FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 127]

Wolfgang Thierse
Sozialdemokratie, deutsche Nation und europäische Einheit


Ich will ausdrücklich vorweg sagen, für wie wichtig, für wie notwendig und für wie gut ich diese Diskussion halte, weil ich als einer, der aus Ostdeutschland kommt, und ich werde dann darüber sprechen, der Objekt dieser Politik war, immer der Meinung gewesen bin, daß die SPD mit dieser ihrer, wie ich im Grunde finde, alles in allem erfolgreichen Geschichte doch selbstkritisch, gelassen selbstkritisch umgehen kann und soll. Denn wenn man eine Politik besichtigt im Rückblick, muß man nicht alles rechtfertigen, was man im Moment einer ambivalenten Situation, in der man sich zu entscheiden hatte, getan hat.

Im Rückblick ist manches klarer, das kann man auch sagen, und das steht, glaube ich, der SPD sehr gut an. Wir müssen da nicht defensiv, devot, peinlich, schamvoll zurückblicken. Deswegen fand ich die Art und Weise ausgesprochen gut, wie hier kritisch, sachlich, aber auch mit Leidenschaft über eine wichtige Phase der sozialdemokratischen Geschichte debattiert wird.

Meine Bemerkungen jetzt sind natürlich aus ostdeutscher Sicht geprägt, das ist unvermeidlich, und sie sind auch etwas, wie ich zugebe, großzügiger im Rückblick. Ich habe gesagt, aus Gründen auch der Fairneß, sie sind bestimmt von sehr gegenwärtigen Besorgnissen.

Ist der Nationalstaat gut oder schlecht? An dieser Frage scheiden sich die Geister, vor allem in Deutschland und in der westeuropäischen intellektuellen Diskussion. Mich stört an dieser Debatte der manchmal fehlende Realitätsbezug: Es unterliegt nämlich nicht unserem Willen, die Nationalstaaten in Europa - wir reden hier vorerst nur von Europa - zu schaffen oder abzuschaffen: Sie sind einfach da. Der Diskurs müßte vielmehr davon handeln, wie wir mit dieser Tatsache umgehen wollen. Für uns Deutsche ist es allerdings besonders schwer,

[Seite der Druckausgabe: 128]

damit auf gelassene, unverkrampfte Weise umzugehen. Dafür gibt es geschichtliche Gründe genug.

Die Frage, was es bedeutet, Deutsche zu sein, stellt sich nach der Vereinigung, nach dem Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates, neu. Die Irritationen sind nicht geringer als zuvor, im Gegenteil. Das Thema ist umstellt von Tabus, von - eher linken - Abwehrgesten einerseits. In der Frage schon sehen viele vor allem Gefahren: Ein Rückfall in die Untiefen des 19. Jahrhunderts drohe. Und auf der anderen Seite: ein Qualm diffuser Emotionen, derer sich die Rechtsextremisten bemächtigen.

Hören wir genauer hin: Was heißt es, wenn junge Leute ahnungslos, trotzig oder verbohrt wieder sagen: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, und wenn andere, eher ältere, sich dafür schämen, Deutsche zu sein? Zwischen Abwehr und Hypertrophie, scheint mir. ist die Mitte leer in dieser Frage. Gewiß, unschuldig sind wir nicht mehr, aber Abwehr, Verdrängung und Tabuisierung helfen nicht, denke ich. Notwendig, das ist meine Grundüberzeugung, notwendig ist Arbeit an einem nicht-nationalistischen Begriff von Nation, an einem nicht-nationalistischen Verhältnis zur eigenen, deutschen Nation. Ein solches Verhältnis, wie ich es mir wünsche, bedeutet eine kritisch gelassene und zugleich freundliche Bejahung der eigenen Nationalität. Das ist die Voraussetzung für die Respektierung der Nationalität anderer. So verstandene Bejahung der eigenen Nationalität ist also nicht Gegensatz, sondern Teil des Internationalismus.

Es ist ein wenig wie bei der christlichen Nächstenliebe: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es kommt in der Tat unter Menschen ziemlich selten vor, daß derjenige seinen Nächsten liebt, der sich selber haßt oder sich vor lauter Eigenliebe über ihn erhebt. Für ein solch wünschbares, nicht-nationalistisches Verhältnis zur eigenen Nation gibt es - gerade im Blick auf Thema und Diskussionen dieses Kongresses, wie auf meine, auf unsere ostdeutschen Erfahrungen - nutzbare, hoffentlich vitalisierbare Voraussetzungen.

Wenn ich mich richtig erinnere, und ich erinnere mich, wie gesagt, freundlich, war für mich wie für viele DDR-Bürger die Nation immer

[Seite der Druckausgabe: 129]

eine - gewiß zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich als realistisch eingeschätzte, aber doch ungebrochene - Hoffnung, war das Bedürfnis nach Einheit niemals ganz erloschen, aber, und das ist mir wichtig, diese Hoffnung, dieses Bedürfnis waren doch inhaltlich identisch mit der Sehnsucht nach Freiheit, nach Demokratie, nach Wohlstand. (Letzteres vor allem unbestreitbar.)

Das Bedürfnis nach nationaler Einheit war also, glaube ich, ganz und gar nicht nationalistisch - sondern ganz im Gegenteil: Der Wunsch nach Wohlstand, Demokratie, Freiheit hatte unter den obwaltenden geschichtlichen Umständen einen unausweichlich nationalen Charakter, da das Erwünschte ja nebenan, in dem anderen aus der gemeinsamen Geschichte hervorgegangenen deutschen Staat vorhanden und erreichbar war. Die Enttäuschung dieser Hoffnung heute ist die Basis für die Wiederkehr von Nationialismus der neu-reaktionären Setzung der Nation als Selbstzweck. Die Auflösung jener Sehnsuchtsverbindung von nationaler Einheit mit Freiheit, Demokratie und Wohlstand, jener Sehnsuchtsverbindung, die mir in dieser Frage das kostbarste Erbe aus der DDR-Geschichte zu sein scheint, ist das Gefährliche der gegenwärtigen Situation, daß diese Verbindung verloren zu gehen droht. Die Genauigkeit des Rückblicks auf das, was wir im Osten wie im Westen mit der nationalen Einheit gemeint und gewollt haben, scheint mir deshalb notwendig und hilfreich zu sein.

Hat die westdeutsche SPD - am Schluß wenigstens - die nationale Einheit aufgegeben, hat sie die ostdeutschen Hoffnungen verraten? So wird gefragt, so lautet der Vorwurf. Die Antwort scheint mir klar:

Von Kurt Schumacher bis Willy Brandt und Helmut Schmidt war die SPD die Partei der nationalen Einheit - aber eben nicht bloß der nationalen Rhetorik, sondern immer mehr und immer erfolgreicher der konkreten Taten für den Zusammenhalt der Nation.

Die Politik der SPD war im genauen Sinne eine nicht-nationalistische Politik für die eigene Nation; denn wer war der Adressat der Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs? Das

[Seite der Druckausgabe: 130]

waren doch wir, die Ostdeutschen, denen für sich selbst Politik zu machen nicht möglich war.

Und man kann über ein solches Thema nicht ganz ohne persönliche Erinnerung reden. Und meine politischen Erinnerungen sind schon durch die 50er Jahre geprägt. 1953 war ich ein kleiner Junge, aber ich werde nie das Gesicht meines Vaters vergessen, jene Enttäuschung, jene Erfahrung einer Niederlage, und da nebenan redet der Bundeskanzler von den armen Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone und von der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, und es tut sich nichts. 1956 eine ähnliche Erfahrung, und 1961 wird diese Erfahrung besiegelt: Wir sind alleine gelassen, und eine bestimmte Rhetorik, die nationale Rhetorik, hat uns jedenfalls im Konkreten nichts gebracht, im Gegenteil, wir konnten für uns selbst nichts tun. Deswegen erinnere ich mich auch aus diesem Grundgefühl der Ohnmacht, was etwa so ein kleiner Schritt wie das Passierscheinabkommen bedeutet hat, daß da andere für Menschen etwas Kleines erreichten, die es für sich selber nicht erreichen konnten.

Ich finde wichtig, sich an diesen Grundansatz dieser Politik zu erinnern, um sie insgesamt gerecht zu bewerten. Es ging, denke ich, trotzdem und gerade in dieser Konkretion um eine Politik des nationalen Zusammenhalts durch Ermöglichung von Schritten, gewiß von ganz kleinen Schritten, zu etwas mehr Freiheit, etwas mehr Wohlstand in der DDR und auch im Osten Europas.

Diese Politik der Zuwendung zu uns, den ohnmächtigen Ostdeutschen, durch Verhandlungen mit den über uns Mächtigen erregte deshalb auch so viele Hoffnungen und unausweichlich auch Enttäuschungen, weil sie immer nur kleine Teilerfolge erzielen konnte, die immer zu wenig waren gegenüber den Hoffnungen.

Es ist, so scheint mir, ungerecht, heute den Sozialdemokraten nachzusagen, ihre Ostpolitik habe insgesamt die Menschenrechte vernachlässigt, habe dazu nicht genug gesagt. Willy Brandt hatte mit dem Rückhalt des gesamten Westens der Sowjetunion ihre KSZE aus der Hand genommen. Das Ja dazu hing plötzlich davon ab, daß die Sowjetunion sich auch mit den Menschenrechten zu befassen und

[Seite der Druckausgabe: 131]

Vereinbarungen darüber zu treffen hatte. Und das Ja der Sowjetunion kam trotzdem.

Ich weiß nicht, aber ich frage mich: Wäre dies ohne den diplomatischen, protokollarisch korrekten und gelegentlich auch persönlich eingefärbten Kontakt mit den Machthabern, konkret auch mit dem Symbol der unterdrückenden Stagnation, Breschnew, möglich geworden? Ich weiß es nicht. Die SPD hat ihre Kontakte genutzt und vielen Opfern der stalinistischen Diktaturen helfen können. Kleine Schritte sind besser als große Worte. So ist es.

Die Macht und Stabilität des Ostblocks haben die westdeutschen Sozialdemokraten - ebenso wie, das muß man allerdings dazusagen, ebenso wie bis zum Ende der DDR, bis in den Herbst 1989 hinein die ostdeutschen Oppositionsgruppen und auch die SDP-Gründer - überschätzt. Und die DDR-Opposition überschätzt sich selbst, wenn sie sich heute beklagt, Sozialdemokraten hätten sie nicht hinreichend kontaktiert. In Wirklichkeit traf man sich in der Friedensbewegung und bei vielfachen persönlichen Kontakten - und mehr war ja auch nicht! Es gab nicht die Gruppe, den Sprecher in der DDR, der für alle hätte sprechen können. Es gab in der DDR weder eine Solidarnosc noch einen Vaclav Havel, leider, und ich sage es ohne Vorwurf, denn auch dafür gab es Gründe, die mit der nationalen Sondersituation der DDR zu tun hatten. Keiner hat gesagt, oder kaum einer: Die Leute haben es satt, an und mit der DDR herumzuexperimentieren, besser, auf ihrem Rücken experimentieren zu lassen - und auf ein späteres, besseres Leben vertröstet zu werden, das der einzelne vielleicht gar nicht mehr erreicht.

Das war übrigens auch nicht die Haltung der DDR-Opposition, die am Ende der 80er Jahre endlich unübersehbar wurde. Deren, unsere überlebensnotwendige Hypothese hieß durchaus anders, aber bewußt als eine überlebensnotwendige Hypothese. Sie hieß: Es muß einen verbesserlichen Sozialismus geben. Das Wort ist von Heino Falke, dem Probst der evangelischen Kirche in Thüringen. Es war eine überlebensnotwendige Hypothese, da man sonst hätte resignieren müssen. Aber es kann doch sein, daß diese Hypothese der Behaup

[Seite der Druckausgabe: 132]

tung, der Annahme einer Reformfähigkeit dieses Systems entsprochen hat.

Wir wissen, daß diese Behauptung von der Reformfähigkeit analytisch falsch war. Aber vielleicht war sie auch eine der Voraussetzungen für konkrete Politik mit den Ostblockstaaten. Ich finde, es ist müßig, im nachhinein revolutionäre Situationen in der DDR herbeiphantasieren zu wollen, die es nach meiner Überzeugung in der DDR nicht gab, die deshalb auch nicht von westlichen Stabilitätsfanatikern übersehen oder gar verhindert worden wären.

Mit Polen ist das etwas anderes. Solidarnosc war für uns im Osten eine Hoffnung. Unsere Herrschaften hatten das bemerkt und behinderten den Kontakt zwischen Ostdeutschen und Polen. Im Westen hatte man eher Angst um die Stabilität und glaubte nur zu gern, was - wie wir in den letzten Wochen gehört haben - sich als gutgestrickte Legende entpuppt: Man glaubte, Solidarnosc wird den vierten sowjetischen Einmarsch nach 1953 (da waren sie ja schon da) 1956 und 1968 zur Folge haben. Wir haben das jedenfalls auch gefürchtet, erlebten wir doch klare Anzeichen einer Mobilmachung der NVA.

Die Zeitgeschichtler werden uns alsbald sagen können, ob wir uns da auch geirrt haben. Jedenfalls hielten wir es für möglich, und das sagt doch alles über die ost- wie westdeutschen Wahrnehmungen in der Welt des Kalten Krieges oder seines Erbes. Grundsätzlich war es deshalb richtig, glaube ich, und auch sogar moralisch, im Atomzeitalter der Abwendung des Ost-West-Krieges die Priorität einzuräumen. Auch das war Grundüberzeugung der ostdeutschen Friedensbewegung. Man soll das nicht verdrängen, daß dem Frieden die Priorität einzuräumen ist. Noch in den Papieren von 1989 findet sich der Widerschein dieser Grundüberzeugung.

Spätestens 1989 aber war die Sorge um die Stabilität dann endgültig obsolet, denn die Stabilität war dahin. In Polen und Ungarn betrieben die Kommunisten ihre Entmachtung geradezu selbst. Gorbatschow wußte offenbar nicht, daß er es auch tat, und in der DDR herrschte "oben" Agonie. Endlich konnten wir unsere Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, die Objektrolle abstreifen.

[Seite der Druckausgabe: 133]

Ich habe Egon Bahr so verstanden, daß die Signale vom bevorstehenden Zusammenbruch der DDR auch deshalb im Westen nicht ankamen, weil das vorherrschende Bild von der DDR- "Nieschengesellschaft" solche zunächst eher leisen Signale immer wieder dementierte, vor allem aber weil Polen, Ungarn und Gorbatschow zu beweisen schienen, daß die Wende tatsächlich von "oben" oder durch Assistenz wenigstens der kommunistischen Parteien bzw. deren eigene Veränderung erfolgen würde.

Die andere Ursache für eine partielle "Blindheit", wenn ich es so nennen darf, war das eigene Konzept: der Versuch, über Sicherheitspartnerschaft zu einer Veränderung des Systems in Stabilität beizutragen, die unausweichlich den Menschenrechten dienen mußte. Dabei wurde übersehen, daß der Druck, der wegverhandelt werden sollte, 1989 längst nicht mehr wirkte. Die Völker unter der Macht des Sowjetsystems nahmen diesen Druck nicht mehr ernst und sahen deswegen in dem eingeschlagenen Weg einen vermeidbaren Umweg. Diesen Irrtum auf den letzten Metern der Entwicklung hat Egon Bahr von sich aus, wenn ich mich richtig erinnere, sehr früh eingeräumt. Das relativiert seine Lebensleistung nicht, denke ich - im Gegenteil.

Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD, auch in der Opposition, hat trotz aller Fehler ostdeutsche Spielräume erhöht, unsere Informationen verbessert, den Frieden, und ich erinnere an unsere Grundüberzeugung, sicherer gemacht, alles Voraussetzungen für den Herbst 1989, der dennoch nicht eine einfach logische, unausweichliche Konsequenz dieser Politik gewesen ist. Das zu behaupten wäre allzu billige Apologetik! Denn weggejagt haben wir am Schluß, ganz am Schluß die SED schließlich selbst, wir, das Volk der DDR. Mit der Parole "Wir sind das Volk, wir bleiben hier!", konnten wir die Herrschenden tatsächlich bedrohen. Dies war zugleich ein Akt der Subjektwerdung der ostdeutschen Bevölkerung: Aus dem unterdrückten Objekt von SED-Politik und dem Adressaten westdeutscher Politik wurde endlich ein eigenes politisches Subjekt! Übrigens auf durchaus nicht-nationalistische Weise. Aber dies hat eine Vorgeschichte. Vielleicht ist das der entscheidende Fehler der westdeutschen Sozi

[Seite der Druckausgabe: 134]

aldemokraten, daß sie nicht früh genug, u. a. als einem Ergebnis ihrer eigenen Entspannungspolitik in den 70er Jahren, bemerkt haben, daß da ein neues Subjekt in den osteuropäischen Ländern entsteht, das politisch handeln will und das beginnt zu handeln. Vielleicht war dies der eigentliche Fehler.

Die vielfache Erfahrung heute nun, nach drei Jahren staatlicher Einheit, doch wieder vor allem Objekt von Politik zu sein - ich fürchte, diese Erfahrung macht nicht wenige verführbar zu einem neuen alten Nationalismus.

Wir haben in Deutschland gemeinsam kein - in Anführungsstrichen sage ich das Wort nur, weil ich weiß, wie furchtbar das wirkt - kein "normales" Verhältnis zur eigenen Nationalität, sagen viele. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit reiche nicht aus zu solidarischer Anstrengung, zur Mobilisierung von Leistungskraft und Opferbereitschaft für eine gemeinsame Aufbauleistung von Gerolstein bis Görlitz. Ich bin nicht sicher, wie stark die Motivationskraft des Nationalen in Deutschland sein könnte, sein dürfte. Manchmal erscheint sie mir allerdings zu gering. Aber man macht es sich zu einfach, wenn man meint, nur weil es daran fehle, schaffen wir es nicht. Erstens werden wir es schaffen, weil wir es schaffen müssen. Das glauben übrigens auch unsere europäischen Nachbarn, die von einem Scheitern der inneren Einigung Deutschlands überhaupt nichts haben, im Gegenteil. Eine andere Mehrheit in Bonn wäre übrigens dabei ganz nützlich.

Zweitens hat es an anderem gefehlt, z. B. daran, daß der Kanzler 1989 zwar den Mantel der Geschichte gespürt hat, aber nur den Zipfel der staatlichen Einheit erwischen konnte, den der offenbaren Bereitschaft, dann auch an der gesellschaftlichen Einheit zu arbeiten, hat er verschmäht.

Die gesellschaftliche Einheit herzustellen nämlich ist die eigentliche Aufgabe oder an der inneren Überwindung der Teilung, an der inneren Einigung, zu arbeiten, wie Stephan Hilsberg richtig gesagt hat, weil die vergangenen 40 Jahre staatlicher Trennung ein erhebliches Mehr an sozialer, kultureller, mentaler Fremdheit und Un

[Seite der Druckausgabe: 135]

gleichzeitigkeit erzeugt haben, als wir wußten, und weil die Politik der Bundesregierung ein solches Ausmaß von politischer, ökonomischer, sozialer Ungleichheit zugelassen oder bewirkt hat, daß dies zu einer Gefährdung des Zusammenwachsens der Deutschen geworden ist.

Vor dem Hintergrund dieser für unsere Nation existentiellen Aufgabe - die außerordentlichen politischen, ökonomischen, sozialen und mentalen Probleme der Einigung zu bewältigen -, vor dem Hintergrund dieser Aufgabe muß das definiert werden, was man trotz allen Mißklangs, aller angstvollen Abwehr unser "nationales Interesse" nennen kann. Es geht also nicht um eine deutsche Außenpolitik, die unter dem Slogan von der "gewachsenen Verantwortung Deutschlands" an deutschem Prestige als Ersatzdroge für ausbleibende innenpolitische Problemlösungen bastelt.

Deutschland ist mit schweren Problemen beladen, aber Deutschland ist kein Jammertal. Uns geht es materiell nicht nur besser als den Polen oder Russen, vielmehr gibt es nur wenige Staaten auf der Welt, in denen es den Menschen noch etwas besser geht als bei uns. Leider ändert das nichts daran, daß es zumindest den Westdeutschen schon einmal besser ging und die Ostdeutschen die soziale Sicherheit vermissen, an die sie auf ökonomisch verquere Weise im SED-Staat gewöhnt waren. Deutschland hat ein paar Rangplätze verloren in der Hitliste der reichsten und produktivsten Länder der Welt, nichtsdestotrotz gehören wir ohne jeden Zweifel weiterhin zu ihnen. Das gibt Macht und Einfluß. Und wie bei der Debatte darüber, ob Nation gut oder schlecht ist, reden viele unnützerweise davon, ob wir mehr Einfluß haben wollen oder nicht. Das ist nicht die Frage, denke ich. Die Frage ist, was wir damit machen wollen. Vor allem wollen wir die Einheit Europas befördern, das ist eine durch die deutsche Einigung nicht aufgehobene Grundintention deutscher, auch sozialdemokratischer Politik. Im Gegenteil: Im Blick auf die deutsche Einigung hatten wir dieses Ziel schon in den Koalitionsvertrag der großen Koalition in der DDR hineingeschrieben. Aber das europäische Projekt steht vor früher nicht bedachten Schwierigkeiten. Viele Europäer wollen aus

[Seite der Druckausgabe: 136]

wirtschaftlichen Gründen herein in die EG - aus nationalen Gründen gibt es Vorbehalte. Kriege in Jugoslawien, Georgien, Aserbeidschan, Armenien sind Menetekel für die Folgen der Renaissance eines archaischen Nationalismus. Tschechen und Slowaken trennen sich staatlich voneinander, ohne die Folgen zu bedenken. Sie haben sich kaum wirklich dadurch genutzt. Ehemalige Sowjetrepubliken könnten vermutlich schneller aus dem wirtschaftlichen Desaster herausfinden, wenn sie miteinander offenen Handel betreiben würden, statt sich in falsch verstandenem Nationalbewußtsein sei nach jahrzehntelanger Unterdrückung voneinander abzugrenzen.

Es ist kein Zufall, daß sich die westeuropäische Rechte auf die EG-Integration stürzt. Da sehen sie für sich Mobilisierungschancen. Es ist nicht allein die dumpfe Reaktion derjenigen, die am Ende der sozialen Hierarchie stehen und nur noch den Fremden haben, auf den sie glauben, herabblicken zu müssen. Das Gefühl von Heimatlosigkeit, meine ich, beschleicht auch ganz andere Schichten, viel weiter oben in den Rängen der Gesellschaft. Es gibt eine Angst vor Anonymität, vor Verlust der eigenen Identität, die durchaus verständlich ist. Trotzdem bleibt die Einsicht plausibel und vernünftig, daß weder die zentralen Probleme des Alltäglichen noch die der Zukunftssicherung allein nationalstaatlich zu lösen sind: Das gilt für die Lenkung der Verkehrsströme ebenso wie für einen wirklich wirksamen Umweltschutz, für eine menschenwürdige Zuwanderungspolitik ebenso wie für eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung. Der schlichte Satz, die Welt sei kleiner geworden, hat enorme Folgen. Vieles wird zur globalen Herausforderung, das zwingt zur Zusammenarbeit. Die illustre Standortdebatte unserer Tage handelt ja leider nur von Deutschland. Aber auch unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit können wir nur mit den anderen EG-Mitgliedern zusammen sichern und verbessern, durch bloße nationale Wirtschaftspolitik können wir es nicht. Die weitere EG-Integration ist also notwendig, sie ist ohne vernünftige Alternative.

Die These, daß der Nationalstaat immer unbedeutender werde, hat also überzeugende Argumente für sich.

[Seite der Druckausgabe: 137]

Auf der anderen Seite steht das diffuse, aber verbreitete Gefühl des Verlustes von Heimat. Dies hat zu tun mit der wachsenden Entfernung politischer Entscheidungen von den betroffenen Bürgern. Dagegen könnte man etwas unternehmen, z. B. müßte man das in Maastricht verankerte Subsidiaritäts-Prinzip sehr ernst nehmen, so ernst, daß in Brüssel bei jeder Entscheidung zunächst geprüft wird:

Müssen wir das wirklich zwischen den Mitgliedern einheitlich regeln? Ich empfehle damit so ziemlich das Gegenteil des heutigen Zustands, wo man nur die Gründe sucht, die für eine einheitliche Regelung selbst noch der Beschaffenheit von Knoblauchzehen sprechen. Politisch relativ wenig, so meine ich, kann man gegen die Folgen unserer Produktionsweise unternehmen, gegen die Tendenz, daß sich die Waren kaum noch voneinander unterscheiden und unter dem Diktat von Produktivitätskriterien, Arbeitszeiten und elektronischen Medien auch die Lebensweisen von Deutschen und Portugiesen, Spaniern und Franzosen sich einander annähern, also ein Prozeß der kulturellen "Uniformierung" Europas im Gange ist, der verständlicherweise regionale und nationale Abwehrkräfte auslöst. Neben der Angst vor dem Verlust heimatlicher Identität ist es die gesellschaftliche Entsolidarisierung, die integrationsfeindliche Folgen hat. Wie soll denn eine europäische Integration vorangetrieben werden können, wenn sich der Graben zwischen Ost- und Westdeutschen ebenso wie der zwischen Nord- und Süditalienern weiter vertieft? Wer zuhause Separierung betreibt, weil man die armen Verwandten nicht weiter durchfüttern will, kann international Integration und Erweiterung nicht vorantreiben.

Ich habe jetzt, wenn Sie so wollen, sichtbare Beispiele für systemimmanente Behinderungen des notwendigen Internationalisierungsprozesses aufgezählt. Zum Glück ist inzwischen im Zuge des Maastricht-Prozesses die Aufmerksamkeit verstärkt auf solche Hindernisse gelenkt worden. Wir sollten sie nicht mehr aus den Augen verlieren.

Die größte Irritation aber kommt aus Osteuropa. Allen rationalen oder funktionalen Argumenten für die Relativierung des Nationalen stehen die osteuropäischen Revolutionserfahrungen und die heutigen

[Seite der Druckausgabe: 138]

stehen die osteuropäischen Revolutionserfahrungen und die heutigen osteuropäischen Realitäten entgegen. Die Opposition und schließlich der Sieg über den Stalinismus kamen überall in der Form der Rückbesinnung auf das Nationale zustande. In dieser Form sammelte sich das Volk mit den Opponenten gegen die kommunistische Herrschaft. Unbedeutend also sind die Nationen und die Nationalstaaten keineswegs. Sie haben der schwerwiegendsten und umfassendsten Umwälzung in Europa seit über 40 Jahren Gestalt gegeben, ihr als Hauptinstrument gedient. Und deshalb halte ich den alsbaldigen Abschied von der Nation für eine schlichte Illusion. Nation, Nationalstaat, Nationalismus waren die offensichtlich geschichtlich unausweichliche osteuropäische Form der Emanzipation vom realen Kommunismus. Worauf es jetzt aber ankommt, ist zu verhindern, daß aus der Form der Inhalt wird, weil sonst Chauvinismus und Faschismus daraus zu werden drohen. Jugoslawien ist dafür nur ein schlimmes Menetekel. Auf eine Frage von mir, wovor Adam Michnik am meisten Angst habe, antwortete er, vor einem Nationalismus mit bolschewistischem Antlitz.

Um solcherart gefährliche Entwicklungen aufzuhalten und in unserem ureigenen nationalen Interesse an einer stabilen, friedlichen Entwicklung in Ost- und Ostmitteleuropa brauchen wir eine neue "Ostpolitik". Deren wichtigstes Ziel muß sein: eine verläßliche Perspektive für die ehemals kommunistischen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Für einige bedeutet das ohne Zweifel die spätere Mitgliedschaft in der EG; manche haben bereits eine Zusicherung dafür. Alle aber haben Anspruch auf die nachhaltige Unterstützung ihres Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft und von der Diktatur zur Demokratie.

Betrachten wir nur unseren eigenen Aufwand in Deutschland, in Ostdeutschland, unsere eigenen, unermeßlich scheinenden Schwierigkeiten bei dem einfachsten dieser Transformationsprozesse - der ostdeutsche ist sicher der einfachste, obwohl es aus der Nähe natürlich ganz anders aussieht. Dann wird es unbezweifelbar, daß weder Deutschland noch die EG allein wirksame Unterstützung zu leisten

[Seite der Druckausgabe: 139]

vermögen. Der Herausforderung müssen sich auch die USA und Japan stellen.

Dabei machen die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den nachkommunistischen Staaten, auch und insbesondere zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, von denen Rußland weiter eine weltpolitische Rolle spielen wird, die Aufgabe nicht einfacher. Jede Form der Zusammenarbeit muß diese Unterschiede in Rechnung stellen.

Was heißt Unterstützung? Die Formel "Hilfe zur Selbsthilfe" macht nur undeutlich klar, daß ihr Erfolg auf den Willen zur Reform und seine entschlossene Umsetzung in den Reformstaaten selbst angewiesen ist. Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet aber auch, diesen Staaten Zugang zu unseren Märkten in immer größerem Umfang zu ermöglichen. Dann könnten sie auf der Grundlage eigener Anstrengung Ziele erreichen, die durch keine noch so großzügige Zuwendung aus staatlichen oder gemeinschaftlichen Kassen anderer erreicht werden könnten. Die politische Unterstützung ist nicht nach ihrer Höhe, sondern nach ihrer langfristigen Wirkung auszurichten. Sie erfolgt auf mehrfache Weise: finanzielle und technische Hilfe, Schuldenerleichterung, Beratungsleistungen zum Aufbau sozialstaatlicher Infrastruktur und rechtsstaatlicher Verwaltung, Konversion militärischer Anlagen und humanitäre Hilfe. Wir wollen dabei soziale Beziehungen nicht zerstören und die Umwelt wirksamer schützen - wie schwer das immer wieder ist, gehört inzwischen zu unserer Alltagserfahrung.

Die Mobilisierung von Kapital und von Devisen kann mit diesen Mitteln dagegen nicht gelingen. Deshalb müssen die Handelsbarrieren der EG gegen bestimmte Importe abgebaut werden und den Reformstaaten zugleich die Möglichkeit eingeräumt werden, sich durch Zölle, Devisenbewirtschaftung und welche Instrumente noch in Frage kommen, gegenüber den entwickelteren Volkswirtschaften zu schützen. Ich weiß, welchen protektionistischen Versuchungen man erliegen könnte, angesichts unserer eigenen ökonomischen Krise. Und das wird ja diskutiert, daß wir uns gegen Osteuropa schützen müssen. Wer aber eine neue Ostpolitik will, es weiter ernst meint mit Versöhnung,

[Seite der Druckausgabe: 140]

guter Nachbarschaft und gesamteuropäischer Stabilität, wird diesen Versuchungen widerstehen müssen. Machen wir EG-weit unsere wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Hausaufgaben, statt uns durch Abschottung, also auf dem Rücken unserer Nachbarn, sanieren zu wollen! Es würde ohnehin nicht gelingen, die Arbeitslosigkeit lediglich exportieren und langfristig allen, auch uns selbst, schaden.

Die Hausaufgaben und die ostpolitischen Aufgaben lassen sich sogar mit etwas Phantasie verbinden: Es ist doch unser eigenes, vitales Interesse, die ökologischen Belastungen durch veraltete rohstoffintensive Produktion zu verringern, die Gefahren der Kernkraftwerke sowjetischer Bauweise zu bannen, die Nachfrage nach ostdeutschen Produkten zu stärken und die unheilvolle soziale und Wohlstandsdiskrepanz an der Ostgrenze der EG zu verringern.

Die bisherigen Programme der Bundesrepublik ebenso wie der EG reichen offenbar nicht aus, um die wichtigsten Mängel der osteuropäischen Volkswirtschaften zu beheben. In den letzten Jahrzehnten hat die DDR eine wichtige Rolle als Zulieferer von Investitionsgütern für Industrie und Infrastruktur im Osten Europas gespielt. Daran anzuknüpfen wäre auch ein entscheidender Beitrag zur "Erhaltung der industriellen Kerne" in Ostdeutschland. Zusätzlich zu Krediten, Bartergeschäften und Bürgschaften können auch Mittel der Arbeitsförderung in ein Programm integriert werden, das der Instandsetzung und dem Ausbau der Infrastruktur, der industriellen Ausrüstung und der Verbesserung der Landwirtschaftstechnik in Osteuropa dient.

Unterstützung für unsere nachkommunistischen Nachbarstaaten und eigene Arbeitsmarktpolitik, unsere eigene Exportförderung und Standorterhaltung in Ostdeutschland lassen sich also trefflich in einem, wie ich es nennen möchte, "Osteuropahilfeprogramm" verbinden. Es würde zum allergrößten Teil aus Mitteln gespeist werden können, die ohnehin schon jetzt zur Verfügung stehen und ausgegeben werden. Allerdings, die deutsche Wirtschaft selbst sollte aus ihrer eigenen Verantwortung nicht entlassen werden. Kooperationen, längerfristige Investitionen, Einkäufe von Energie und von Rohstoffen dienen auch uns. Wer kaufen soll, muß liefern dürfen. Das gilt in

[Seite der Druckausgabe: 141]

beide Richtungen. Ein "Ostausschuß der europäischen Wirtschaft" könnte die während der Transformation unerläßliche Koordinierung dieser Aktivitäten auf der Grundlage wirklich verläßlicher politischer Rahmenbedingungen leisten. Firmenkooperationen zwischen ostdeutschen und osteuropäischen Unternehmen sichern auch bei uns Arbeitsplätze. Also, die Hilfe, die eine neue Ostpolitik anbietet, ist nicht nur altruistisch, sie kann beiden Seiten nutzen, der ostdeutschen Wirtschaft insbesondere.

Wenn die Erfahrung freien Handels mit der EG auch den freien Handel zwischen den nachkommunistischen Staaten untereinander wieder in Gang setzte und förderte, wenn sich wirtschaftspolitische Großräume bildeten, die untereinander und mit der EG kooperieren, hätte diese neue Ostpolitik ein großes Ziel erreicht. Übrigens brauchen wir auch eine sicherheitspolitische Neue Ostpolitik. Die Veränderung der NATO, der Trend zur Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen NATO-Kooperationsrat und KSZE bieten die Chancen zur Entwicklung einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung. Im Zuge dessen steht auch früher oder später eine Erweiterung der NATO um neue Mitglieder auf der Tagesordnung, nicht jedoch, um neue Konfliktlinien nach außen zu bilden oder vorhandene alte zu verschärfen, sondern um wirklich das kollektive europäische Sicherheitssystem zu schaffen.

Ich komme zum Schluß und nenne noch einmal die Thesen, die ich vertreten wollte:

  1. Offenbar ist die Nation, sind die Nationen europäische Tatsachen, an denen wir uns nicht vorbeimogeln können. Es gibt derzeit keine Aussichten auf ihren Rückzug aus der Geschichte. Damit muß auch die SPD leben. Nationen als Quelle allen Übels zu betrachten, das ist zwar vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eine nicht unverständliche Einstellung, aber wer nur diese Gefahren sieht, sieht falsch. Nationen sind ihren Angehörigen ein Zuhause. Diese schlichte Lebenstatsache ist Bestandteil der Wirklichkeit, mit der wir politisch umzugehen haben.

    [Seite der Druckausgabe: 142]

  2. Die deutsche Nation hat nach wie vor eine besondere Verantwortung dafür, daß zunächst einmal der eigene Nationalismus nicht die Grenzen übertritt, die die Deutschen selbst in der Nacht zum 3. Oktober 1990 freiwillig und wohltuenderweise eingehalten haben.

  3. Deutsche Probleme anders zu lösen, sich anders zu verhalten in bestimmten Fragen, als es die Franzosen, die Briten, die Italiener, Polen und Russen jeweils tun, heißt nicht, einen Sonderweg zu beschreiten. Wir sind nichts Besonderes, aber Unterschiede sind normal. Deutsche Außenpolitik kann, indem sie auf Unterschieden durchaus besteht und eigene Interessen und eigene historische Verantwortlichkeiten berücksichtigt, erheblich dazu beitragen, daß Nation-Sein und Abgrenzung auf Kosten anderer Treiben nicht dasselbe sind.

  4. Europäische Integration, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit zum Nutzen aller Beteiligten sind für uns handlungsleitende Lehren aus der Geschichte. Sie sind zugleich die Grundüberzeugungen, auf denen sich Strategien zur Bewältigung der globalen Probleme aufbauen lassen, die genaugenommen unsere ureigenen Probleme sind: Umweltschutz, Wohlstandssicherung, Hunger und Elend besiegen, den Frieden wieder sicherer machen, der auf ganz andere Weise als vor 1989 unsicher geworden ist.

  5. Frieden und Stabilität in Europa werden nur erreicht und bewahrt, wenn wir über den Tellerrand der EG- und Efta-Staaten hinausschauen. Ich bin skeptisch, ob sich die europäische Vielfalt von einer Hauptstadt aus zentralistisch und exhaustiv regieren läßt. Aber ich bin sicher, daß die Ausgrenzung Europäischer Völker aus dem europäischen Projekt nur schaden kann.

  6. Nationalistische Abwehr gegen die Europäische Gemeinschaft und darauf fußende rechtsextremistische Erfolge sind aktiv zu bekämpfen. Die, die ihre gegenseitige Integration jetzt vorantreiben müssen und können, werden damit allerdings nur erfolgreich sein, wenn die Demokratie nicht auf der Strecke bleibt, wenn in diesem großen Rahmen so viele Entscheidungen wie möglich so nahe wie möglich bei und mit den Bürgern getroffen werden. Schließlich müssen wir die Gefühle von Heimat, von regionaler und nationaler Iden

[Seite der Druckausgabe: 143]

tität respektieren. Die Verstärkung der demokratischen Selbstbestimmung im Sinne der "Bürgergesellschaft" scheint mir die angemessene politische Form dieses Respekts. Werden die Möglichkeiten dazu wegzentralisiert, hat ein einiges Europa keine Chance. Bürgergesellschaft in den Regionen und Nationen einer erweiterten Europäischen Gemeinschaft muß mehr sein als die uns geläufige kommunale Selbstverwaltung. Aber sie ist sicher viel weniger als die nationale Souveränität in ihrem vormodernen Verständnis, das heute nur ein Mißverständnis sein kann.

Wie hieß es bei Stefan Jerchilet? Wenn wir nicht aufpassen, hat er recht mit seinem Aphorismus: "Jetzt bist du mit dem Kopf durch die Wand, und was wirst du in der Nachbarzelle tun?"

[Seite der Druckausgabe: 144]






© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

Previous Page TOC Next Page