, vom

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Ortsverband bis zum Bundesverband, für die verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen, die Arbeitsgemeinschaften der SPD und die Vereinigungen der CDU, und für die verschiedenen Fraktionen, vom Gemeinderat bis zum Bundestag; in der sozialen Zusammensetzung ihrer Funktionäre, Mitglieder und Wähler bunt und vielfältig, im Spagat zwischen höchst gegensätzlichen gesellschaftlichen Gruppen; programmatisch und ideologisch so farbenfreudig und auch widersprüchlich wie in ihrer Sozialstruktur; zusammengehalten durch den Willen zur Macht, durch Patronage, durch aus der Geschichte überkommene Symbole, Rituale und Programmpunkte und - falls vorhanden - durch charismatische und/oder organisationskompetente Führer. Die Parteien bieten nach außen also kein geschlossenes, harmonisches Bild - was wiederum zur Parteienverdrossenheit beiträgt.

Ferner sind jene historischen Vorbelastungen, die das Fungieren der Parteien im parlamentarischen Regierungssystem in der Vergangenheit erschwert haben, auch heute noch nicht völlig überwunden. So scheint der Antiparteienaffekt neue Urständ zu feiern, unter den Wählern wie unter einigen Sozialwissenschaftlern. [ Beispielhaft hierfür sind die Arbeiten von Hans-Herbert von Arnim.]

Zur Parteienverdrossenheit trägt schließlich bei, daß unsere Parteien sich in einem ständigen Wandlungsprozeß befinden, die Parteietiketten bleiben, die politischen Inhalte sich aber verändern. Dies führt zu Verwirrung und Verdruß. Damit ist nicht nur gemeint, daß die PDS zu einer ostdeutschen Regionalpartei geworden ist und daß Bündnis 90/Die Grünen sich zu einer sozialliberalen Partei häuten, so daß die Spaltung des deutschen Liberalismus, die wir aus Weimarer Republik und Bismarck-Reich kennen, sich hinter dem Rücken der Akteure wieder eingestellt hat - und die FDP die rechte, marktliberale Position einnimmt. Vielmehr hat sich hinter dem Label, daß CDU und SPD Volksparteien seien, eine ganz neue Struktur herausgebildet. Wir können regelrecht von einem neuen Typus von Partei sprechen, der im Entstehen ist und der das Ende der Mitglieder und Funktionärspartei signalisiert. Dieser neue Parteitypus, der sich allmählich durchzusetzen scheint, kann auf drei Ebenen, mit Hilfe von drei Indikatoren beschrieben werden.

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1. Der neue Parteitypus stellt sich als Medienpartei dar. Die nationale Parteiführung, sei es ein einzelner Parteiführer oder ein Duo oder eine Troika, kommuniziert mit den Mitgliedern, aber auch mit den Sympathisanten und Wählern direkt über die Medien. Dadurch werden die traditionellen Strukturen innerparteilicher Willensbildung, das Delegiertensystem, umgangen. Die Parteifunktionäre, die Parteiaktivisten, die mittlere Parteielite verliert an Einfluß und Macht. „Innerparteiliche Demokratie" wird in ihrer bisherigen Form in Frage gestellt: Es waren die Parteitagsdelegierten, die Parteifunktionäre, die zwar nicht die Willensbildung von unten nach oben vollzogen, die aber aufgrund ihrer organisatorischen und politikinhaltlichen Kompetenz in der Lage waren, Machtzentren innerhalb der Partei und damit auch die Parteiführung zu kontrollieren und die ggf. durch innerparteiliche Gruppen- und Fraktionsbildung konkurrierende Eliten als Alternative zu präsentieren vermochten. Die mittlere Parteielite, nämlich Parteitagsdelegierte und Parteifunktionäre, fungierten bislang wenigstens potentiell als innerparteiliche Kontrolleure von Parteiführern. In der Medienpartei werden genau diese aber zunehmend umgangen. Auch Elemente direkter Demokratie , die in den innerparteilichen Willensbildungsprozeß durch Direktwahl von Mandatsträgern und Parteifunktionären oder durch Mitgliederabstimmungen eingeführt werden, resultieren nicht in einer neuen Qualität innerparteilicher Demokratie. Vielmehr wird die direkte Kommunikation zwischen Parteiführung und Parteibasis nur verstärkt, werden Parteifunktionäre weiter entmachtet. Dabei ist die Kommunikation zwischen Führung und Basis keineswegs nur eine einseitige. Vielmehr bekommen Meinungsumfragen unter Parteimitgliedern, die nicht zuletzt von Medien durchgeführt wurden, zunehmende Bedeutung. Mitgliederumfragen stellen eine Art und Weise dar, in der die Basis sich gegenüber der Parteiführung äußert.

Genau dies war auch der Weg, über den Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten nominiert worden ist. Es waren die Parteitagsdelegierten, es war die mittlere Parteielite, die Oskar Lafontaine favorisierten und nicht den Niedersachsen im Kanzleramt sehen wollten. Allgemeine Meinungsumfragen über die Popularität deutscher Politiker, insbesondere dann aber Umfragen unter SPD-Mitgliedern, die zeigten, daß Schröder von fast 70 % der einfachen Mitglieder als Kanzlerkandidat gewünscht wurde, waren die Basis dafür, daß bei den niedersächsischen Landtagswahlen faktisch eine Vorwohl nach ame-

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rikanischem Muster, eine „primary", stattfand. Es waren die öffentliche Meinung und die Mitgliedermeinung, die Schröder gegen den Willen der Parteifunktionäre zum Kanzlerkandidaten machten.

2. Die Parteien haben sich zu professionellen Dienstleistungsorganisationen entwickelt. Es gehört in die Folklore deutscher Parteiengeschichte und nicht in die Gegenwart, daß Parteimitglieder oder Funktionäre während eines Wahlkampfes Plakate kleben oder daß man eine Parteikarriere als „Treppenterrier" beginnen muß, nämlich als Unterkassierer von Beiträgen im Ortsverein. In Wirklichkeit werden Plakate heute von Werbeagenturen geklebt, und Parteibeiträge laufen automatisch über das Girokonto in die Kassen der Schatzmeister. Diese Entwicklung wird als „Amerikanisierung" bezeichnet. Amerikanische Parteien haben tatsächlich eine ähnliche Entwicklung durchlaufen, sie sind aber nicht ursächlich dafür verantwortlich, daß unsere Parteien sich zunehmend professionalisieren. Die moderne, sich zunehmend professionalisierende Partei erbringt vor allem drei Dienstleistungen: sie führt und finanziert Wahlkämpfe. Durch sie wird die politische Elite ausgewählt, werden Kandidaten für Ämter bestimmt. Und die Partei regiert, indem sie in den verschiedenen Parlamenten als Fraktion sitzt und Personal für die Exekutive, für Kommunalverwaltungen und für Kabinette auf Landes- und Bundesebene zur Verfügung stellt.

3. Die alten Volksparteien entwickeln sich zunehmend zu Fraktionsparteien. Das Machtzentrum der Parteien, aber auch ihre organisatorischen und finanziellen Ressourcen finden sich in den Fraktionen der Parlamente (wiederum vom Gemeinderat bis zum Bundestag) und in den Kabinetten (auf Landes- und Bundesebene, auf der kommunalen Ebene in den entsprechenden Verwaltungen und Dezernaten). Es sind die Parteien, die „regieren" (immer im Sinn von „to govern"), indem Parteifunktionäre, nämlich Personen, die innerhalb der Partei bestimmte Positionen halten, Mitglieder von Parlamenten bzw. von Kabinetten und exekutiven Behörden werden. Parteifunktionen, Mandate in Parlamenten und Ämter in der Exekutive werden kumuliert. Der Primat der Parteiorganisation, wie wir ihn aus der Geschichte der Sozialdemokratie kennen, wird aufgehoben. In den „parties in government", in den Fraktionen und Exekutiven liegt das eigentliche Machtzentrum der Parteien. Dennoch spielt die Parteiorganisation

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immer noch eine Rolle, wie etwa der Vergleich von ost- und westdeutscher SPD zeigt.

Der neue Typus von Partei, der sich herausbildet und die Volkspartei als Mitglieder- und Funktionärspartei ablöst, enthält also die drei Elemente Medienpartei, professionalisierte Partei und Fraktionspartei. Die Parteien, die sich diesem neuen Typus annähern, verstehen sich immer mehr als Dienstleistungsorganisationen: Sie führen Wahlkämpfe, sie rekrutieren die politische Elite und stellen das Parlaments- und Regierungspersonal, sie regieren und verwalten. Damit kristallisiert sich ein neues Verständnis von Partei heraus, das jener Definition nahekommt, die in einschlägigen amerikanischen Collegetextbüchern zu finden ist und die politische Wirklichkeit der USA spiegelt: „A party is to elect", eine Partei ist dazu da, die politische Elite zu rekrutieren und in Ämter zu bringen. Je stärker sich dieser neue Parteientypus durchsetzt, um so weniger werden von Parteien jene Funktionen wahrgenommen werden, die ihnen traditionell zugeschrieben worden sind, nämlich divergierende Interessen aus der Gesellschaft aufzunehmen und zu aggregieren sowie zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System als intermediäre Institutionen zu fungieren und auf diese Weise Legitimation für das politische System insgesamt zu schaffen. Was heute als Krise der Parteien, als Parteienverdrossenheit erscheint, hängt ursächlich mit dem gerade angedeuteten Funktionsverlust der Parteien zusammen. Parteien fungieren eben nicht in gewohnter Weise (wie in den 50er und 60er Jahren) als intermediäre, interessenaggregierende und -vermittelnde Institutionen. Sie sind zunehmend auf die Funktion von Eliterekrutierung beschränkt.

Dennoch: Das Ende der Parteien und des Parteienstaates ist keineswegs gekommen. Dies hat historische und systematische Gründe. Zunächst ist an die enorme historische Leistung des bundesrepublikanischen Parteienstaates gerade im Rückblick auf die Weimarer Republik zu erinnern, die auch zureichend Vitalität für die Gegenwart und Zukunft verheißt. Man denke allein an die Integrationsleistung, die vollbracht worden ist. So wurden ehemalige Nationalsozialisten, Gruppen und Parteien des Links- und Rechtsextremismus, Flüchtlinge, die Außerparlamentarische Opposition und die neuen sozialen Bewegungen, die auf postmaterialistischen Mentalitäten und Verhaltensweisen basieren, von den Parteien absorbiert und integriert. Dies

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zeigt ein großes Maß an Flexibilität. Natürlich hat sich das politische System dadurch selbst verändert; die einst autoritär-obrigkeitsstaatliche politische Kultur ist zunehmend demokratisiert worden, die Bereitschaft der Bürger, politisch zu partizipieren, ist gestiegen, die Forderung nach mehr direkter Demokratie setzt die Parteien heute unter Druck. Insgesamt ist durch diese Integrationsleistung das Parteiensystem, vor allem aber das parlamentarische Regierungssystem, bestätigt und stabilisiert worden. Zur Erfolgsgeschichte des Parteienstaates gehört auch, daß die Verwaltung nicht zuletzt durch die Patronage, die von den Parteien ausging, demokratisiert worden ist - ein deutlicher und positiver Unterschied zu Weimar.

Schließlich gibt es keine Alternative zu den Parteien und zum Parteienstaat. Alternative Organisationen und Institutionen sind weit und breit nicht zu erkennen, die an die Stelle der Parteien treten könnten, um deren Funktionen gerade im intermediären Bereich zu übernehmen. Bürgerinitiativen und Ein-Punkt-Bewegungen ergänzen den Parteienstaat, stellen ihn aber nicht infrage. Heute ist nicht einmal mehr - wie in den Zeiten der Studentenbewegung - die Rede von einem Rätesystem, geschweige denn, daß es als politische und soziale Möglichkeit angelegt wäre. Und es ist kein Zufall, daß die Grünen sich zu einer „stinknormalen" Partei entwickelt haben: Dies zeigt die Sogkraft des Parteienstaates. Wer etwas bewirken will, Interessen und politische Ziele durchsetzen will, muß durch die Institution „Partei" gehen.

Dennoch werden auch künftig und voraussichtlich zunehmend nichtparteiliche Organisationen an der politischen Willensbildung beteiligt sein, nämlich Bürgerinitiativen, soziale und Ein-Punkt-Bewegungen, Vereine und Verbände. Aber auch diese orientieren sich - ganz bewußt - an den Parteien, und sie versuchen, diese in ihrem Interesse zu beeinflussen.

Obwohl Parteien nach wie vor eine zentrale Stellung im politischen System der Bundesrepublik, konkret in der politischen Willensbildung wahrnehmen, sind sie dabei, sich zu reformieren. Sie sind gerade aufgrund der Brüche zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System, wie sie sich in der Parteienverdrossenheit zeigen, sensibler geworden. Reformen bzw. Reformversuche werden nicht aus philanthropischen oder Gründen der politischen Bildung

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oder abstrakter Ethik von den Parteien angestrebt, sondern aus schlichtem Selbsterhaltungstrieb. Wenn nämlich auf längere Zeit oder auf Dauer Parteienverdrossenheit anhält, kann diese in sozial und ökonomisch kritischen Situationen in System- und Demokratieverdrossenheit umschlagen. Der alte Antiparteienaffekt könnte vollends an die Oberfläche gespült werden, autoritäre politische Einstellungen und Verhaltensweisen könnten sich durchsetzen. Die Parteien selbst haben also ein Interesse daran, sensibel auf Kritik und gegen sie gerichtete Affekte zu reagieren und sich zu reformieren.

Es geht dabei vor allem um die Rücknahme des Allzuständigkeitsanspruches und der Allzuständigkeitspraxis durch die Parteien, es geht explizit darum, daß die Parteien jeden Anspruch, über ein Monopol in der politischen Willensbildung zu verfügen, aufgeben. Ferner geht es um die Beförderung anderer Formen politischer Partizipation, z. B. durch Bürgerinitiativen, Vereine oder Verbände. Schließlich geht es um die vorsichtige Aufnahme neuer Partizipationsformen durch die Parteien, so um die Offenheit für direktdemokratische Elemente. Allerdings scheint bis heute die Einführung plebiszitärer Elemente in die Parteien, etwa von Vorwahlen und Mitgliederbefragungen, in ihren Folgen wenig durchdacht.

Auf der Tagesordnung steht also die Reform der Parteien und des Parteienstaates, nicht deren Abschaffung. Dabei ist in den Parteien, aber auch von Historikern und Sozialwissenschaftlern zu bedenken, welche Rolle eben diese im parlamentarischen Regierungssystem, im Parteienstaat, zu spielen haben. Parteien müssen sich an neue politische, soziale und ökonomische Entwicklungen anpassen, haben sich gleichsam selbst zu adjustieren. Es kommt dabei auf Selbstbewußtsein und die richtige Mischung verschiedener Faktoren in der Verfassung der Parteien an. Ernst Fraenkel hat dies vor fast 40 Jahren treffend und auch heute noch aktuell formuliert: Was wir brauchen, sind „Parteien, die sich nicht scheuen, zuzugeben, daß es ihr Ziel ist, ihre Führer in die strategisch bedeutsamen Positionen in Regierung und Verwaltung zu bringen; Parteien, die sich nicht scheuen, zuzugeben, daß sie mit den Interessengruppen Hand in Hand arbeiten müssen, ohne diesen Gruppen gegenüber zu kapitulieren. Parteien, die sich nicht scheuen, zuzugeben, daß sie auf ihre Abgeordneten einen Druck ausüben, weil ohne Fraktionsdisziplin parlamentarisch nicht regiert werden kann. Wir benötigen Parteien, die die innere Kraft besitzen,

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sich von traditionellen Vorstellungen loszusagen, die, weil sie unter andersartigen politischen Voraussetzungen entstanden sind, lediglich eine Vorbelastung für einen funktionierenden parlamentarischen Betrieb darstellen. Wir benötigen aber auch Parteien, die trotz aller Bekenntnisse zu der Notwendigkeit einer pragmatischen Haltung zur Politik mit einem letzten Rest wehmütiger Romantik sich der Träume ihrer Jugend nicht schämen, als es noch so schön war in der Politik, weil wir wirklich geglaubt haben, daß Prinzipien die Welt regieren." [ Fraenkel, Deutschland [ wie Anm. 3 ] , S. 30 f.]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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