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TEILDOKUMENT:
Wilfried Busemann [Seite der Druckausgabe: 145] Diskussion zum Vortrag von Egon Bahr:
Egon Bahrs Vortrag sorgte für eine lange und spannende Aussprache [ Fn.1: Aufgrund ihrer Bedeutung und ihrer hohen Qualität werden die erste und dritte Gesprächsrunde ausführlicher dokumentiert. Unausbleibliche Wiederholungen in der vierten Runde werden weggelassen.],
Florian Gerster: Würde Egon Bahr heute das "Streitkultur"-Papier nicht anders formulieren als damals, zumal doch schon 1987, zum Beispiel in der Diskussion der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, mindestens drei Kritikpunkte zur Debatte standen: l. der Wettbewerb der Systeme und die Offenheit seines Ausgangs, 2. die humanistische Tradition von Sozialdemokraten und Kommunisten als gemeinsamer Wert, 3. die Anerkennung der Existenzberechtigung der DDR über die Hinnähme dessen hinaus, was ohnehin ist. Egon Bahr: Natürlich würde er heute manches auch anders machen, aber dieses Streitkultur-Papier ist halt 1987 entstanden. Außerdem konnte die SPD seinerzeit nicht alleine formulieren, es gab da einen Partner, der auch seine Wünsche äußerte; das war immer ein bißchen Geben und ein bißchen Nehmen. [Seite der Druckausgabe: 146] Zum ersten Kritikpunkt: Die Wettbewerbsoffenheit war kein Zugeständnis, sondern sie entsprang der Grundüberzeugung der SPD vom geschichtlichen Erfolg ihres eigenen Weges, "weil die Kommunisten den völlig sinnlosen Versuch machen, den Menschen ändern zu wollen." Zweiter Punkt: Das Festhalten an gemeinsamen humanistischen Traditionen war ein Versuch, die SED zu binden, die sich von gerade diesen Traditionen zum großen Teil verabschiedet hatte. Wie man später gesehen hat, hat die SED das Streitkultur-Papier praktisch zerrissen. Drittens: An der Anerkennung der Existenzberechtigung der DDR über die Hinnähme dessen, was ist, hinaus, hatte Egon Bahr zu schlucken. Der Umgang auch mit ungeliebten Realitäten war die Grundhaltung der gesamten Ostpolitik; deshalb erfolgte die Anerkennung von kommunistischen Regimes, ohne sie damit zu legitimieren. Das war weniger das Problem. Der Kern der Frage ist indessen: "Reicht die Hinnahme, oder ergibt sich daraus eine Formulierung, die die Existenzberechtigung konstatiert?" Das zwingt zu der Gegenfrage: Was bedeutet es, das geschichtliche Faktum, daß es diese Regime mit ihrer ganzen Machtfülle gibt, als Existenzberechtigung zu bezeichnen - wenn das die Voraussetzung ist dafür, daß sie sich ändern?! Gewiß haben Sozialdemokraten 1987 "mit Zitronen gehandelt", als auf dieser Grundlage die SED die Berufung auf die gemeinsamen humanistischen Traditionen dann wieder in Frage stellte. Insgesamt hatte die SED gleichwohl - und das war von Anfang an die Einschätzung der SPD - größere Schwierigkeiten mit dem Papier. Aus der heutigen Sicht war es damals richtig, dieses Papier zu machen. Stephan Hilsberg: Er hat großen Respekt vor der politischen Leistung Egon Bahrs, jedoch befindet er (Hilsberg) sich in dem Dilemma, daß er den Vortrag für "schwer erträglich" hält, weil dieser in seiner zwingenden Logik die In-Frage-Stellung des politischen [Seite der Druckausgabe: 147] Handelns der Opposition seit Mitte der 80er Jahre und der Revolution in der DDR bedeutet. Die sozialdemokratische Ostpolitik zeigte nicht nur Resonanz in der SED, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung. Diese stimmten der ersten Phase von ganzem Herzen zu, doch als die SPD nicht mehr in der Regierungsverantwortung stand, reagierte die DDR-Bevölkerung zuerst reserviert auf die zweite Phase der Ostpolitik, am Ende wurde diese ganz abgelehnt. Es ist ein großer Unterschied, ob man die SED als Machtfaktor akzeptierte oder in ihr einen legitimen Zweig der deutschen Arbeiterbewegung sah. Tatsächlich hat sich diese Partei von den 50er Jahren bis 1989 permanent durch ihre praktische Politik als Teil der Arbeiterbewegung delegitimiert. Als Signal aus Bahrs Rede sah Hilsberg: Die oppositionelle Bewegung in der DDR hat nicht begriffen, wie wirkungsvoll die Politik der SPD war auf die DDR und den Ostblock. "Wenn sie das nicht begreifen kann, ist sie selber schuld daran!" Das kann so nicht stehen bleiben, denn wenn man im politischen Kampf wirklich etwas bewegen wollte, mußte man schließlich sagen: "Entmachtung der SED! Das war unser erstes und wichtigstes politisches Ziel." Dafür mußte man sich nicht nur gegen die SED stellen, sondern am Ende auch gegen die Wahrnehmung der Machthaber durch die westdeutschen Sozialdemokraten. Ein zweites: Einheit und westliche Kontakte. Die Sozialdemokratie in der DDR (SDP) hatte in ihrer Gründungsphase nur wenige Kontakte in den Westen, einer war Gert Weisskirchen, der gelegentlich auch andere Leute mitbrachte. Es gab mit ihm eine Diskussion um die Namensgebung SDP bzw. SPD in der Phase, als die Gefahr bestand, daß die gewendete SED, die PDS, den Namen SPD für sich übernehmen könnte im Osten als "Sozialistische Partei Deutschlands". Martin Gutzeit verwies auf die Konsequenzen für die Frage der deutschen Einheit, die sich aus der Umbenennung der SDP in SPD ergaben. Doch Gert Weisskirchen wischte sie einfach vom Tisch mit dem [Seite der Druckausgabe: 148] Hinweis auf die Tradition. "Mit dem Festhalten an der Tradition war die Frage der Nation geklärt." Zum Fall Ibrahim Böhme: Der zeigt die Schwierigkeit, sich aus der ideologischen und der Stasi-Umklammerung zu befreien. Der Verdacht gegen Böhme bestand bei manchen Leuten schon lange Zeit. Aber Böhme war auch wertvoll als Medienprofi, und dieser Fakt zieht die Frage nach sich, ob die SPD nicht diese Medienpolitik Böhmes unterstützt hat. [ Fn.2: Ausführlicher werden diese und andere Fragen der SDP-Gründungsgeschichte dargestellt in: Dieter Dowe (Hrsg.): Von der Bürgerbewegung zur Partei. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Gesprächskreis Geschichte, Heft 3. Bonn 1993. Vgl. auch: Wolfgang Herzberg/Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989. Interviews und Analysen. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 1993.] Mit Stasi-Leuten aufzuräumen war erst möglich, als die Akten auf dem Tisch lagen; darum ist es so wichtig, daß diese Akten öffentlich wurden und es bleiben. Markus Meckel: Die von Bahr angesprochene Absprache zwischen ihm und Böhme ist in der SDP-Führung nie angekommen; das hätte man in der SDP auch nie akzeptiert, weil Axen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr der Ansprechpartner der SPD sein konnte. Meckel hat Böhme im August 1984 kennengelernt, und eine Woche später schon gab es das Stasi-Gerücht über Böhme; das war irgendwie normal, denn das gehörte zur Stasi-Strategie. Böhme seinerseits nährte immer wieder diesen Verdacht, bis es 1988/89 eine Phase des relativen Vertrauens gab. Böhme fiel aus der eigentlichen Vorbereitungsphase der SDP im Frühjahr 1989 heraus eben wegen der allseits bekannten Verdachtsmomente, und als er dann im August 1989 dazu stieß, war eine andere Phase angebrochen. Man hätte zu diesem Zeitpunkt Böhme nur ausgrenzen können, indem man das ganze, nun auf öffentliches Bekanntwerden angewiesene Projekt gefährdete. [Seite der Druckausgabe: 149] Als dann in den Medien Anfang 1990 ein "Machtkonflikt" Meckel/Böhme festgestellt wurde, hatte das auch mit solchen Dingen zu tun, die man zu jener Zeit jedoch nicht öffentlich aussprechen konnte. Die Bewertung der Demo vom 4.11.1989 ist falsch, denn sie lief neben den Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen der einzelnen Oppositionsgruppen her; daraus konnte man keine handlungsfähigen Konzepte entwickeln, dennoch gab diese riesige Kundgebung allen Gruppen einen mächtigen Schub. Wie Egon Bahr erklärte, wollte die SPD im Westen damals aus verschiedenen Gründen ihrerseits nicht zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR aufrufen. Das hätten die Leute, die in Schwante die SDP gegründet haben, auch gar nicht begrüßt. Für sie bestand das Problem darin, wie die SPD auf den schließlich erfolgten Gründungsaufruf reagieren würde. Die ersten, spontan zurückhaltenden Reaktionen von z. B. Karsten Voigt und Walter Momper waren gut, denn sie verliehen der SDP die gewünschte Eigenständigkeit. Schließlich war die Gründung ja auch ein beabsichtigter Tritt gegen das Knie der SPD wegen deren Kontakten zu den Machthabern in der DDR. Anders als Bahr sieht Meckel absolut kein Verdienst der SED am unblutigen Ende der DDR. Willy Brandt hat ihm einmal erzählt, daß die Russen das Oberkommado von der NVA abgezogen hatten. Das war entscheidend und nicht die vermeintliche Lernfähigkeit dieser Pappenheimer, die einfach abgewirtschaftet hatten. Egon Bahr: Es täte ihm leid, wenn es von seiner Seite aus zu Verletzungen oder Vorwürfen gekommen sei, er wollte nur schonungslos auch für die SPD eventuell unangenehme Dinge aus seiner Sicht darstellen. Es kann zu Fehlern gekommen sein, aber das gilt auch für die SDP-Gründer! Bahr hat Böhme erst sehr spät kennengelernt, das erwähnte Gespräch fand statt im Dezember 1989. Übrigens ist der Abbruch der Kontakte zur SED bzw. zu Axen als SDP-Forderung nie zu [Seite der Druckausgabe: 150] Bahr gedrungen. Hätte man davon gehört, hätte man im Parteipräsidium der SPD ernsthaft darüber diskutiert. Warum wurde im November 1989 nicht geschossen? Die historische Wahrheit darüber ist bis jetzt unbekannt. Einen so verdienstvollen Mann wie Gyula Horn aus Ungarn, der in seinem Bereich den Eisernen Vorhang öffnen ließ, gibt es für die DDR nicht; gäbe es jemanden, der sagen könnte: "Ich habe den Befehl gegeben, die Mauer zu öffnen!" bekäme er das Super-Bundesverdienstkreuz mit allem Drum und Dran. Den Befehl, nicht zu schießen, konnten nur die Befehlshaber geben. Diese standen sicherlich unter dem Einfluß, daß Gorbatschow vorher den Beistand der Roten Armee abgesagt hatte. Diese Absage bedeutete, daß die NVA-Befehlshaber das blutige Ende allein hätten ausfechten und verantworten müssen. In diesem Moment zeigten die Demonstrationen von Leipzig, die bei weitem bedeutsamer waren als die Berliner Demo vom 4.11.1989, ihre Wirkung. Das alles hat zusammengewirkt, so daß man sagen kann: "Die Opposition hat ihren Anteil, aber der ist nicht so groß, wie die Opposition selber glaubt!" Aus Bahrs Sicht hat die SED-Opposition, so feige sie womöglich war und so schwer sie es auch hatte, ebenfalls ihren Anteil am unblutigen Ende der DDR. Hilsbergs Losung "Entmachtung der SED!" war das Ziel der gesamten sozialdemokratischen Deutschlandpolitik, welches mit zum Teil vielleicht unzureichenden Mitteln verfolgt wurde. Bahr lebt "in der Ungnade der frühen Geburt" - anders als viele Oppositionelle und Zeithistoriker wie Garton Ash [ Fn.3: Das zum Zeitpunkt des FES-Kongresses gerade neu erschienene Buch von Timothy Garton Ash: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München, Wien 1993, fand im Verlauf der Debatten große Beachtung, insbesondere das Kapitel: "Eine zweite Ostpolitik", S. 457 - 502, welches die sozialdemokratischen Bemühungen in den 80er Jahren beschreibt.] kann er sich noch nur zu genau an den 17. Juni 1953 erinnern. Wahrnehmung und Verarbeitung dieses unauslöschlichen Eindrucks sind bei ihm und seinen Altersgenossen eine andere als bei der jüngeren Generation, und dieser Unterschied führte [Seite der Druckausgabe: 151] eben zur Wahl verschiedener Mittel im Umgang mit dem SED-Regime. Bleibt die Frage der SED als Teil der deutschen Arbeiterbewegung. "Was denn sonst!?" Der Versuch der Einwirkung auf die SED erfolgte vor dem Hintergrund wie auch immer veränderter sozialdemokratischer Traditionen in dieser Partei. Die Einwirkung konnte nur erfolgen, wenn man der Partei, für die es nichts Schlimmeres gab als den Vorwurf des "Sozialdemokratismus", zugestand, ein Teil der Arbeiterbewegung zu sein. Im Streitpapier hat die SED das unterschrieben, und die interessierten Leute inner- und außerhalb der SED sollten sich darauf berufen können. Noch einmal zu Böhme: Bahr versteht nicht, daß die SPD vor diesem Mann nicht gewarnt worden ist. Man konnte als Wessi nie wissen, ob man es mit der Stasi zu tun hatte, wenn man einem vermeintlichen Oppositionellen gegenübersaß; die Opposition war für die Stasi ein offenes Buch. Aber am Ende zählt das Ergebnis - und das ist erfreulich. Margot von Rennesse: Die Schwierigkeit der "zweiten Phase der Entspannungspolitik" auf der Ebene der beiden Parteien war doch, daß man für die SED eine Wandlungsfähigkeit voraussetzte, die an deren Macht und Identität gerüttelt hätte. Führte die unterstellte Reformfähigkeit nicht dazu, daß man in dem Begriffspaar "Wandel durch Annäherung" den Wandel aus den Augen verlor? Hans-Jochen Vogel: Er hat sich zu Wort gemeldet, weil er für diese Phase als Fraktions- und Parteivorsitzender verantwortlich war. In der Diskussion zum Streitpapier sind bis jetzt nur anfechtbare Zitate vorgetragen worden. In dem Papier stehen allerdings auch Sachen, die für die DDR höchst problematisch waren und - diese Bedingung spielte für die SPD eine erhebliche Rolle - trotzdem im "Neuen Deutschland" in Millionenauflage veröffentlicht wurden:
[Seite der Druckausgabe: 152]
Die Brisanz solcher Textstellen erreicht und übertrifft den Stellenwert der KSZE-Schlußakte von 1975. In einer von J. Vogel unternommenen Umfrage haben von 15 Bürgerrechtlern, darunter Propst Falke, Schorlemmer und Richard Schröder, immerhin 13 bestätigt, daß dieses Papier für ihre Arbeit ein wichtiger Plus- und Bezugspunkt gewesen ist. Für die Qualität des Papiers spricht auch eine seit kurzem bekannte Aussage des Stasi-Chefs Mielke, der am 26.4.1989 in einem Gespräch mit führenden KGB-Offizieren die Unterzeichnung durch die SED als einen groben Fehler bezeichnete, weil es der Partei so große Schwierigkeiten bescherte. Richard Löwenthal, aus dessen Feder der Unvereinbarkeitsbeschluß von 1971 stammt, also ein der Kommunistenfreundlichkeit unverdächtiger Mann, gehörte zu den Befürwortern des Streitpapiers. Der Nationenbegriff beruhte, darüber bestand Konsens, auf den vier Säulen: Gefühls-, Geschichts-, Kultur- und Sprachgemeinschaft. Die Frage, wie sich eine Nation oder mehrere Nationen in einem oder mehreren Staaten organisieren, ist von der Geschichte immer wieder unterschiedlich beantwortet worden. Selbstverständlich war für H.-J. Vogel und andere: "Wir halten diese Frage offen!" Vogel hat sich oft genug mit Dissidenten getroffen, so z. B. 1986/87 mit Propst Falke, das waren gewiß keine systemstabilisierenden Veranstaltungen. Sie wurden indes auch keiner größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Formen der Begegnung mit Verantwortlichen der DDR sind ein heikles Thema: Einiges war und ist peinlich, jedoch verlaufen die Grenzen hier nicht zwischen SPD, CDU und CSU, sie verlaufen quer. [Seite der Druckausgabe: 153] In diesem Zusammenhang muß die Frage nach den Stasi-Aufzeichnungen gestellt werden und nach den - unterschiedlich sorgfältig angefertigten - westlichen "Gegenstücken". Wer als westdeutscher Politiker heute über eigene Aufzeichnungen verfügt, tut sich leichter mit verschiedenen Anschuldigungen. [ Fn.4: Vogel verweist hier indirekt auf Garton Ash, dem zur Analyse der Vogel-Gespräche mit den DDR-Machthabern sowohl SED-Unterlagen zur Verfügung standen als auch Vogels eigene Materialien. Der Vergleich zeitigt einige interessante Unterschiede. Garton Ash, S. 489-492.] Das Treffen in Schwante tagte am 7.10.1989. Vogel begrüßte die Parteigründung am 9.10. absichtlich in einer Form, welche irgendeine Art von Bevormundung verhüten sollte. Es ist in der Öffentlichkeit wiederholt übersehen worden, daß das Präsidium der "Sozialistischen Internationale" der SDP auf Drängen Vogels den Gaststatus gewährte, was in der damaligen Situation noch eine hohe Schutzfunktion für die Betroffenen in der DDR beinhaltete. Zu Böhme lagen Vogel keine weiteren Informationen vor. Erste Hinweise wurden zunächst übereinstimmend als haltlos dargestellt. Mit einiger Ironie erinnert Vogel daran, daß Böhme durch die SDP in seine Ämter gewählt wurde - "Er war keine Empfehlung aus dem Ollenhauer-Haus!" Böhme drängte sich übrigens Vogel erstmals ins Bewußtsein durch einen Fernsehauftritt, in dem er mit der SPD des Westens scharf ins Gericht ging, weil diese ihm (Böhme) nicht schon früher geholfen habe, die SDP zu gründen. Außerdem ist der Mann mit seinen verschiedenen Identitäten nicht fertig geworden. [ Fn.5: Diese Ansicht vertritt auch Birgit Lahann: Genosse Judas. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme. Berlin 1992.] Das Tempo der deutschen Einheit und des Einigungsprozesses hat niemand annähernd genau vorausgesehen, auch die SDP nicht, die ihrerseits erklärte: "Im Vordergrund stehen die demokratischen Freiheiten und die Rechtsstaatlichkeit. Die Frage der Staatlichkeit - ein oder zwei Staaten - ist dem nachgeordnet!" Das war der Stand bis in den Januar 1990. Es gab keinen Tempounterschied zwischen den [Seite der Druckausgabe: 154] beiden sozialdemokratischen Parteien - und es bestanden auch kaum Differenzen zwischen Vogel und Kohl in der Bundestagsdebatte vom November 1989. Auflösungen kamen erst später. Auf dem Berliner Parteitag war nicht so sehr die Arbeit am neuen Programm bedeutsam, sondern vielmehr die deutschlandpolitische Entschließung, als man darüber debattierte, ob die Übergangsentwicklungen "schließlich auch" oder "vielleicht auch in einer Republik" enden könnten. Die Betonung des Friedensthemas durch die SPD hat dazu geführt, daß die harte innere Repression schwieriger wurde. Der Widerspruch zwischen dem Anschein außenpolitischer Liberalisierung, den sich die DDR zu geben suchte, und der innerstaatlichen Unterdrückung hat doch den Prozeß von 1989 mit verursacht. Entscheidend hier wie auch beim Streitpapier war Egon Bahrs Frage: Für wen war die Ansteckungsgefahr größer? Für die Sozialdemokraten nicht! Und weil dies so war, hat Vogel das Papier trotz anfänglicher Bedenken konsequent vertreten können. Im Gedenken an den unblutigen Übergang sollten zwei Aspekte geltend gemacht werden.
Heinz Timmermann: Die SPD als "Partei der Freiheit" (W. Brandt) hätte vor 1989 doppelgleisig - auf der Basis der KSZE-Schlußakte - arbeiten und mehr Signale an die Dissidenten in Osteuropa geben müssen. Das hätten die Regierenden, die auf gute Westkontakte an [Seite der Druckausgabe: 155] gewiesen waren, toleriert. Im Osten gibt es heute noch Mißtrauen gegenüber Sozialdemokraten, und die dortigen wenigen Sozialdemokraten sind so erfolglos auch, weil unter anderem die Erfahrung gemacht wurde, daß westliche Sozialdemokraten zu sehr auf untergehende Kräfte setzten. Das ist keine Kritik an der Politik Egon Bahrs, die richtig und notwendig war, sondern eine Lehre für die Zukunft. Tilman Fichter: Es gibt gewiß generationsspezifische Sichtweisen. Die Wehner-Rede vom 30. Juni 1960 ist in der Partei damals nicht diskutiert worden. Mit ihr wurde die Lebensgeschichte von 15 Jahren Kampf für die Einheit storniert. Das mangelnde Nationalbewußtsein der Partei heute hängt zusammen mit diesem Bruch der Parteigeschichte. Die gesamtdeutsche Tradition Wehners war auf der Grundlage seiner frühen kommunistischen Biographie autoritär; da darf man sich heute über Irritationen bei der jüngeren Generation nicht wundern. Eine zweite Bruchstelle ist der Verbleib Helmut Schmidts im Dezember 1981 in der DDR, als das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde. Das war friedenspolitisch sicherlich richtig, aber es bedeutete zugleich einen eklatanten Verstoß gegen die internationalistische und freiheitliche Tradition der SPD. Der Dialog mit den Herrschenden erschien wichtiger als das Engagement für die Freiheit - und deswegen haben viele Sozialdemokraten gar keine Beziehung mehr zur Freiheit. Hier ist sozialdemokratisches Bewußtsein zerstört worden, und man muß die Frage stellen, welche Kosten diese Politik in der Partei verursacht hat mit Blick auf ihre nationale und ihre freiheitliche Tradition. Bahrs Ansatz von Politik war etatistisch, eine Art staatliche Friedenspolitik, die sich schwer tat mit menschlichen Hoffnungen und Bedürfnissen und dem Freiheitskampf. Aus den PDS-Akten geht hervor, daß zwei Genossen wußten, wo die Grenzen liegen: Eppler und Vogel. Alle Ministerpräsidenten betrieben bis 1989 eine unerträgliche Kumpanei. [Seite der Druckausgabe: 156] Egon Bahr: Die Schwierigkeit der Doppelgleisigkeit nach Helsinki 1975 lag darin, in Osteuropa überhaupt ansprechbare Oppositionelle zu finden. Man sollte dabei den Blick nicht auf die DDR einengen, wo die Entwicklung ohnehin erst sehr viel später einsetzte. Bahr hat ebenso wie Hans Koschnick in der Sowjetunion alle Oppositionellen, die es gab, aufgesucht und auch den Herrschenden Bescheid gesagt. In der Opposition der Sowjetunion herrschte allerdings eine ungeheuer große Fluktuation, so daß man auf sie nicht bauen konnte - am Ende kamen alle Reformansätze von oben. Signale der Ermutigung waren im großen Ausmaß nicht notwendig, denn Bahr hat in der früheren DDR und heute in Ostdeutschland wiederholt die Erfahrung gemacht, daß die Menschen seine Intentionen verstanden haben. Das zeigt auch die Aufgeschlossenheit, mit der man ihm heute begegnet. Das aktuelle Mißtrauen gegen Sozialdemokraten in Osteuropa erklärt man sich hier im Westen mit der Überlegung: Wenn Kommunisten sich nach rechts bewegen, treffen sie zwingend auf Sozialdemokraten. Diese Annahme ist falsch! Fällt heute das Wort "sozial...", hören die Leute in Osteuropa nicht mehr zu, sie differenzieren nicht mehr, weil sie die Nase voll haben von dem, was man ihnen früher aufgetischt hat. Das ist ein Wellental, doch die Sozialdemokraten werden wieder aufkommen, denn die Krise des Kapitalismus ("Ich bin kein Marxist!") herrscht nun auch im Osten. Wehners Rede von 1960 war kein Bruch, und sie bereitete den Genossen, die für die Einheit gekämpft hatten, keine Enttäuschung, sie war vielmehr nach der verheerenden Wahlniederlage von 1957 die erforderliche Anpassung an die Realität. Wenn man nur die Politik des Wünschbaren betreiben wollte, hätte Wehner seine Rede nicht halten dürfen. Dann wäre überhaupt alles viel einfacher. Hätte die SPD ihre Politik von vor 1959 einfach fortgesetzt, hätten die Wähler sie sehr rasch für unrealistisch gehalten, und die SPD wäre nie regierungsfähig geworden und nie in die Lage gekommen, die Ostpolitik durchzuführen. [Seite der Druckausgabe: 157] Realität war 1961 die Anweisung durch die drei Westmächte, die deutsche Polizei zum Schutz der Mauer einzusetzen. (Empörte Zwischenrede von Tilman Fichter: So etwas hätten Franzosen oder Polen nie getan!) Gewiß, die Deutschen sind keine Polen oder Franzosen, sie können keine Partisanenbewegung aufziehen. Um Politik machen zu können, muß man die Menschen akzeptieren, wie sie sind, nicht, wie man sie sich wünscht. So hat das auch Kurt Schumacher gesehen, als es um die Frage ging, ob man den Protest gegen die Einbindung in ein westliches Verteidigungsbündnis ohne die Wiedervereinigung auf der Straße organisieren solle. Das war verantwortungsbewußt gegenüber der SPD. Fichters Vorwurf, Bahr habe sich schwer getan mit menschlichen Bedürfnissen und Hoffnungen, ist unglaublich und beleidigend. Seit seinen frühen Tagen in Berlin hat Bahr nichts anderes unternommen, als Menschen zu helfen. Nichts sonst! Bernd Faulenbach: Wurde, mit Blick auf die letzte Phase der Ostpolitik, die Reformfähigkeit der DDR und des Ostens nicht überschätzt? Gab es überhaupt ein realistisches Bild von der DDR, und hing dieses Bild nicht auch zusammen mit der Ostpolitik und ihrer Praxis sowie den spezifischen Erfahrungen ihrer Macher, die, um gewisse Dinge zu erreichen, andere - trennende - ausblenden mußten, so daß in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft eine nicht mehr ganz realistische, unkritische Wahrnehmung entstand? Garton Ash operiert anstelle des Begriffspaars Wandel durch Annäherung oft mit Stabilisierung bzw. Liberalisierung. Der Begriff Stabilisierung müßte von Egon Bahr präzisiert werden. War die Intention der Ostpolitik tatsächlich Liberalisierung? Hätte sie sich damit nicht übernommen, da sie doch erst die Voraussetzungen für eine Liberalisierung hätte schaffen müssen? Bewirkte der Verzicht auf eine Destabilisierung dagegen nicht die Zementierung der Systeme im Osten? War die Dominanz der Sicherheitspolitik als zentraler Aufgabe außenpolitisch hinreichend verzahnt mit der Frage der Menschen [Seite der Druckausgabe: 158] rechte und der nationalen Frage? Wer über Menschenrechte sprach, erschien in den 80er Jahren gelegentlich wie einer, der den Frieden nicht genügend ernst nehme. Egon Bahr: Gewiß hat er die Reformfähigkeit des Ostblocks überschätzt, Gorbatschow aber auch. Nur: beide haben keinen anderen Weg gesehen. Bahr konnte sich die Abschaffung der Sowjetunion nicht vorstellen, er ging von ihrer langen Existenz aus, und das hieß wiederum, es würde auch lange Zeit eine DDR geben. Deshalb sah er in der Schaffung einer stabilen europäischen Sicherheitsordnung die Voraussetzung für eine eventuell mögliche deutsche Einheit. Der Weg der gewaltsamen Niederringung der Sowjetunion konnte nicht der richtige sein; Hoffnung auf eine langsame, "bedingte Liberalisierung" war daher die von Bahr gesehene einzige Möglichkeit der Einwirkung. Zwischen Bahrs Betrachtungsweise und der Garton Ashs bestehen einige Unterschiede. [ Fn.6: Siehe auch Egon Bahrs Rezension zu Garton Ashs Buch: "Nicht mehr erpreßbar", in: "Die Woche", Nr. 35, 26.8.1993.] Jener als Brite sieht manches differenzierter und weniger bösartig. Aber: Ash gehört als Brite zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und kommt von daher zu einer ganz anderen Betrachtungsweise. Die Bundesrepublik mußte statt dessen Politik immer aus der Position des Schwächeren, des Besiegten, betreiben und durfte das eigentliche Ziel der Ostpolitik - die Abschaffung des Kommunismus - nie laut herausposaunen. Stabilisierung und Aufweichung waren nebeneinander notwendig. Die erste Stabilisierung begann mit dem Interzonenhandel seit Anfang der 50er Jahre. Viele Menschen aus der "Zone" forderten sofort dessen Abbruch, doch Adenauer entschied sich zu Recht dagegen unter dem Gesichtspunkt, die DDR nicht in eine noch größere Abhängigkeit vom Osten geraten zu lassen, sie vielmehr in eine ökonomisch hervorgehobene Sonderrolle zu bringen, sie mithin zu stabilisieren. Diese Form der Stabilisierung hat sich bis zum Schluß durchgezogen, und auch Kohl hat daran nichts geändert. [Seite der Druckausgabe: 159] Garton Ash bezeichnet das mit negativer Betonung als Realpolitik mit Scheck und Telefon. Den Vorwurf akzeptiert Bahr ganz und gar nicht. Was denn anderes sollten die Deutschen in Ost und West tun, als sich anzupassen? Ashs zentraler Vorwurf lautet: Die Deutschen behaupteten, im Namen Europas zu handeln, doch tatsächlich haben sie nur die Interessen der Nation verfolgt. Das ist falsch, weil alle Parteien in Deutschland wußten, daß ohne Einbindung in den europäischen Rahmen nichts zu erreichen ist. Im Verfolg der Sicherheitspolitik ist das Beharren auf Menschenrechten nach außen zu wenig deutlich geworden. Bahr hat sich drei Jahre für Sacharow eingesetzt und ihm genausowenig helfen können wie Jimmy Carter. Bahr hat sich ebenso für Lew Kopelew engagiert, "Solschenyzin haben wir rausgekriegt". Doch zu keiner Zeit wurden solche Bemühungen öffentlich und lautstark betrieben, um andere Einwirkungsmöglichkeiten nicht zu gefährden. Es gab hier in der SPD eine Aufgabenteilung, und es konnte zu Recht der Eindruck entstehen, daß zu selten Menschenrechte angesprochen wurden. Gert Weisskirchen: Als Anfang der 80er Jahre die gemeinsame atomare Bedrohung der beiden deutschen Staaten bewußter wurde, entstand eine Strömung, die die Frage "Jalta" neu stellte und zu blockübergreifenden Ansätzen kam. Kelly und Bastian gehören in diesen Zusammenhang. Diese Leute redeten nicht mehr über die Blockkonstellation, sondern sie wollten aus der Betroffenheit der Bedrohung mit osteuropäischen Gruppen solidarisch sein und mit ihnen ein lockeres Netzwerk errichten. Das war erst möglich durch die Entspannungspolitik, doch es kam ein neues Element hinzu, welches den Entspannungsbegriff betrifft: die Erinnerung, daß "Jalta" eine künstliche Trennung in Europa hervorrief. Notwendigerweise stellten Menschen, die für Freiheit und Demokratie kämpften, die Stabilitätsfrage anders, so daß hier eine Kollisionsgefahr entstand, die zwar schließlich gewaltfrei aufgelöst wurde, die gleichwohl sehr unterschiedliche Reaktionen mit sich führte. [Seite der Druckausgabe: 160] Deshalb dürfen zukünftig keine statischen Begriffe mehr benutzt werden. Stabilität kann nur dann möglich sein, wenn sie in sich Demokratie und Freiheit zuläßt. Der alte Stabilitätsbegriff ist nicht mehr angebracht, wenn Menschen "von unten" ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Elisabeth Weber: Der Konflikt wird immer dargestellt als einer zwischen Realpolitik und Moral: Für Realpolitik steht die SPD, für Moral die Dissidenten. Das stimmt so nicht, denn die Solidarnosc war zugleich moralisch und realpolitisch, als sie ab 1987 nach der Rede Gorbatschows den Fall der Mauer vorhersagte. Warum hat die SPD diese Krisenzeichen nicht gesehen und statt dessen einseitig auf Stabilität gesetzt, "warum hat sie Lafontaine nicht darauf vorbereitet, daß diese Systeme nicht ewig sein werden?" Manfred Uschner: Das Streitpapier hatte in der SED nachweislich eine Wirkung: Es wurden 20.000 Funktionäre "umgesetzt", 63.000 Mitglieder wurden allein in den ersten Monaten des Jahres 1989 "entfernt". Egon Bahr hat immer eine doppelgleisige Politik betrieben, er hat den Osteuropäern auch das Ende vorausgesagt, er hat vielen Dissidenten geholfen und zugleich von den Kontakten anderer Sozialdemokraten zur Opposition gewußt und sie gedeckt. Das Streitpapier hat mit dem Satz, wonach beide Systeme reformierbar sein müssen, die Wirkung von Gorbatschows Politik in den Köpfen der SED-Reformkräfte erheblich verstärkt. Die SED-Mitgliedschaft hat die Wende 1989 auch aus Feigheit nicht mitgetragen, aber sie hat sie über sich ergehen lassen und nicht verhindert. Egon Bahr wußte, was an diesem Tag an Sicherheitsapparaten in der DDR zur Verfügung stand und nicht zum Einsatz kam. Krenz und Masur waren nicht beteiligt an der Verhinderung des Schießbefehls, das waren die Sowjets, die wußten, was im Krisenzentrum an der Normannenstraße vor sich ging. [Seite der Druckausgabe: 161] Hermann Klag: Im Konferenzthema und in Bahrs Referat werden die großen Leistungen der Sozialdemokratie zur deutschen Frage seit 1945, insbesondere Schumachers Verdienste, zu wenig berücksichtigt. Bahrs Sichtweise ist zu harmonisch, da er seine "Rede über das eigene Land" (München 1988) übergeht, in der er, Brandts Wort von der Wiedervereinigung als Lebenslüge der BRD aufgreifend, dazu aufforderte, Deutschland solle sich mit der Zweistaatlichkeit begnügen. Das war der Bankrott sozialdemokratischer Deutschlandpolitik! Rupert Schröder: Obwohl es in Prag seit 1977 mit der Charta 77 eine stabile Oppositionsbewegung gab, hat die SPD deren Anstrengungen lange Zeit nicht richtig gewürdigt und nie ausreichend unterstützt. Das erklärt die auch heute noch vorherrschende Verbitterung in Kreisen, die ursprünglich sozialdemokratischen Ideen nahestanden. Helmut Rohde: Wenn man diese Diskussion, wie geschehen, nur vor dem Hintergrund der eigenen sozialdemokratischen Erfahrungen führt, läuft man Gefahr, die Strömungen und Einwirkungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Einfluß hatten auf Deutschland, zu vernachlässigen. Nach 1945 mußte Kurt Schumacher unter den Bedingungen der Besatzungszonen und mangelnder Selbständigkeit den sozialdemokratischen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung und Existenzsicherung zu verwirklichen suchen. Schumachers "Nationalismus" setzte sich zur Wehr gegen den imperialistischen Anspruch des Stalinismus und hatte daraufhin dem Westen klarzumachen, daß dieser Druck nur auszuhalten war, wenn Schritte zur demokratischen Selbstbestimmung eingeleitet wurden. Er wollte damit den Deutschen in allen Teilen ihre Verantwortung für Deutschland vor Augen führen, da diese gerade dabei waren, sich in den Regionalismus zu flüchten. Mit dieser Politik hat sich Schumacher durchgesetzt. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges, in dem die großen Mächte Deutschland zum militärischen Vorfeld ihrer Strategien [Seite der Druckausgabe: 162] machten, mußten Sozialdemokraten sich fragen, wie Frieden gesichert und der Zusammenhalt der Deutschen erreicht werden konnte. Wehner hat sich, so kannte ihn Rohde, immer abgesichert, also auch 1960. In der Partei und in der Bevölkerung war lange nach einem neuen Weg gesucht worden, den Wehner dann aufzeigte, als er seine Rede hielt und damit auch die Voraussetzungen für die spätere Entspannungspolitik schuf. Mit kritischer Distanz sieht Rohde, anders als Bahr und Vogel, die letzte, wiederum weltpolitisch bestimmte Phase, in der es unter Breschnew zu einem verkrusteten Status quo der internationalen Lage kam. Nichts ging mehr, außer im Bereich der sowjetischen Aufrüstung. Auf diese Periode zurückschauend, konnte die "Status-quo-Politik" der SPD nicht die einzige Antwort sein! Das Hineinfühlen in weltpolitische Bedingungen wie bei Schumacher, Wehner, Brandt und Schmidt war in den 80er Jahren nicht sonderlich ausgeprägt. Wäre das anders gewesen, hätte man nach der Wende 1989 leichter in die nationale Frage hineingefunden. Egon Bahr: Rohde hat natürlich Recht mit seinem Verweis auf die weltpolitischen Rahmenbedingungen, aber das war nicht das Thema, welches man Bahr gestellt hat. Das gestellte Thema war so schon umfassend genug, weswegen sich Bahr auf die ihm wichtig erscheinenden Punkte konzentrierte. Das erklärt einige angemahnte Lücken. Bahr gehörte zu den letzten, die an die deutsche Einheit unter den zuvor gegebenen Voraussetzungen geglaubt haben. Die Vollendung der Europäischen Union 1992 hätte unter normalen Bedingungen die deutsche Einheit unmöglich gemacht, weil sie dann theoretisch nur noch in der Form des Anschlusses möglich gewesen wäre, den die Sowjetunion verhindert hätte. Der letzte Versuch zur deutschen Einheit waren die zwei Friedensverträge. Das war der Hintergrund für 1988. Die SPD hat seit den 50er Jahren immer wieder die Krisenzeichen gesehen, wiederholt wurde der Zusammenbruch vorausgesagt, der aber erst kam, als niemand mehr daran glaubte. Eigentlich hätte die [Seite der Druckausgabe: 163] Sowjetunion früher zusammenbrechen müssen, wenn es nach marktwirtschaftlichen Kriterien gegangen wäre. Da das nicht eintrat, kam man zu der Auffassung, die Regime seien nur von innen heraus aufzuweichen. Niemand hat die Implosion vorausgesagt, diesem allgemeinen Irrtum der Welt sind auch die Sozialdemokraten erlegen. Warum reden die Sozialdemokraten immer nur über ihre Probleme und Schwierigkeiten, nicht aber über ihre großen Erfolge? Die Diskussion dieses Tages war so ungeheuer gut, weil es sich nach sozialdemokratischer Tradition gehört, daß man eigene Fehler mindestens ausspricht. Dabei stellt sich heraus, daß es keine Sache gibt, zu der man nicht zwei Meinungen findet. Die Historiker kennen das Ergebnis der Geschichte, die Handelnden nicht. Warum ist die Opposition in Osteuropa gescheitert? In der SU, weil es sie dort nicht gab, ebensowenig in Rumänien und Bulgarien. In Polen und der CSSR ist sie nicht gescheitert. In der DDR ist sie gescheitert an ihrer Schwäche und ihrer mangelnden inneren Geschlossenheit. Sie war nicht fähig, eine gemeinsame Politik zu formen. Der größere Teil der Opposition war zudem orientiert auf eine Reform der DDR im Sinne des demokratischen Sozialismus und wurde fortgeschwemmt von dem Wunsch der Mehrheit der Menschen in der DDR nach Einheit. Der erste, der das erkannte und das brutal, mit Glück und Mut genutzt hat, war Helmut Kohl. Er hatte die Vereinigung ebenfalls schon aufgegeben, er verfügte indes über den Instinkt, vor allen anderen zu denken: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Das war insofern falsch, als da nicht zusammenwuchs, was zusammengehört, sondern was zusammenfiel. Im April oder Mai 1990 hat noch kein Oppositioneller an den 3.10.1990 als Termin der deutschen Einheit gedacht, daran ist die Opposition gescheitert. Gert Weisskirchen ist zuzustimmen: Es gab einen nationalen Impuls unter dem Gesichtspunkt der atomaren Bedrohung, mehr noch: Das war nicht nur blockübergreifend. Mit den Ideen der Palme-Kommission und den von ihr ausgehenden Friedensmärschen, die [Seite der Druckausgabe: 164] gerade für die Formierung der DDR-Opposition eine so große Bedeutung hatten, haben wir benutzbare Vorlagen geliefert. Ein anderer Punkt Weisskirchens ist wichtig, der in die Zukunft führt, zum Thema Stabilität. Das war kein abstrakter Begriff, sondern der Prozeß der Veränderung, so wie sie von uns angestrebt wurde, sollte nicht unkontrollierbar werden. Das war die Angst vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1953, 1956, 1961,1968. Wenn es eine ungesteuerte Revolution gegeben hätte, wäre es zu einem Blutbad gekommen, ohne ein Eingreifen des Westens, außer ein paar Protesten. Der intendierte Prozeß der Veränderung erschien dagegen als ein verantwortbares Risiko. Ein anderer Aspekt: Stabilität ist gleichbedeutend mit den Staaten als Subjekten der Politik, darauf basieren die Charta der Vereinten Nationen und die KSZE-Schlußakte, weil es nichts anderes gibt. Beide beruhen auf der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten. Es gibt bis jetzt kein anderes internationales System außer dem, daß die Staaten mit ihren Menschen machen können, was sie wollen. Abgesehen von Protesten, läuft da nichts. Dann kam eine neue Lage, als das Weltgewissen nicht mehr ertragen konnte, was Saddam Hussein mit den Kurden machte; da hat man unter Bruch bisher bestehenden Völkerrechtes gesagt: Wir richten eine Schutzzone ein. Das hätte man andernorts schon früher machen müssen, aber da liefen keine Fernsehkameras. Über die Kurden in der Türkei spricht niemand, weil die Türkei NATO-Mitglied ist. Das Problem der Kroaten wird auch nicht beachtet. Die Weltgemeinschaft macht den schweren Versuch der Kodifizierung, unter welchen Voraussetzungen das Recht auf Selbstbestimmung, Sezession und Autonomie, Minderheiten- und Menschenrechte das bisher geltende Staatenrecht überlagert oder einengt. Für die SPD wäre es wichtig, auf diesem Gebiet nach vorne zu denken. [Seite der Druckausgabe: 165] Diskussion zu den Referaten von Thomas Meyer und Stephan Hilsberg: "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Zur Diskussion um das Streitkultur-Papier von SPD und SED
Markus Meckel: Die Reaktion auf das Erscheinen des Streitkultur-Papiers 1987 war in der Opposition nicht einheitlich, das lag zum Teil daran, daß die hohe Auflage des "Neuen Deutschland" nicht gelesen wurde. Meckel selbst hat im August 1987 ausgesprochen positiv reagiert, da er den Text als kommunikatives Papier verstand, d. h., er hätte nicht jeden einzelnen Satz vorbehaltlos unterschrieben, über das eine oder andere hätte man diskutieren müssen. Insgesamt war es aber richtig, dieses Papier zu machen, obwohl seine Wirkung außerordentlich kurz war, vom August bis November 1987, also bis zu den Vorgängen um die Umweltbibliothek im November, und bis zu den Verhaftungen im Januar 1988 nach der Luxemburg-Demonstration. Das war der Einschnitt. Darauf hat die Grundwertekommission der SPD reagiert, nicht aber die Partei, von der Meckel eigentlich eine deutliche, scharfe Antwort erwartet hatte. Die Auswirkungen innerhalb der SED sollte man nicht unterschätzen; daß es zu Diskussionen in den Parteigruppen kam, war positiv. Trotzdem ist das Papier in seiner Wirkung gescheitert, denn die SED hat sich nicht verändert. Uschners Beitrag war dafür bezeichnend: Wer sich mit dem Streitpapier "infizierte", wurde gefeuert, versetzt. Daß man den Versuch gemacht hat, war in Ordnung, aber die Wirkung auf die Wende war gering. Es wäre schön, wenn es sie gegeben hätte, aber es hat auch ohne geklappt. Egon Bahr: Hilsberg formuliert sehr zugespitzt, wenn er sagt, das Papier habe geschadet, denn Bahr glaubt nicht, daß Steffen Reiche der SDP schaden wollte, als er im Oktober 1989 5.000 Exemplare des Streitpapiers vom Ollenhauer-Haus abgefahren hat. [Seite der Druckausgabe: 166] Bahr stimmt der Beschreibung von Hilsberg zu über die Realität in der DDR, den Machtapparat der SED, die Verfassung mit dem Führungsanspruch der Partei. Deswegen war die Schutzfunktion für die junge SDP, von der auch Vogel gesprochen hat, so notwendig. Hier widersprechen sich die Aussagen von Hilsberg und Meckel. Das Streitpapier war nicht einklagbar, Helsinki auch nicht! Knackpunkt ist jedoch Hilsbergs These, wonach die Oppositionsgruppen wirksamer waren als die ganze zweite Phase der Entspannungspolitik. Das ist ungeheuer egozentrisch, weil diese Gruppen damals nicht die Möglichkeit hatten, die Welt zu sehen. Margot von Rennesse: Der Ansatz der SPD war die Hoffnung auf einen Reformprozeß in der SED. Übrig geblieben ist - vielleicht - ein Berufungstatbestand für Oppositionen, und dieser blieb vielfach nur punktuell. Hat die SPD nicht vieles, auch das Streitpapier, vor dem Hintergrund von Täuschung und Selbsttäuschung unternommen? Parteitaktisch war das Papier wegen seiner Ambivalenzen nicht sonderlich vorteilhaft. Heinz Timmermann: Während einer Freudenberger Folgekonferenz wurde das Papier in der Diskussion mit Franzosen, Italienern, denen es zu deutsch-deutsch erschien, mit Russen, Polen, Ungarn und Tschechen europäisiert. Dabei stellte sich heraus, daß die SED-Delegation in sich uneins und von den anderen völlig isoliert war. Die Sowjets hielten den Text wegen der in ihm festgeschriebenen Polarisierung für überholt; es sei an der Zeit, die gemeinsamen Elemente zwischen Ost und West herauszufinden. Anfang 1990 erzählte der sowjetische Vertreter Heinz Timmermann, die Freudenberger Ergebnisse hätten in den Auseinandersetzungen um das neue KPdSU-Programm eine große Rolle gespielt und in der Erarbeitung eines sozialdemokratischen Selbstverständnisses herausgestellt, wie stark die KPdSU in sich gespalten war bzw. dadurch gespalten wurde. [Seite der Druckausgabe: 167] Ulrich Schacht: Verwunderlich ist die methodologische Naivität auf der Grundlage eines gigantischen Verdrängungsprozesses, den die SPD und die westdeutsche Gesellschaft durchgemacht haben. 1966, anläßlich des geplanten Redneraustausches, war schließlich die Pointe dieselbe wie 1987, nur daß die SPD - und das ist der die sozialdemokratische Identität vernichtende Rückschritt - die SED seinerzeit viel schärfer anging, während sie 1987 dem System Reformfähigkeit bescheinigte. Es wäre sinnvoll, alle Protokolle, Aufzeichnungen usw. von 1987 und 1966 veröffentlicht nebeneinanderzustellen, um zu demonstrieren, welche Tonart, Zuspitzung, Analysefähigkeit, Tiefenschärfe 21 Jahre zuvor möglich waren. Wichtig war die Argumentationsnot der SED und nicht die unmittelbare Erfolgskonsequenz. Dieses neuere Do-ut-des-Prinzip ist übrigens völlig unpolitisch, unkreativ und setzt einen total reduzierten Politikbegriff voraus. Es wäre ein Kurzschluß, das Streitpapier als Ursache zu bezeichnen, es war gleichwohl ein wesentlicher Punkt für die Desorientierung des sozialdemokratischen Wählerpotentials in den neuen Bundesländern und hat die Sozialdemokraten um den verdienten Sieg gebracht. Egon Bahr: Der Briefwechsel von 1966 war bewußt ein Teil des Kalten Krieges, und deshalb wurde die scharfe Tonart so gewählt, wie sie gerade in Erinnerung gerufen wurde. Doch sie führte zu nichts, außer zu einer Vertiefung der Spaltung und zur Stabilisierung des Regimes. Man kann 1966 nicht mit 1987 vergleichen, weil einerseits der Grundlagenvertrag dazwischen steht und andererseits kurz vor Honeckers Besuch 1987 der 1966er Ton sehr komisch gewesen wäre. Manfred Uschner: Zur Brisanz des Streitpapiers für die zerfallende SED muß man wissen, daß 1989 53% der SED-Mitglieder aus sozialdemokratischen Traditionen stammten. Zugleich war "Sozialdemokratismus" der Hauptfeind der Partei und der Stasi, auf den mit massiven Repressionen reagiert wurde. Mitte 1988 denunzierte Mielke [Seite der Druckausgabe: 168] Axen, das Streitpapier bewirke die Aufweichung des Funktionärsbestandes; daraufhin wurden zahlreiche Genossen gefeuert! Stabilisiert hat das die seit dem Winter 1988/89 gelähmte SED nicht, im Gegenteil: Die Maueröffnung erfolgte nicht zuletzt wegen der Angst des Politbüros vor einer Lösung wie 1953 oder 1968. Wenn Leute wie Ehmke und andere sich unter den Augen der Stasi mit Oppositionellen trafen und gleichzeitig offizielle Verhandlungen liefen, dann war das so etwas wie Doppelgleisigkeit und Zukunftsarbeit. Karsten Voigt hielt vor der "Drill- und Sortiermaschine" Parteihochschule Karl Marx einen Vortrag über das Verhältnis von sozialdemokratischer Reform- und Friedenspolitik. Dabei betonte er, die SPD wolle Reformen in ganz Europa herbeiführen und sie werde nicht ablassen von den Freiheitsrechten. Aufgetreten sind Sozialdemokraten überall. Hartmut Soell: Die Grundzüge der Streitkultur sind nicht allein in der Grundwertekommission ausgearbeitet worden. Es gab zum Beispiel im Landesverband Baden-Württemberg Anfang 1986, im Zuge der Antragsberatung zum Bundesparteitag in Nürnberg, schon eine entsprechende Diskussion allgemeinerer Art über die Kriterien des Dialogs zwischen Ost und West. In der Bundestagsfraktion wurde der Text sofort nach Erscheinen lebhaft besprochen, danach hat er keine Rolle mehr gespielt. Die Schaffung einer Plattform für die sich reformierenden Gesellschaften im Osten ist im europäischen Rahmen seit 1987 betrieben worden, der Europarat dachte da zunächst an Polen und Ungarn, auch an Jugoslawien. 1989 wurde der Gaststatus geschaffen, und im Frühjahr sprach Gorbatschow vor dem Europarat. Kurzum: die SPD und andere verfolgten nicht nur die deutsch-deutsche Sicht. Stephan Hilsberg: Egon Bahr unterliegt einem Mißverständnis, wenn er Hilsberg unterstellt, dieser habe die Oppositionsgruppen in der DDR für wirksamer gehalten als die zweite Phase der Entspannungspolitik. Richtig ist: Die inspirierende Wirkung der Solidarnosc [Seite der Druckausgabe: 169] war für die oppositionelle Bewegung entscheidender als die zweite Phase der Entspannungspolitik. Ausschlaggebend für die Opposition war die Erfahrung, daß man etwas tun mußte und Hilfe von außen nicht zu erwarten war. Auf diesem Weg stieß man dann an die Staats- und Parteiobrigkeit - und auch an die Obrigkeit der Kirche. Die Opposition ist nicht gescheitert, sie war sich vielmehr über ihren eigenen Charakter nicht klar, anfangs diffus und in großen Teilen, eventuell 80 oder 90 Prozent, daran interessiert, die DDR auf sozialistischer Basis zu reformieren. Entscheidend war der Wille, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen, frei und unabhängig zu sein, was die SED-Diktatur in Frage stellte. Mit der Gründung der SDP wurde darüber hinaus eine neue Qualität erreicht, denn diese Entwicklung fand nicht mehr statt unter dem Schutz der Kirche. Zu den Aufgaben der SDP gehörte anschließend im Vereinigungsprozeß die Interessenvertretung der Ostdeutschen. Es war es wert, die Vereinigung so lange anzuhalten, um den Ostdeutschen bessere Bedingungen auszuhandeln. Vergleicht man die stattgehabten Veränderungen mit den SDP-Zielvorstellungen Pluralität, parlamentarische Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit usw., muß man sagen: Die SPD-Gründer, zu denen Hilsberg gehört, haben alles erreicht, was sie wollten, ihre Politik war ausgesprochen erfolgreich. Thomas Meyer: Sozialdemokratische Ostpolitik hat Frei- und Schutzräume geschaffen für Dissidenten, für Gegen-Öffentlichkeiten in der DDR. Auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen war man 1987 sicher, daß die Gegenseite ein so großes Eigeninteresse an Verhandlungen hatte, daß man ihr nun auch die offensive Auseinandersetzung mit Grundsatzfragen zumuten konnte, die zudem den Rahmen schaffen könnte für Kontakte mit der Opposition. [Seite der Druckausgabe: 170] Dieses Projekt war richtig, keineswegs naiv, denn über Leute wie Agnes Heller oder Jiri Pelikan und deren Kontakte zu Gegen-Öffentlichkeiten in Osteuropa wußten wir von Gorbatschows Einsicht in die Notwendigkeit politischer Liberalisierung als zwingender Vorbedingung für den Weg aus der tiefen ökonomischen Krise. Damit wurden die Spielräume größer und die Chance auf den Ansatz einer Eigendynamik. Den Unterschied zu 1966 bildete 1987 der massive Reformdruck aus der Sowjetunion. Reformen und Liberalisierung waren innere Angelegenheiten; von außen konnte man nur ein bißchen begleitend darauf einwirken und drücken. Garton Ashs These, die Liberalisierungspolitik sei erfolglos geblieben, weil es keine Liberalisierungsreformen gab, ist etwas eindimensional, denn es hat zwischen der 60er und den 80er Jahren deutliche Liberalisierungen im Herrschaftsstil gegeben, und die politische Kultur veränderte sich durch den allmählichen Aufstieg der Oppositionen. Die SED wurde nicht stabilisiert, im Gegenteil entlegitimiert, weil sie die Kraft nicht hatte, die gemachten Zusagen einzulösen. Selbstkritisch ist anzumerken der Mangel an kritischen Worten gegenüber den Machthabern und die geringe symbolische und sichtbare Kontaktaufnahme zu den Oppositionellen. [Seite der Druckausgabe: 171] Diskussion zum Podiumsthema: Über unsere Häupter hinweg? Das Verhältnis der SPD zur kritischen Intelligenz und Opposition in der DDR, in Polen und in der Tschechoslowakei
Im Anschluß an die Vorstellung der Teilnehmer auf dem Podium befragte Gert Weisskirchen als Moderator Janusz Reiter nach dem Verhältnis zwischen den Erfahrungen von Prag 1968 und Polen seit 1980. Janusz Reiter: Die geschichtliche Beurteilung der in den 70er Jahren erfolgreichen Entspannungspolitik ist heute für die SPD wichtiger als für die Polen. Das Konzept ist Anfang der 80er Jahre in Polen an seine Grenzen gestoßen, als man mit dem Aufstieg der Solidarnosc nicht mehr weitermachen konnte wie bisher; wer das versuchte, ignorierte die Realität. Entspannungspolitik mußte auf Stabilität setzen, bewirkte allerdings zugleich Instabilitäten, weil durch sie die Systemwidersprüche des Ostblocks deutlicher hervortraten. Das war dann in Polen besonders drastisch; deshalb hat die Entspannungspolitik den Menschen dort sehr viel gebracht, vor allem eine teilweise Öffnung der Länder: Bis etwa 1970 war Polen ein verschlossenes Land, ohne Alltagsbegegnungen mit Ausländern, ohne die Möglichkeit von Auslandsreisen. In den 80er Jahren wäre es legitim gewesen, der Solidarnosc als echter Bürgerbewegung und Opposition zu sagen: Wir können nicht sehr viel für euch tun, aber wir stehen auf eurer Seite. Wenn das geklärt gewesen wäre, wäre es gleichgültig gewesen, ob die Partner aus dem Westen mit der Solidarnosc oder mit Jaruzelski redeten. Für die Entwicklung spielte möglicherweise ein in Westdeutschland verbreitetes, eventuell auf Bismarck zurückgehendes Vorurteil eine Rolle, nämlich die Polen seien unfähig zur Realpolitik und gefährdeten mit ihrem Tun die Entspannungspolitik. In dieser Lage bot Jaruzelski seine Dienste an. [Seite der Druckausgabe: 172] Ota Filip: Die Kritik aus der CSSR an der Entspannungspolitik ist mit der polnischen nicht zu vergleichen, weil es in Prag ein anderes Schlüsselerlebnis, 1968, gab, als die dortigen Sozialdemokraten von den Reformkommunisten abgeschmettert wurden. Trotz der Nähe zur Idee vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz blieben alle sozialdemokratischen Tendenzen untersagt. Danach gingen die Menschen in einen sehr vielschichtigen Untergrund ohne einheitliche Ansichten. Zur Entspannungspolitik gab es keine Alternative, aber es gab, schlimm genug, von der SPD keine alternative Entspannungspolitik gegenüber den Dissidenten angesichts der Annahme, die politische Lage stabilisieren zu müssen. Das führte Mitte der 80er Jahre wahrscheinlich zu einem mächtigen, heute noch nachwirkenden Rechtsruck in der Prager Opposition. Wer sich heute zur Sozialdemokratie bekennt, wird in Prag nicht akzeptiert; zudem fährt die dortige Partei keinen klaren Kurs. Markus Meckel: Der Begriff "Opposition in der DDR" klingt einheitlicher, als diese Phänomene tatsächlich waren. Nach der Verhängung des Kriegsrechts war die Kontaktaufnahme mit Polen fast unmöglich. Wer mit Material der Solidarnosc in die DDR zurückkehrte, mußte mit Haftstrafen rechnen. Kontakte über Ungarn oder Rumänien waren noch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre außerordentlich schwierig. Es gab keine gemeinsame Arbeit oder Vernetzung. Die Ost- und Entspannungspolitik der 70er Jahre wurde in den meisten Oppositionsgruppen ausdrücklich begrüßt, zumal sie im Interesse der Opposition lag und ebenfalls in weiten Kreisen der DDR-Bevölkerung als nützlich verstanden wurde. Mit der Veränderung der Verhältnisse in den 80er Jahren wurde in der DDR etwas anderes erwartet als die Fortsetzung der bisherigen Politik. Das heißt gleichwohl nicht, man hätte die Parteikontakte z. B. zur Abrüstung als falsch betrachtet. Das gilt trotz einiger inhaltlicher Bedenken ebenso für das Streitpapier, denn das hat alles in allem eher genutzt als geschadet. [Seite der Druckausgabe: 173] Daneben fehlten in den 80er Jahren die ganze Dimension der Menschenrechte und die gezielte Suche nach Kontaktpartnern, wenngleich es schwer war, in der DDR Oppositionelle zu finden. Davon können die Grünen oder Gert Weisskirchen ein Lied singen. Bei den Grünen kam es immer nur zum Händeschütteln mit fünf, sechs Leuten, die ihre Kontakte nicht weitergaben, zum Teil aus Eitelkeit, so daß eine Art Monopol in Ostberlin entstand. Ebenso wie die westdeutschen Sozialdemokraten hielten die DDR-Oppositionellen in der zweiten Phase der Entspannungspolitik die Friedensfrage für absolut dominant. Wenn man darüber diskutierte, konnte man nicht gleichzeitig immer die Menschenrechte problematisieren. Dennoch kam da von der SPD zu wenig. Außerdem wurden in den 80er Jahren die gesellschaftlichen Potentiale unterschätzt. Bahr sprach davon, das System von oben zu ändern. Das war gut, aber nicht genug, schließlich waren von den Kommunisten grundlegende Veränderungen nicht zu erwarten. Es hätte der konfusen Opposition mehr Gewicht gegeben, wenn man das Zugeständnis gemacht hätte, das Janusz Reiter eben einforderte: Ja, wir halten euch für wichtig, und wir stehen auf eurer Seite. Es wird von den Akteuren immer betont, sie hätten beim "Wandel durch Annäherung" den Wandel stets im Kopf gehabt. Das können nicht alle sagen, wenn man sich z. B. die JUSO-Beschlüsse aus dieser Zeit anguckt. Während der Weltjugendspiele 1973 war die Junge Union der beste Gesprächspartner. Ein bestimmter Teil der Linken in Westdeutschland sah in der DDR ungeachtet einiger Schwächen ein Modell. Viele von diesen Leuten wurden erst nach 1989 zu Patrioten der alten Bundesrepublik. Karsten Voigt: 1968 bedeutet nicht allein die Erfahrung der antiautoritären Bewegung, es beinhaltet ebenso die Empörung über den Einmarsch in Prag, gegen den die Linke in Frankfurt mit roten Fahnen demonstrierte. Daraus entstand später die bis 1989 gültige Gewißheit, die Freiheit im Osten sei abhängig von der sowjetischen Macht. Demokratische Basisbewegungen gab es immer wieder, z. B. 1953; neu [Seite der Druckausgabe: 174] war 1989 das Nicht-Eingreifen der russischen Truppen. Für dieses friedfertige Verhalten war es schon relevant, ob man mit russischen Reformern gesprochen hatte oder nicht. Die kritische, nicht-konforme Intelligenz der DDR, Polens, der CSSR konnte die Verantwortung nur übernehmen, nachdem in der Sowjetunion schon seit einer Reihe von Jahren kritische Leute die Verantwortung übernommen hatten. Die SPD-Kontakte mit zahlreichen Russen beweisen, daß kritische Köpfe nicht nur außerhalb des Systems standen, sondern auch innerhalb der kommunistischen Partei tätig waren. In manchen Ländern, z. B. in Rumänien, ist der Reformprozeß nicht einmal eingeleitet oder wie in der polnischen Verwaltung tendenziell rückläufig. Normal für die Außenpolitik ist es, mit den Leuten Kontakt zu haben, die die Außen- und Sicherheitspolitik ihres Landes heute und auf absehbare Zeit beeinflussen, also Generalen, wissenschaftlichen Instituten, Außen- und Sicherheitspolitikern jeglicher Prägung. Das macht die CDU auch so. Es war demnach vollkommen neu, als man Anfang der 80er Jahre, nach kontroversen Debatten, überlegte, Kontakte auch zu den alternativen Eliten zu pflegen. Das ist auch geschehen. Voigt selbst hatte die Aufgabe, Leute in der damaligen CSSR zu unterstützen, eventuell sogar finanziell - ohne das an die große Glocke zu hängen. Diese Strategie wurde arbeitsteilig betrieben, übrigens auch schon 1973. Die Weltjugendspiele sind ein schönes Beispiel dafür, wie das damals schon funktioniert hat, denn die Vorbedingung für ihre Teilnahme war, daß die JUSOs frei agieren durften und Dutschke Biermann treffen konnte. So etwas zu erreichen war eine Verhandlungsfrage. Später wurden solche Verhandlungen von Gert Weisskirchen und den Grünen sowie der Friedensbewegung wegen der Menschenrechtsfrage kritisiert. Das war indes nicht die Hauptkritik der Friedensbewegung; die ging gegen den Versuch der SPD, friedenspolitische Verhandlungslösungen in klassischer Form zu erzielen. [Seite der Druckausgabe: 175] Das Dilemma bestand in dem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit von Bündnissen mit den Grünen in Menschenrechtsfragen und der gleichzeitigen Kritik der Grünen wie auch Teilen der SPD und natürlich der DKP, denen einseitige westliche Abrüstungsschritte lieber gewesen wären als Verhandlungslösungen. Janusz Reiter: Umstritten waren nicht die Kontakte. Zur Diskussion standen der Alleinvertretungsanspruch der Regierenden und die Frage, inwieweit man die Opposition als unmündig betrachten konnte. Der daraus abgeleitete Gegensatz zwischen Frieden und Freiheit war falsch. 1989 erwies sich die Opposition als regierungsfähig, doch war das vorher im Westen nicht erkannt worden. Karsten Voigt: In der Bundesrepublik waren die Kontakte sehr wohl umstritten. Die Entspannungspolitiker waren zu einer Gratwanderung gezwungen zwischen einer Politik des Status quo und der Emanzipation von Gesellschaften, indem man eine systemübergreifende Kooperation betrieb. Das durfte andererseits keine Intervention von außen provozieren. Im Interesse der Freiheit war es notwendig, in einem langfristigen Prozeß die Politik der Sowjetunion zu verändern und dabei die Dissidenten zur Selbstdisziplin aufzurufen. Das empfanden einige Osteuropäer zum Teil zu Recht als illegitim. Ota Filip: Die SPD hatte mit dem Regierungsverlust die Chance, ihre bis dahin notwendige Entspannungspolitik zu verändern und dabei, was in der CSSR erwartet wurde, ihre Einstellung zu den Dissidenten zu revidieren. Als Teil der Friedensbewegung sagte die SPD indessen nichts zu russischen Raketen oder Atommeilern. Vielmehr setzte sie auf die falschen tschechischen Sozialdemokraten, die dann später ihre Exilgenossen wegen deren Unterstützung der Entspannungspolitik verurteilten. Die frühere Untergrundelite ist nicht an der Macht, sie wurde 1992 abgewählt. Jiri Dienstbier hat den großen Fehler gemacht, eine links [Seite der Druckausgabe: 176] liberale bürgerliche Bewegung ins Leben zu rufen, die schließlich schrecklich geschlagen wurde. Die heutigen Prager Sozialdemokraten stehen vor einem Scheiterhaufen, eine linke Partei dort hat heute keine Chance. Markus Meckel: Fragen der Selbstdisziplin und der Geduld wurden in der DDR zwischen der Kirche und radikalen Jugendlichen thematisiert. Ein Aufruf aus dem Westen in dieser Sache war unerwünscht, von dort wurde die Unterstützung der Positionen erhofft. Der Punkt der Arbeitsteilung muß näher beleuchtet werden, denn es besteht der Eindruck, daß die Vorstandsebene damit anders umging als die Parteibasis, wo die offizielle Linie Bahr-Vogel mehr Geltung hatte. Karsten Voigt ist, Stichwort: Weltjugendspiele, nicht darauf eingegangen, daß ein Teil der Sozialdemokratie, eine bestimmte Generation, in ihrer geistigen Grundsubstanz glaubte, irgendwie doch das bessere Modell im Osten zu finden. Für die alte Generation spielte die Frage "Einheit der Arbeiterbewegung" eine Rolle. Was war bei denen exakt gemeint, wenn sie sagten: "Eigentlich wollen wir doch das gleiche!"? Wie weit hat die bei den sicherheitspolitischen Gesprächen aufkommende Kameraderie und Kumpanei dazu geführt, daß bestimmte Teile von Wirklichkeit, z. B. die Opposition, ausgeklammert wurden. Wer im Kampf gegen die Nachrüstung in der DDR als handelndes Subjekt auftrat, was nicht vorgesehen war, mußte zwangsläufig mit der Obrigkeit in Konflikt geraten, und von daher waren Frieden, Systemfrage und Menschenrechte in der DDR immer viel stärker gekoppelt. Daraus erwuchs der Eindruck, die Russen verstünden nur die Faust und was Reagan mache, sei richtig. Ota Filip: Es bestanden auch "Kameraderie" und "Kumpanei" bei der Hilfe, welche Friedrich-Ebert-Stiftung und SPD - ihnen sei dafür herzlich gedankt - unseren Freunden und Genossen in Prag angedei [Seite der Druckausgabe: 177] hen ließen. Das war nur möglich auf der Basis des Sich-Kennens und Vertrauens. Karsten Voigt: Es gab in der westdeutschen Linken seit Beginn der 70er Jahre lebhafte Kontroversen um die Rüstungspolitik und um die gesellschaftlichen Entwicklungen im Osten, speziell in der Sowjetunion. Bei den JUSOs ging der Streit konkret um Stamokap; die Auseinandersetzungen in Frankfurt um die später zur DKP gewechselte Gruppe Eckert waren besonders scharf und erbittert. Einheit der Arbeiterbewegung war sogar ein Thema zwischen Willy Brandt und Jimmy Carter. Gorbatschow hatte die Illusion, aus der KPdSU eine sozialdemokratische Partei zu machen. In der SED erinnerten sich manche Leute an sozialdemokratische Traditionen. Solche Vorstellungen sind nicht verwerflich bei Menschen, denen die Spaltung der Arbeiterbewegung als Ursache des Faschismus noch präsent war. Vor dem Hintergrund der Zwangsvereinigung war die Vorstellung legitim, zur Stärkung der Reformkräfte eine Dynamik der Reform auf beiden Seiten freizusetzen. Erhard Eppler dachte in diese Richtung beim Streitpapier. Kameraderie ist der negative Begriff, den man positiv wenden kann in Vertrauen. Vertrauen konnte man den Partnern unter anderem wegen ihrer Kalkulierbarkeit. Es fanden Gespräche statt, in denen sich nicht allein die Westler über ihre Parteileitung mokierten, sondern auch Ostler über ihre Führung, in denen die Ostler außerdem langfristige Reformperspektiven aufzeigten. Diese Art von Vertrauen schlägt sich nicht nieder in den Akten. Vertrauen solcher Art ist doch nur dann negativ, wenn es zu Lasten Dritter geht. Nach bestimmten diplomatischen Regeln werden Konfliktbereiche bei Verhandlungen von vornherein ausgeschlossen; das war mit Sicherheit nicht der Fall bei unseren Gesprächen mit Vertretern aus Osteuropa. Die Arbeitsteilung in der SPD war nicht immer abgestimmt, immerhin war es beabsichtigt und geplant, daß bei internationalen Treffen der Friedensbewegung auch osteuropäische Dissidenten ihren Fuß mit drin hatten, z. B. beim Olof-Palme-Marsch. Diese Art von Be [Seite der Druckausgabe: 178] ziehungen funktionierte vielfach mit Hilfe anderer westeuropäischer sozialistischer Parteien. Aber es stimmt: Ein wesentliches Problem für die westlichen Sicherheits- und Außenpolitiker waren die Art und Weise der Kontakte zur kritischen Intelligenz. Janusz Reiter: Durch den ständigen Mißbrauch seitens der Regierenden war in Polen das Wort Friedenspolitik diskreditiert. Dort war die Friedensbewegung weniger bedeutsam als in der DDR. Die meisten führenden Vertreter der polnischen Opposition standen eigentlich ursprünglich der Sozialdemokratie nahe und hatten mit Reagan nichts zu tun; sie wurden gegen ihren Willen in diese Ecke gedrängt, wo sich schon die konservative katholische Kirche befand. Bis zum Dezember 1981 hat sich die Solidarnosc nicht mit Außen- und Weltpolitik befaßt, um den anderen keine Angriffsfläche zu bieten; das änderte sich mit dem Kriegsrecht. Aufgedrängt wurde die Friedensfrage durch Jaruzelskis mit Blick nach Westen geäußerte Bemerkung, er habe den Frieden gerettet. Tatsächlich ging es jedoch um die Frage der Legitimität einer Opposition in einem Ostblockland. Damals wurde diese Diskussion in Polen stark verknüpft mit der deutschen Frage. Markus Meckel: Erwin Christoffersen, der verstorbene Internationale Sekretär des DGB, hat für Polen sehr viel geleistet durch Herstellung von Kontakten, Schulungen, Ermöglichung von Arbeit, Bereitstellung von Geld und Material. Für Hans Koschnick gilt ähnliches. Man sollte die nationale Frage stärker ansprechen. Meckel hat bis Ende 1989 die deutsche Einheit als schnell zu verwirklichendes Ziel nicht für möglich gehalten. Anfang Dezember 1989 betonte der SDP-Vorstand, die deutsche Einheit sei über einen schnellen Anschluß nicht zu bewirken, sie müsse von einer demokratischen und selbständigen DDR ausgehandelt werden. Da waren die Polen damals weiter. [Seite der Druckausgabe: 179] Janusz Reiter: Die Danksagung ist aus polnischer Sicht mehr als berechtigt. Die SPD und die Friedrich-Ebert-Stiftung haben eine Unzahl von Kontakten geknüpft und Qualifikation ermöglicht. Ota Filip: Der Umweg der sozialdemokratischen Entspannungspolitik über Moskau nach Prag oder Warschau und Ostberlin war berechtigt, solange die SPD an der Regierung war. Danach hätte sie den direkten Weg zu den Dissidenten gehen müssen. Die Charta 77 hat immer zu internationalen Fragen Stellung bezogen. Die SPD hat diese Stellungnahmen nicht immer ernst genommen. Die Charta 77 war eine eher linke Bewegung, das wurde im Westen nie so deutlich gesehen. 1971 oder 1972, als Willy Brandt in Prag weilte, schickte er zu Gesprächen mit Dissidenten seine Frau. Selbst zu kommen, hatte er nicht den Mut. 1978 wurde die Charta 77 von den westeuropäischen Sozialdemokraten fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Karsten Voigt: Aufgrund der Generationserfahrung der 68er waren die Reformkommunisten eher Ansprechpartner als die Sozialdemokraten, Dubcek war der Orientierungspunkt. Darüber gab es Debatten in der SPD. Ausgerichtet zu sein auf die Reformkommunisten bedeutete doch nicht, mit den sowjetischen Machthabern zu sympathisieren. Die Polen wurden nicht übergangen, Hauptziel war es, bei ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu erwecken, welches sie vor den Deutschen haben könnten, damit das Freiheitsinteresse der Polen nicht in Widerspruch gerate zum nationalen Interesse der Deutschen. Das war in den Augen der Solidarnosc eine vielleicht intelligente und zugleich feindliche Strategie, denn die Polen wollten nach Westen, und das ging nur, wenn auch die DDR dahin käme. Den Polen war die Angst vor der Integration der DDR in den Westen nur zu nehmen, indem man die Grenze so sicher wie möglich machte. Zu Beginn des sowjetischen Reformprozesses hatten seine Protagonisten Sorge, das Hochkommen der deutschen Frage könne ihre Bemühungen kippen, aber zwischen den Amerikanern und den So [Seite der Druckausgabe: 180] wjets war klar, daran nicht den Gesamt-Entspannungsprozeß scheitern zu lassen. Mit anderen Worten: Für die Supermächte war die deutsche Frage zunächst kein Thema. Die Mobilisierung der deutschen Frage in der Sowjetunion mußte ein Frühwarnsignal sein für deren Veränderung ihrer Politik gegenüber der DDR, allerdings haben Axen und andere das nicht ernst genommen, und auch Voigt selbst hielt die mögliche Annäherung der beiden deutschen Staaten für nicht primär. Übrigens kam es am Vorabend des Gorbatschow-Besuches in der DDR zu einem Gespräch zwischen Valentin Falin, Egon Bahr und Karsten Voigt, bei dem man über die Einleitung eines Reformprozesses in der DDR ohne die Gefährdung der gesamten Ost-West-Beziehungen sprach. Das war ebenso die Sorge der Amerikaner, wie sich auf einer Tagung der Atlantikbrücke im März 1989 herausstellte. Gorbatschow und andere gingen von falschen Voraussetzungen aus, als sie glaubten, man könne die DDR reformieren, die SED gewänne dort freie Wahlen und deshalb werde der Einigungsprozeß langsamer verlaufen. Das führte dazu, daß man die Entwicklung laufen ließ, bis sie nicht mehr umkehrbar war. Mitterrand hat frühzeitig eine Verzögerung versucht, aber er stand fast alleine da. In der für die Ostpolitik zuständigen Fraktions-Arbeitsgruppe F 15 bestand Konsens über die verschiedenen Schritte zur Wiedervereinigung. Erstaunlich war dann, daß es in der Fraktion bei den Leuten, die sich gar nicht für Ostpolitik interessierten, zum Widerspruch kam. Als Voigt selbst sich im Bundestag im November 1989 positiv über die Möglichkeit der staatlichen Einheit äußerte, trat Horst Ehmke am anderen Tag vor die Öffentlichkeit und behauptete, Voigt habe nicht im Namen der Parteibasis gesprochen. Die SPD, die alles getan hatte, um die Einheit herzustellen, konnte in dem Moment, als sie greifbar wurde, damit nicht umgehen. Obwohl die Partei seit 1987 mit der Bürgerrechtsbewegung näher in Kontakt zu treten suchte, ist sie wie die gesamte Linke mit den Veränderungen seit 1989 nicht fertig geworden, weil sie zu stark ausgerichtet war auf Protektionismus. Die [Seite der Druckausgabe: 181] Verarbeitung dieser Erfahrung dauert länger als die Bewältigung des Schockerlebnisses von 1961. Janusz Reiter: In der Tat hat die Ostpolitik den Polen mehr Sicherheit verschafft, besonders in der Grenzfrage. Diese Sicherheit ermöglichte erst die Frage nach inneren Veränderungen, weil man nun nicht mehr befürchten mußte, damit ganz Europa in Trümmer zu legen, indem man an der Ordnung von Jalta rüttelte. Entspannungspolitik hat zur Entwicklung in Polen seit 1980/81 beigetragen. In Polen wurde dann die deutsche Frage als Teil der europäischen Frage entdeckt. Im europäischen Kontext mußte zuerst die deutsche Frage gelöst werden, um dann die polnische Frage lösen zu können. Die Polen betonen den Wandel von unten, die Deutschen sehen seine Ursachen mehr in den Reformen von oben. Beide Wahrnehmungsperspektiven sind nicht unvereinbar. Vielleicht haben die Polen etwas zu provinziell gedacht, zu sehr an sich; andererseits wird die Rolle Gorbatschows sehr stark überschätzt. Er hat die tatsächlich eingetretene Entwicklung so nicht gewollt, und ohne den Druck von unten wäre sie nicht möglich gewesen. Ota Filip: Die Träger der Charta 77 waren doch bis auf einen alle frühere Kommunisten. Es gab keinen Bruch zwischen ihnen und den Prager Sozialdemokraten. Trotzdem haben deutsche Sozialdemokraten einige Ansprechpartner übersehen. Das Problem war Dubcek, der als einziger die Charta 77 nicht unterschrieben hat. Das können die Menschen in Prag nicht vergessen. Jürgen Schmude: Entspannungspolitik mußte, das war von vornherein klar, die inneren Konflikte im Ostblock verschärfen und Bewegung in Gang setzen. Instabilität war folglich gewollt; das durfte man jedoch nicht offen sagen. Das war auch eine Gratwanderung gegenüber den möglichen Opfern einer solchen Politik. Wenn man z. B. von den JUSOs behauptet, sie hätten im Osten das bessere Modell gesehen, dann soll man Namen nennen; dann stellt [Seite der Druckausgabe: 182] sich nämlich heraus, daß diese Leute in der SPD nichts zu bestellen hatten. Sie waren nicht repräsentativ. Zur Frage der Arbeitsteilung zwischen Verhandlungen auf hoher Ebene und anderen Kontakten kann Schmude selbst auf seine Bemühungen verweisen, neben den Gesprächen mit der evangelischen Kirche seit 1985 auch mit Rainer Eppelmann seit 1987 einen Austausch zu pflegen. Das hat dann Gert Weisskirchen weitergeführt. Die Kontakte mit Oppositionellen wurden im Fraktions- und im Parteivorstand der SPD vorbereitend erörtert und über Bahr/Voigt der SED signalisiert, damit diese sich nicht alles mögliche herausnehmen konnte gegen diese Kontakte. Das war kein Genehmigungsgesuch, im Gegenteil: Die SED-Führung nahm klar und deutlich dagegen Stellung, und trotzdem fand z. B. die Begegnung mit der Eppelmann-Gruppe statt. Tilman Fichter: Der Vergleich von südafrikanischem ANC und Solidarnosc zeigt den Unterschied im Umgang mit Oppositions- und Bürgerrechtsbewegungen. Zuerst waren Brandt und andere gegen Boykott-Maßnahmen gegen Südafrika. Sie ließen sich durch Verbeugen vom Gegenteil überzeugen. Dann haben sie den ANC ab 1985 ganz massiv unterstützt und gleichzeitig in Verbindung gestanden mit der Regierung. Da tat man sich nicht schwer, sondern verhielt sich ganz korrekt in den Traditionen der Sozialistischen Internationale. Bei der Solidarnosc war das anders. Brandt hat Walesa in Warschau nicht getroffen. Gegen die polnischen Romantiker hatte man mehr Vorurteile als gegen die Romantiker des ANC. Es gibt in Deutschland einen gewissen unterirdischen kollektiven Vorbehalt gegen Polen, die angeblich irrational, unberechenbar und romantisch sein sollen. Darüber muß die SPD Rechenschaft ablegen und aus den Fehlern lernen. Aus dem politischen Protestantismus in beiden Teilen Deutschlands stammt der Sühnegedanke nach Auschwitz, der die politische Spaltung als Buße für gerechtfertigt hielt. Darüber sollte man reden, statt diesen Gedanken immer auszuklammern. [Seite der Druckausgabe: 183] Was ist los mit dem Analyseapparat der westdeutschen Linken, der sie daran hinderte, die Krise des Ostens in den 80er Jahren zu sehen? Der einzige sozialdemokratische Politiker, der z. B. seine Solidarität mit Rudolf Bahro bekundete, war Peter von Oertzen. Rarsten Voigt sollte ein paar Worte sagen zu seinem ominösen Urlaub mit Egon Krenz. Karsten Voigt: Da war nicht nur Krenz dabei, nein, auch Genadij Janajew, der später den Putsch gegen Jelzin unternahm. Es mußte der SPD daran gelegen sein, nicht allein die Handelnden zu kennen, sondern auch die Nachwuchskader, z. B. der FDJ. Herbert Wehner und Willy Brandt haben Voigt gebeten, sich darum zu kümmern. Von der Nützlichkeit solcher Kontakte waren seinerzeit alle überzeugt. Diese Politik war riskant, aber richtig, es gibt kein Schuldbewußtsein. Andere Leute in der SPD mußten mit Pinochet reden. Zum Bahro-Kongreß ist Voigt nicht gefahren, weil Bahro ein Spinner sei. Die Krise des Ostens wurde schon 1977 auf einer Tagung: Decline of Soviel Power vom International Institute of Strategie Studies so benannt. Es ging seitdem um die Frage, ob die Sowjetunion, in die Defensive gedrängt, nach außen angreifen würde und ob man im Westen deswegen oder trotzdem weiter rüsten sollte. Der Ausweg, den Voigt und Bahr sahen, war, die Sowjetunion zu militär- und innenpolitischen Reformen zu bewegen, um so eine Entblockung des Denkens zu erreichen und die Einkreisungsangst zu reduzieren. Die Einseitigkeit der westdeutschen Linken mit Blick auf die Befreiungsbewegungen außerhalb Europas beruht auf einem kompensatorischen Radikalismus: Je weiter von der Heimat entfernt, um so eher befürwortet man den bewaffneten Befreiungskampf. Wer zum Boykott aufruft, muß sich über die Wirkungen im Klaren sein. Die Kontakt-Verweigerung der Amerikaner nach 1979 bzw. 1981 war falsch aus deutscher Perspektive, denn sie gefährdete unsere nationalen Interessen. Daher war es notwendig, selbst aus der Opposition heraus weiter Entspannungspolitik zu betreiben und dadurch für Druck zu sorgen. [Seite der Druckausgabe: 184] Egon Bahr: Diese offene, zum Teil schmerzhafte Diskussion ist positiv, hat allerdings den Mangel der fehlenden, unerläßlichen Aufarbeitung bei CDU, CSU, FDP oder LDPD. Die SPD ist nicht die Weltmacht, die alles entschieden hat, die Oppositionsbewegungen außerdem nicht die zweite Weltmacht, nicht einmal die Polen oder Tschechen. Es fehlt in der Diskussion ein Beitrag aus der Sicht der früheren Sowjetunion. Es heißt, Gorbatschow habe die eingetretene Entwicklung nicht gewollt. Das stimmt. Aber allen war bewußt: Wenn nur ein wenig Freiheit und Demokratie in die östlichen Gesellschaften dringt, weiß niemand mehr, wo die Sache endet. Alles in allem ist die Solidarnosc die einzige Oppositions-Bewegung mit meßbarem Erfolg. Alle anderen sind unter dem Strich so klein geblieben, wie man sie richtigerweise vor 1989 eingeschätzt hatte. Markus Meckel: Bei aller Kritik an der SPD konnte die CDU für die DDR-Oppositionellen keine Alternative sein mit ihrer Kredit-Politik. Wenn es überhaupt in den DDR-Parteien Reformdenken gab, dann in der SED, bestimmt nicht in den Blockparteien. Schmudes Forderung, die Namen derjenigen zu nennen, die in der DDR ein Modell sahen, ist berechtigt, kann indes nicht erfüllt werden, weil nur ein kleiner Teil in die DDR kam. Die Verknüpfung von Sühne-Gedanken und nationaler Einheit ist falsch gesehen. Wenn DDR-Jugendliche nach Polen oder Ungarn kamen, erfuhren sie ihre Nationalität und Geschichtlichkeit anders, als ihnen das die Propaganda eingetrichtert hatte, die die DDR als Erbin des Antifaschismus an der Seite der ruhmreichen Sowjetunion darstellte. Aus diesem Unterschied heraus ist 1990 die Erklärung entstanden, in der die Volkskammer die Verantwortung für die deutsche Geschichte übernahm, um somit, anders als jene, die die deutsche Einheit operationalisierten, Rücksichtnahme zu signalisieren gegenüber den Nachbarn und Alliierten. [Seite der Druckausgabe: 185] Die ostdeutsche Opposition war erfolgreicher, als Egon Bahr behauptet. Zwar ging nichts ohne die bisher bezeichneten Rahmenbedingungen wie KSZE, Entspannung, Gorbatschow; doch wären diese Voraussetzungen weniger wert gewesen, wenn es nicht diese kleinen Gruppen gegeben hätte, die dann in der DDR die Dinge selbst in die Hand nahmen. Ohne die Leute vom Runden Tisch wäre es ganz fürchterlich gelaufen. So problematisch und zerstritten die Gruppen waren - sie sind nicht immer ihren Aufgaben gerecht geworden -, ohne sie hätte es keine Einheit geben können. Martin Brüning: Karsten Voigt sollte Stellung nehmen zu den Vorwürfen von Garton Ash, S. 494, nach denen Voigt die SED beraten haben soll, die Wiedereinreise von Wolfgang Templin und Bärbel Bohley in die DDR 1988 zu verhindern. Darüber hinaus ist die Offenlegung aller Dokumente, Papiere, Aufzeichnungen usw. der SPD zur Ostpolitik dringend geboten. Gert Weisskirchen: Das hat das Präsidium der SPD so beschlossen. Karsten Voigt: Er hat nicht die Absicht, seine Unterlagen zu veröffentlichen, die Auskunft geben über Gespräche, die er mit westlichen Partnern zum Thema Ostpolitik geführt hat. Das würde seine Glaubwürdigkeit erschüttern und seine Kontakte im Westen gefährden. Das tut die Bundesregierung aus denselben Gründen auch nicht. Templin hat Voigt damals aufgefordert, sich bei den DDR-Behörden für die Rückreisemöglichkeit von Templin und Bohley einzusetzen. Das hat Voigt mit großem Erfolg getan, weil er die zuständigen Stellen auf den Schaden eines gegenteiligen Verhaltens hinwies. Manfred Uschner werde bestätigen können, daß die Rückreise im DDR-Interesse lag. Im Ergebnis wird dieser Einsatz für Menschenrechtler von Ash und Bohley dargestellt als Klüngelei zu Lasten Dritter. Das ist eine empörende Infamie. Niemand bei den Grünen hat einen Erfolg erreicht, der mit dem der Rückreisemöglichkeit zu vergleichen wäre. [Seite der Druckausgabe: 186] Stephan Hilsberg: Die zweite Phase der sozialdemokratischen Entspannungspolitik hatte keine Legitimation mehr, als sich herausstellte, daß die neue Bundesregierung hier in der Kontinuität der SPD stand. Es wäre ganz interessant zu wissen, ob die polnischen Oppositionellen Gelegenheit hatten, ihre Sicht der deutschen Frage in den 80er Jahren mit der SPD zu debattieren. Bahrs Duktus beinhaltet die Entmündigung der Oppositionsbewegungen. Das Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung gehörte immer zu den lebensnotwendigen Traditionen der Sozialdemokratie. Man sollte diese Traditionen neu aufnehmen und wiederbeleben in der Partei. Elisabeth Weber: Beim Umgang mit der Opposition konnte es nicht ausschließlich um abstrakte Fragen gehen. Man hätte sich ebensogut erkundigen müssen, wer im Knast sitzt, wer Hilfe braucht. Das wäre der SPD leicht gefallen, denn die Opposition war in sich vielfältig genug. Auf die Frage nach Hilfe antworteten die Polen oft: Jetzt ist es noch nicht möglich oder notwendig, aber wenn der ganze Spuk vorüber sein wird, macht im Westen nicht den Fehler wie nach Vietnam - guckt nicht einfach weg! Wer wie E. Weber das Alltagsleben in Polen mitbekommen konnte, erfuhr eine ganz andere Wirklichkeit als einer, der sich zu Verhandlungen auf hoher Ebene nur in den großen Hotels aufhielt. Renate Plachetka: Nicht allein die Politiker haben Fehler begangen, auch die Basis hat dazu beigetragen. In linken Ortsvereinen oder GEW-Gruppen, die die Ostpolitik voll Begeisterung mittrugen, wurde die Wirklichkeit lange Zeit nicht richtig gesehen. In den Schulbüchern wurden beim Systemvergleich beide Gesellschaftsformen als gleichwertig dargestellt. Karsten Voigt: GEW-Delegationen haben sich auf Gespräche mit dem entsprechenden DDR-Verband sehr sorgfältig vorbereitet. [Seite der Druckausgabe: 187] Tatsächlich wurden die Veränderungen von oben und unten bewirkt. Kontrovers diskutiert wurde, wie man mit denen oben verhandelt im Sinne der Entfeindung, Entmilitarisierung, Entblockung und gleichzeitig mit denen spricht, die von unten gegen die Herrschenden arbeiteten, mit denen man doch verhandelte. Das war eine schwere Gratwanderung. Es mußte eine Dialogebene geben mit den Kritikern, auf der man sie warnen konnte, nicht zu weit zu gehen, um eine Entwicklung wie 1968 oder 1956 zu vermeiden, weil der Westen nach so einem Zwischenfall nur Beileids-Telegramme versenden würde. Richtig gesehen wurde das Kernproblem: die Entspannungspolitik als Voraussetzung für die Öffnung des Osten und: Die deutsche Frage war nur lösbar, wenn gleichlaufende Prozesse in der Sowjetunion und in Polen einsetzten. Die Fortsetzung der Entspannungspolitik nach 1982 war richtig angesichts der Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage durch Reagan als Legitimation für seine Rüstungs- und Konfrontationspolitik. Die Spannungen zwischen Deutschland, der Sowjetunion und Polen waren kein unmittelbares Problem der Amerikaner, sie forderten daher Solidarität zu Lasten Dritter, und es war darum sinnvoll - und schließlich erfolgreich -, die eigene Regierung aus der Opposition heraus entspannungspolitisch unter Druck zu setzen. Das lief zum Teil etatistisch ab, gewiß. Egon Bahr äußerte oft Unbehagen, wenn versucht wurde, in die Verhandlungen zusätzlich gesellschaftspolitische Themen einzubringen; das hatte diplomatische Gründe. Ab 1987 haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Aber die Wortführer der damaligen Opposition reden kaum über die Opfer, die es von 1945 bis 1987 gegeben hat; die werden langsam vergessen. Adenauer oder Reagan waren Zyniker, die den östlichen Freiheitsdrang instrumentalisierten für die Westintegration oder für die Rüstungspolitik. Da war die sozialdemokratische Entspannungspolitik wesentlich konsequenter.
[Seite der Druckausgabe: 188] Die CDU lief hinter der Entwicklung her und verhält sich heute unmoralisch und beleidigend, wenn langjährige Mitglieder der Ost-CDU so tun, als seien sie eine eigene Oppositionsbewegung gewesen. Ota Filip: Es war ein großer Fehler der Charta 77, immer nach Westen zu starren. Deshalb gab es keine Kontakte zwischen den Tschechen und der DDR-Opposition. Man mochte die Leute mit sächsischem Dialekt nicht. Die Prager Arroganz verhinderte ebenso Kontakte nach Ungarn. Die Beziehungen zwischen Prager und polnischen Oppositionellen waren hingegen hervorragend. Die Solidarnosc hat viel für die Tschechen getan, und als Dank ignoriert heute die tschechische Führung die polnischen Schwierigkeiten. Markus Meckel: Die alten Opfer wurden Ende der 80er Jahre von der damaligen DDR-Opposition wenig beachtet. Das hat sich inzwischen teilweise verändert. Sozialdemokraten wie Meckel oder Hilsberg waren auf dem letzten Bautzen-Forum oder auf dem vierten Treffen der Opfer von Mühlberg; andere Parteien hat man dort nicht gesehen. Daß die engen Finanzen die Entschädigungsfrage beeinträchtigen - siehe 2. Unrechtsbereinigungs-Gesetz -, ist sehr problematisch. Ähnliches gilt für die Gedenkstätten, den Jugendwerkhof Torgau zum Beispiel, einen üblen Jugendknast. Das können die neuen Bundesländer nicht leisten, folglich muß sich der Bund darum kümmern. Garton Ashs Kritik, Entspannungspolitik habe immer von Europa geredet, aber tatsächlich nationale Interessen gemeint, sollte Anlaß sein, darüber zu reden, was wohlverstandenes nationales Interesse ist. Nationales Interesse wird schnell zu europäischen Fragen, deutsche Identität ist keine westdeutsche, sondern eine gesamtdeutsche und letztlich eine europäische. Europapolitik sollte eine stärkere Beteiligung der Länder Ost-Mitteleuropas ins Auge fassen. Janusz Reiter: Die Ausführungen Voigts über das Dilemma der Entspannungspolitik waren spannend, weil sie zeigen, daß es nicht um Gut oder Böse geht, sondern um die vielen Entscheidungen dazwi [Seite der Druckausgabe: 189] sehen. Die heute politische Verantwortung tragenden Dissidenten von einst machen dieselbe Erfahrung, sie haben inzwischen ihre Unschuld verloren. Die Diskussion von heute wird nicht die letzte sein, denn die Archive enthalten noch sehr viel jetzt erst zugänglich werdendes Material. Das muß aufgearbeitet werden. [Seite der Druckausgabe: 190] Diskussion zum Podiumsthema: Zwei deutsche Staaten - eine Nation. Die SPD und die nationale Frage in den achtziger Jahren
Herbert Ammon: Hat man die nationale Frage falsch eingeschätzt? Nation, ein hochkomplexes Phänomen der Moderne, ist mehr als Sprach-, Geschichts- und Gefühlsgemeinschaft, sie ist eine Identifikationsgemeinschaft. Sie hatte in den 80er Jahren die Überwindung der staatlichen Teilung als Ziel, dessen Verwirklichung bei vielen Linken eine Reaktion hervorrief, die eine qualitative Veränderung des nationalen Zustandes verhinderte. Von großen Teilen der Öffentlichkeit wurde die besondere Art, wie die Friedensbewegung die nationale Frage diskutierte, abgelehnt, namentlich von den Intellektuellen, die die These der Binationalität vertraten. Egon Bahr hat in diesen Auseinandersetzungen eine eigene Rolle gespielt, als er ständig zurückwich vor ideologisch dominant werdenden Positionen in seiner Partei. Die Ereignisse des Jahres 1989 wurden in Deutschland falsch beurteilt auf der Grundlage der sich durchsetzenden Toskana-Mentalität und der Schamattitüde. Bei den politischen Profis verbreitete sich ein zunehmender Opportunismus, welcher sich im Gerede von den zwei deutschen Staaten manifestierte. Darin enthalten waren vorauseilender Gehorsam und ein Mangel an Selbstachtung. So lange wurde die durch die Sicherheitsdebatte wiedererstandene nationale Frage nicht beachtet oder für unwichtig erklärt, bis man auf sie nach Gorbatschows Abrüstungsschritten, als die nationale Einheit auf die Tagesordnung rückte, nicht mehr vorbereitet war. In diesem Moment siegte die List der Vernunft. Auf der Grundlage ihrer Fehleinschätzungen mißachteten die politischen Moralisten die Menschenrechtsverletzungen; bestes Beispiel ist die Salzgitter-Debatte. Warum wurde der Status quo der nationalen Teilung geheiligt trotz der in beiden deutschen Staaten anderslautenden Bestrebungen? Die Opferbereitschaft 1989/90 war größer, als man gemeinhin glaubt, und [Seite der Druckausgabe: 191] das Hinwirken auf die deutsche Einheit hatte nichts zu tun mit Populismus. Nach dem Schock der deutschen Einheit kommen intellektuelle Kreise dazu, die Demonstrationen von Leipzig in die rechtsradikale Ecke zu schieben. Das ist schamlos von denen, die in der Teilungsideologie statt der Verantwortungs-Ethik die Bequemlichkeit des Status quo suchten. Sich aus der Nazi-Vergangenheit verabschiedend, hielt man in Intellektuellenkreisen das deutsche Volk für verblödet. Diese Borniertheit vermengte sich mit Tendenzen des politischen Protestantismus, der Verabsolutierung des Sühnegedankens, und führte zum Verfassungspatriotismus. Wir erleben weiterhin eine steigende Entfremdung zwischen dem Volk und den Eliten. Wilfried von Bredow: Die Kritik an der sozialdemokratischen Entspannungspolitik bezieht sich nur auf die Zeit zwischen 1982 und 1989. Der vorherigen Politik kann man sehr stark zustimmen. Eine einheitliche politische Sequenz bilden die 80er Jahre nicht, da ihr Anfang vom zweiten Kalten Krieg und ihr Ende von der raschen, umfassenden Abrüstungspolitik geprägt ist; dazwischen vollzieht sich eine wichtige Zäsur. Das Ausmaß der dramatischen Veränderungen wurde seinerzeit von kaum jemandem richtig erkannt. Die Haltung der SPD zur nationalen Frage pendelte in den 80er Jahren zwischen zwei Positionen. Egon Bahr schrieb, die deutsche Einheit sei nur als historischer Prozeß denkbar nach der Einigung Europas - das ist eigentlich ein Denkverbot! Daß Bahr das heute etwas anders sieht, ist verwirrend. Peter Glotz behauptete, in Deutschland sei die nationalstaatliche Geschichtsform gescheitert, man möge daraus die Konsequenzen ziehen. Das war zwar gut gemeint, wirkte sich aber verhängnisvoll aus. Bahrs Konzept wurde in einen politischen Kurzhorizont gezwängt und verlor so an Klarheit; das bezieht sich vornehmlich auf die Gratwanderung zwischen Stabilität und Wandel. [Seite der Druckausgabe: 192] Der Kurzhorizont beruhte auf der falschen Prämisse der Reformfähigkeit des Sowjetsozialismus. Diese Annahme gewann noch an Einfluß seit Gorbatschows Auftreten und verstärkte die sozialdemokratische Perspektive der Zweistaatlichkeit. Für die Wahrnehmungsverzerrung gibt es viele Gründe, unter anderem konnte die SPD die Regierung Schmidt nicht mehr ertragen und hatte danach Schwierigkeiten mit der neuen Oppositionsrolle. Die Spitzenleute hielten ihr Konzept für überlegen, was den Hang zur Nebenaußenpolitik erklärt; faktisch jedoch störte diese Politik. Beeinflußt von den Ängsten der Friedensbewegung, verschob die SPD ihr Feindbild in Richtung USA und machte dadurch die Machthaber des Osten zu ihren Sicherheitspartnern. Man muß auch mit Diktaturen reden, aber es wurde über die falschen Dinge, z. B. das Streitpapier, geredet. Die SPD-SED-Kontakte waren immer a-national gemeint und stabilisierten auf diese Weise die Zweistaatlichkeit. Außerdem wurden sie zum Versuch der Verbesserungen der innerstaatlichen Legitimation in der DDR genutzt, und das wußte die SPD. Der moralische Anspruch dieser Politik lag in der Absicht, deutsche Außenpolitik als friedfertig darzustellen. Der Topos von der verspielten deutschen Einheit hat als moralisches Verdikt die Debatte von 1989 bis 1992 mitbestimmt und sich verhängnisvoll auf die deutsche Einheit ausgewirkt. Fazit: Die SPD hat ihre Haltung zur nationalen Frage in den 80er Jahren insbesondere durch voreilige sicherheitspolitische Definitionen und durch eigentümlich bröckelige geschichtsphilosophische Moralisierung bestimmt. Sie ist dadurch bei entscheidenden politischen Weichenstellungen selbstbewußt aufs tote Gleis gebraust, ihre Politik war dann in der Hauptsache damit beschäftigt, von dort wieder wegzukommen. Edelbert Richter: Wer in der DDR-Opposition die nationale Frage ansprach, war damit ein Außenseiter. Ausgangspunkt war die Gefahr des in Mitteleuropa begrenzt geführten Atomkrieges. Einerseits war [Seite der Druckausgabe: 193] das Nachdenken über die nationale Frage in der Zeit vor dem Fall der Mauer vielleicht etwas versponnen; andererseits waren diese Leute 1989 angesichts der neuen Lage genauso hilflos wie beispielsweise die SPD. Das lag möglicherweise daran, daß man damals über die Herauslösung Deutschlands aus den beiden Blöcken nachgedacht hatte. Das wäre keine Fortsetzung der Entspannungspolitik geworden, und deshalb wurde auch der Begriff der Sicherheitspartnerschaft abgelehnt. Wurde die nationale Frage von der SPD zutreffend eingeschätzt? Ja und nein! Die SPD hat sich nicht genügend Gedanken gemacht über die sich um 1980 vollziehende historische Wende; das ist bis heute noch nicht angemessen verarbeitet. Der begrenzt führbare Atomkrieg war nichts weniger als der Abschied von der globalen Abschreckung und somit die Rückkehr zum Nationalen, wenigstens in den USA. Dort haben sich die Demokraten unter Clinton Gedanken gemacht über die erwähnte Wende; so etwas hat es in der SPD noch nicht gegeben. Wenn man heute auf den bisherigen Vereinigungsprozeß zurückschaut, gelangt man bestimmt auch zu der Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, getrennt zu bleiben. Es gibt doch Stimmen, die behaupten, die Spaltung sei jetzt erst tiefer geworden, die Differenzen kämen erst jetzt richtig zum Vorschein. Insofern war die bis 1989 vertretene Vorsicht der SPD vielleicht doch angebracht, Lafontaines Verhalten folgerichtig. Hätten wir über die historische Tiefenanalyse, die uns inzwischen zu eigen ist, wesentlich früher verfügt, wäre heute manches leichter. Eigentlich konnten die Deutschen nie so richtig beschreiben, was sie denn unter nationaler Identität verstehen. Eine Besinnung darauf in den 80er Jahren hätte das Loch vermeiden können, in dem wir uns jetzt befinden. Das muß nachgeholt werden, schließlich ist gerade die Orientierungslosigkeit bei den Jugendlichen zu groß. Das Bismarck-Reich war schon ein Staat ohne Idee, und das widerfährt uns nun erneut. Die Orientierung kann man noch nachholen, denn es gibt deutsche Traditionen, an die man anknüpfen kann; es fehlt nur der Mut, [Seite der Druckausgabe: 194] auch in der SPD, sie namhaft zu machen. Die Partei müßte doch in der Lage sein zu sagen, mit welcher Gesamtorientierung die Deutschen in die Zukunft gehen sollen. Hartmut Soell: Als Anfang 1978 der "Spiegel" ein Manifest aus der DDR des Bundes der Kommunisten veröffentlichte, gab es sofort Warnungen, deswegen keine innenpolitische Krise in der DDR zu provozieren und die Opfer einer fatalen Fehleinschätzung zu vermeiden. Im selben Jahr wurde auch gefragt, ebenfalls im "Spiegel", was aus der DDR wird, wenn ein Breschnew-Nachfolger die bisherige russische Schutzpolitik aufgibt und die DDR gleichsam fallenläßt. Die erste Äußerung stammt von Helmut Schmidt, die zweite von Soell selbst, der sich als Schmidt-Schüler versteht. Auf solche unterschiedlichen Wahrnehmungen spielt Garton Ash an. Sie beruhen auf unterschiedlich auszufüllenden Rollen und damit verbundenen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Das war auch die Ursache für das Verhalten Schmidts in Güstrow im Dezember 1981, wo der Kanzler sich sowohl bei der SPD als auch bei der CDU telefonisch absicherte bezüglich der Fortsetzung des Besuches bei Honnecker. Er warnte den Generalsekretär eindringlich vor einem deutschen Eingreifen in Polen. Mit weiteren Wertungen muß man zurückhaltend sein, weil noch einige uns unbekannte Materialien in Moskauer Archiven liegen. Richtig war an der Politik, daß die SPD andere nicht ins Risiko schicken durfte; falsch war die Annahme, man könne besser als die jungen Leute vor Ort die Risiken beurteilen. Die Dialektik des Wandels durch Annäherung war in den 80er Jahren nicht mehr zureichend bewußt. Durch die Annäherung an pazifistische Vorstellungen kam es zu einer Entlegitimierung des von Helmut Schmidt beeinflußten sicherheitspolitischen Denkens und zur tendenziell eindimensionalen Handhabung wichtiger Begriffe der damaligen Diskussion. [Seite der Druckausgabe: 195]
Daraus entwickelten sich Wahrnehmungsdefizite hinsichtlich der oppositionellen Gruppen, die als störend empfunden wurden, und mit Blick auf die ökologische und ökonomische Situation in der DDR. Da tragen Teile der Deutschlandforschung einen Teil der Verantwortung mit. Anders, als Bahr es darstellt, wurden in der AG Außenpolitk und im AK Außen-, Deutschland- und Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion der SPD seit 1985 die sich abzeichnenden Probleme heftig diskutiert. Das drang allerdings selten in die Fraktion. Vergleichbare Debatten laufen seit 1988 über Jugoslawien. Die SPD hat die Mehrdimensionalität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung im Osten vielleicht in Teilen erkannt, aber kaum genutzt. Das drückte sich zum Beispiel darin aus, daß erst im Juni 1989 vom Präsidium beschlossen wurde, neben den Kontakten zur SED auch solche zu den Oppositionsgruppen zu pflegen. Gert Weisskirchen war ein einsamer Kämpfer. Für die Demokratie- und Selbstbestimmungsbestrebungen fiel die Angst vor den Deutschen als zentraler Integrationsfaktor der kommunistischen Regime ins Gewicht. Brandts und Bahrs Verdienste, da etwas abgebaut zu haben, kann man nicht hoch genug veranschlagen; darauf sollten wir stolz sein. [Seite der Druckausgabe: 196] Manche Polen und Franzosen haben schon um 1980 frühzeitig erkannt, daß die Stationierung der Pershing die Wiedervereinigung um mindestens 20 Jahre verzögern und die Deutschen daraufhin erst einmal mit sich selbst beschäftigt sein würden. Bahr bemerkte, die SPD sei keine Weltmacht; wir haben aber oft so getan, sogar schon in den 50er Jahren. Als die Partei dann quasi über Nacht in die Opposition ging, litt sie an einem gewissen Phantomschmerz, geprägt wurde die Diskussion vom Verlust der positiven Geltungsmacht innerhalb der Regierung. Die CDU hat seit 1982 massiv die Neben-Außenpolitik mitvertreten in Form von riesigen Angeboten. In der Zukunft müssen wir dafür sorgen, zentrale Elemente der europäischen Nationalstaatsbildung zu stärken. Es bleibt aber dabei: Auch in 15 oder 20 Jahren wird es nur ein Europa der Vaterländer bzw. Mutterländer geben. Egon Bahr: Tatsächlich hatte es eine überragende Bedeutung für die Verbindung von Sicherheitspolitik und nationaler Frage, wenn die Amerikaner einen begrenzten Atomkrieg für führbar hielten, denn der würde nur noch die beiden deutschen Staaten bedrohen. Das daraus resultierende nationale Interesse führte zu einem mutigeren Verhalten bei Honecker als bei Kohl, so es denn irgend ging, die zusätzliche Gefährdung der beiden deutschen Staaten zu verhindern. Eine Arbeitsgruppe, der von Hans Apel bis Oskar Lafontaine so ziemlich alle angehörten, die sich mit dem Thema beschäftigten, formulierte den Ansatz der Sicherheitsgemeinschaft. Das wurde in Sicherheitspartnerschaft umbenannt auf Anregung Apels, dem wir den Hinweis verdankten, daß Kohl in seiner bekannten Rede vor den Vereinten Nationen eben diesen Begriff verwandt hatte. Das nur als Ergänzung zu Herrn von Bredow. Als "roter Patriot" war Bahr froh über das nur sehr langsame Fortschreiten der westeuropäischen Integration, da er glaubte, bei Vollendung der Integration werde die deutsche Einheit nicht mehr stattfinden. Der Widerspruch der Entwicklung lag darin, nach Osten [Seite der Druckausgabe: 197] die Interessen der Nation zu formulieren und nach Westen, im Sinne der Integration, die Aufgabe der Nation als Ideal zu vertreten. Diese Spannung ist noch nicht überwunden, weil man im Westen die Union anstrebt und dabei nicht weiß, wie man mit dem Osten umgehen soll. Es gehört daher zur nationalen Identität die Selbstverständlichkeit, daß die Deutschen in der Mitte Europas 81 Millionen Menschen sind. Dafür ist trotz der Vereinigungskrise die Herstellung der inneren Souveränität vonnöten. Für beides sollten wir uns nicht mehr entschuldigen müssen. Rupert Schröder: Geschichte verläuft nicht in klar durchstrukturierten Strategien, sie läßt sich nicht steuern. Der Wandel der SPD von der schlechthin die deutschen Interessen vertretenden Position der Nachkriegszeit zur - in weiten Teilen - Partei der Binationalität ist vor allem nicht nachvollziehbar, wenn man sich das Geschick Berlins vor Augen hält, das als Doppelstadt nicht denkbar war und auch nicht wünschbar. Durchgehend rational läßt sich die Auseinandersetzung über die deutsche Frage nicht führen. Ein Beispiel dafür sind zwei Kundgebungen in Bonn und Berlin: Auf dem Hofgarten trugen viele Transparente das Zeichen der DDR-Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen". In Berlin, anläßlich des Reagan-Besuches, konnte ein Oppositioneller aus der DDR nicht auftreten. Das wußte eine "Koalition" aus Binationalisten und SEWlern zu verhindern. Wer in der Friedensbewegung des Westens die nationale Frage thematisierte, mußte mit erheblichem Widerstand und mitunter scharfer Ausgrenzung rechnen. Es ist verwunderlich, daß die früheren Vertreter der Binationalität nicht an der Diskussion teilnehmen. Bernd Faulenbach: Etliche waren eingeladen, einige haben sich auch an der Aussprache beteiligt. [Seite der Druckausgabe: 198] Wolfgang Bruckmann: Ob die SPD gut beraten ist, zur Renationalisierung des politischen Diskurses beizutragen, bleibt fraglich. Immerhin kehren mit der Renaissance der Nationalstaaten auch die Exzesse wieder. Man kann nicht an das Nationale im Inneren appellieren, ohne an die außenpolitischen Folgen zu denken - und die sind ohnedies schon schwierig genug: Die deutsche Einheit könnte in Widerspruch geraten zur europäischen Einigung. Die nationale Idee soll dem innenpolitischen Desintegrationsprozeß entgegenwirken. Es wäre jedoch tragisch, wenn die SPD dabei den Rechtsextremisten die Türe offenhalten würde. Tilman Fichter: Weil der Schock und die Scham über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu tief sitzen, kann die Linke in Westdeutschland ihr Identitätsproblem nicht bewältigen. In beiden deutschen Staaten wurden die Verbrechen aus unterschiedlichen Gründen im Laufe der 50er und 60er Jahre totgeschwiegen, und in den 70er Jahren erkannten große Gruppen sie mit Schrecken. Das Grauen führte zu dem Kurzschluß der Linken und des politischen Protestantismus, den Begriff Nation mit Auschwitz gleichzusetzen. Aus der bisherigen Aufarbeitung der Verbrechen ziehen antidemokratische Strömungen Gewinn, während die demokratische Bewegung nicht auf ihre eigene Kraft vertraut. Die Hinnähme der Spaltung bei großen Teilen der SPD und jüngeren Leuten der CDU läßt erkennen, daß sie sich selbst nicht über den Weg trauen. Heinrich Potthoff: Manchmal wird heute etwas kritisiert, was man früher für richtig gehalten hat. Egon Bahr mußte heute seinen sicherheitspolitischen Dialog damit verteidigen, er verfolge die Interessen aller Deutschen. Vor einigen Jahren hielt man ihm deswegen vor, er erliege deutsch-deutschen Illusionen und wolle die Verankerung im westlichen Block aufgeben. Sicherlich ist der kritische Ansatz heutzutage ein anderer als früher. Wir sollten aber nicht vergessen, mit welch geringer Aufmerksamkeit bis vor kurzem über Deutschland in der Politik, viel mehr noch in der Gesellschaft, nachgedacht wurde. [Seite der Druckausgabe: 199] Westdeutschland war seit den späten 60er Jahren geprägt vom Erfolg des Wirtschaftswunders und der Einbindung im demokratisch aufgeklärten Westen. Betont wurde diese Art der Selbstanerkennung von jüngeren, in der SPD beheimateten Leuten und gestützt von der Wissenschaft. Es bestand zudem ein Spannungsverhältnis zwischen nationaler Frage und freiheitlicher Demokratie. Das lief zeitlich nicht zusammen, erst seit 1987/88 fanden sich im internationalen Rahmen neue Möglichkeiten, und eine richtige Gleichzeitigkeit herrscht erst seit dem 9.11.1989. Renate Plachetka: Man kann im Zeitalter des Abbaus von Grenzen kein Nationalgefühl einfach verordnen. Das Zusammenwachsen in Deutschland wird nur gelingen auf der Grundlage des gegenseitigen Sich-Kennenlernens und zahlreicher Begegnungen. Das heißt weiterhin, das wirtschaftliche Gleichgewicht herzustellen, statt den Menschen, die eine historisch nie dagewesene Umstellung durchführen müssen, mit der Arbeit ihr Selbstwertgefühl zu nehmen. Die SPD sollte sich mehr für ein europäisches als für ein Nationalgefühl einsetzen. Das Gerede über die nationale Frage macht Angst und wiederholt überflüssigerweise die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Ribhegge: Die Tagung vernachlässigt vielleicht die historische Tiefe und die europäische Breite. Nach 1945 bestand ein negatives Bild von Deutschland, welches erst durch die Entspannungspolitik friedfertiger gezeichnet werden konnte. Das war die große historische Vorleistung, die die Vereinigung 1990 möglich machte; Kohl konnte nur durchführen, was vorher festgelegt war, man denke an die Frage der Ostgrenze. Markus Meckel: Frau Plachetkas Anregung der innerdeutschen Begegnungen kann man ergänzen: Wir müssen auch über die unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen reden und uns fragen, was wir denn gemeinsam als Deutsche sind. Der Europa-Gedanke [Seite der Druckausgabe: 200] birgt die Gefahr, für die Deutschen einen Status als Sondereuropäer zu verlangen. Ein Franzose oder Pole sagt: Ich bin Franzose, Pole und deshalb bin ich Europäer! Die Deutschen, besonders im Westen, sagen: Ich will nicht Deutscher sein, sondern Europäer! Äußerungen zur Einstaatlichkeit konnten kein christliches Glaubensbekenntnis sein, sie mußten immer die Ost- und Westdeutschland gemeinsam prägende historische Schuld und die daraus folgende gemeinsame deutsche Verantwortung mitdenken. Deshalb ist die Frage schon berechtigt, welche nationale Politik man denn hätte betreiben sollen, um die Wiedervereinigung zu erreichen. Da muß die Ost- und Entspannungspolitik ganz entschieden verteidigt werden: Indem sie den Deutschen seit den 60er Jahren immer zahlreicher werdende Begegnungen erlaubte, war sie ganz wesentlich nationale Politik. Der Vorwurf geht indes nicht in diese Richtung, er fragt statt dessen, ob nicht auf der gesellschaftlichen Ebene das Problem der Demokratie vernachlässigt wurde. Vielen Westdeutschen lagen New York oder die Toskana näher als Berlin oder Leipzig. Wilfried von Bredow: Egon Bahr hat einmal gesagt: Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist! Das war ein überparteilicher Konsens. Die entscheidende Frage in den 70er und 80er Jahren war nicht die nationale, an erster Stelle standen Frieden und Freiheit. Die Wende von 1989 hat die Verknüpfung gestattet. In der Zukunft wird uns die Frage beschäftigen, wie sich Staaten gegeneinander verhalten, wenn die Renationalisierung weiter fortschreitet. So etwas für einen Rückschritt zu halten ins vorige Jahrhundert ist eine nicht ganz treffende Beurteilung, schließlich lassen sich Trends wie Globalisierung und Bildung von Großregionen damit vereinbaren, soweit man es schafft, Blutvergießen zu vermeiden. Herbert Ammon: Die deutsche Frage wurde für nicht lösbar gehalten, weil man sie wegen ihrer Brisanz nicht in Bewegung bringen wollte. [Seite der Druckausgabe: 201] Nunmehr ist sie über uns hereingebrochen, und wir müssen entscheiden, wie wir in Zukunft europäisch damit umgehen. Bewegungen von unten wird man nicht mehr ignorieren können, ebenso die wirtschaftlichen Verteilungsdefizite. Es ist unverständlich, warum diejenigen, die den Grundlagenvertrag erreicht hatten, dessen Ergebnisse einschließlich der Staatsbürgerschaftsfrage in den 80er Jahren preisgeben wollten. Ohne die Staatsbürgerschaftsfrage wäre 1989 nichts in Gang gekommen. Deutschen Jugendlichen eine postnationale Identität anzubieten, ist widersprüchlich: Die Nazi-Verbrechen gehören zur deutschen Identität, mit der sich die Jugendlichen herumschlagen, wenn man ihnen Europa als ideologische Spielwiese einräumt. Hartmut Soell: Jahrzehntelang war die Einschätzung der Sowjetunion vorgegeben durch den Sputnik-Schock und die daraus abgeleiteten militärischen und technologischen Fähigkeiten der SU. Davon hat sie lange gezehrt. Die Prognoseunsicherheit führt in Deutschland dazu, wichtige politische Entscheidungen mehr und mehr dem Verfassungsgericht zuzuschieben. Vieles noch fehlt an europäischer Identität. Es gibt kein europäisches Volk, keine funktionierende europäische öffentliche Meinung, keine europäischen Gewerkschaften oder Parteien. Es gibt eine europäische Kultur in Vielfalt. Im Grunde wird der Identitätsbegriff überdehnt. Eher muß es darum gehen, ganz bewußt deutsche Interessen zu formulieren, dazu gehört die Heranführung der mittelosteuropäischen Staaten an die EG. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999 |