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Egon Bahr
Die Deutschlandpolitik der SPD nach dem Kriege


Deutschlandpolitik war die Geschichte, wie Deutschland wieder Politik machen könnte. Es ist ein überschaubarer Abschnitt zwischen dem Mai 1945, als alle Rechte und Kompetenzen des Reiches mit der bedingungslosen Kapitulation auf die Sieger übergingen, bis zum März 1991, als Deutschland diese Rechte und Kompetenzen mit der Ratifizierung des Friedensvertrages wieder erhielt, der aus mehreren Gründen das Zwei-plus-Vier-Abkommen genannt wurde. Die SPD hat an dieser Geschichte einen Anteil, auf den sie stolz sein kann.

Ich will im folgenden den Versuch machen, diese Geschichte in zwei Abschnitten darzustellen, einmal bis zum Jahr 1982, als wir die Regierungsverantwortung in Bonn verloren, und dann bis zur Vollendung der völkerrechtlichen und staatlichen Einheit. Die ungleiche Gewichtung, für mehr als 30 Jahre nicht mehr Raum zu beanspruchen als für die neun Jahre danach - sogar weniger noch -, ergibt sich aus zwei typisch sozialdemokratischen Erwägungen: Zum einen lieben wir es weniger als andere, über einen Erfolg zu sprechen, und die erste Phase der Ostpolitik ist national wie international anerkannt und praktisch unumstritten. Das kann man für die zweite Phase der Ostpolitik nicht sagen. Hier besteht ein Bedarf nach Klärung, die selbst dann notwendig ist, wenn sie schmerzhaft ist. Wir fassen es als einen Beitrag zur inneren deutschen Einheit auf, wenn wir Klarheit anstreben, wie das denn nun eigentlich war in den beiden deutschen Teilen, was gedacht und erstrebt wurde, Irrtümer eingeschlossen. Daß andere Parteien damit kaum begonnen haben, soll die SPD nicht davon abhalten.



I.

Zur Deutschlandpolitik gehörte sicher die Entscheidung der SPD, 1946 die Zwangsverschmelzung mit den Kommunisten abzulehnen,

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so daß sich die SED nur dort formieren konnte, wo es die Bajonette der sowjetischen Armee gab: die sowjetische Besatzungszone und Ostberlin. Beide Aspekte sind richtig: Ohne diese Entscheidung wäre die deutsche Geschichte anders verlaufen; gleichzeitig war sie ein deutscher Beitrag zur deutschen Teilung, der bei CDU und FDP bzw. LDP unterschiedlich, aber mit gleichem Ergebnis verlief.

Es darf auch nicht vergessen werden, daß der Selbstbehauptungswille der Berliner, inspiriert durch Ernst Reuter, der entscheidende Faktor war, um die sowjetische Blockade zum Scheitern zu bringen; denn ohne diesen Selbstbehauptungswillen wäre die Luftbrücke wirkungslos geblieben. Berlin ließ so aus Gegnern Freunde und Verbündete werden und legte den Grundstein des Vertrauens, auf dem dann 1949 die Bundesrepublik aufgebaut werden konnte.

Hier zeigte sich ein Unterschied zwischen Schumacher und Adenauer in der Methodik deutscher Politik gegenüber den Siegern, der Jahrzehnte wirksam blieb. Schumacher und Reuter wie später Brandt gehörten zu der Minderheit der Deutschen, die sich 1945 befreit gefühlt hatten und daraus ein unbefangenes Selbstbewußtsein und das Gefühl der Gleichberechtigung empfanden, das ihnen innerhalb und außerhalb des Landes den Vorwurf des Nationalismus eintrug. Dabei waren alle drei Internationalisten. Schumacher setzte sich damals nur einmal gegen Adenauer durch, als er das deutsche Gewicht, in diesem Fall die unentbehrliche Zustimmung der SPD zum Grundgesetz, gegen die drei Militärgouverneure voll zur Wirkung brachte: Ohne ihn hätte es die Finanzhoheit des Bundes nicht gegeben, ohne die die Bundesrepublik eben auch nicht das geworden wäre, was sie wurde, schon wenige Jahre später vor die Aufgabe des Aufbaus deutscher Streitkräfte gestellt.

Es hatte geschichtliche Logik, daß Adenauer als Repräsentant der besiegten deutschen Mehrheit den Spielraum seiner Politik nur schrittweise erweiterte, soweit er es jeweils für durchsetzungsfähig hielt, um persönliches Vertrauenskapital der drei Westmächte zu vermehren, während die Opposition jeweils auf die Mängel verwies.

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Hinzu kam, daß Adenauers klare Entscheidung auch seiner inneren Überzeugung und Neigung entsprach: Sicherung des freien größeren Teils und unauflösliche Einbindung der Bundesrepublik in den Westen hatten die Priorität vor dem Versuch der Wiedervereinigung. Der erste deutsche Kanzler setzte sich damit durch, als es um die Bildung der Gemeinschaft von Kohle und Stahl ging, aus der später die Europäische Gemeinschaft wurde; er scheiterte mit der Europäisierung der Saar, die als "kleine Wiedervereinigung" zu Deutschland zurückkehrte; er verfehlte das Ziel einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft", bitter genug für ihn, durch das Nein des französischen Parlaments, um dann doch mit der Aufstellung der Bundeswehr und ihrer vollen Integration in die NATO Erfolg zu haben.

In diesem ganzen Zeitabschnitt verfocht die SPD den Standpunkt der Wiedervereinigung als erste und oberste Aufgabe der deutschen Politik. Sie wollte die Stalin-Note vom März 1952 mit dem Angebot zur Einheit durch freie Wahlen mindestens sondieren, was Adenauer noch vor den Westmächten ablehnte. Sie kämpfte leidenschaftlich gegen die Aufstellung zweier deutscher Armeen, die beide deutschen Teile zu Satelliten machen und mit der vollen Integration die Chance zur Einheit für unabsehbare Zeit verhindern würden. Patrioten aller Parteien kämpften erfolgreich darum, Deutschland im Falle seiner Einheit die Freiheit zu belassen, auch aus der NATO austreten zu können. Von Brentano, Dehler und Erler waren sich da einig, als es um den Beitritt zur NATO ging, den die SPD als schädlich für die Wiedervereinigung ablehnte.

Es lohnt nur noch für Historiker, der Frage nachzugehen, ob es damals die Chance zum kürzeren Weg zur Einheit gegeben hat, durch den uns vieles erspart geblieben wäre. Neuere Veröffentlichungen aus Moskau lassen das als möglich erscheinen, aber das ist ein Streit um den Schnee der 50er Jahre. Niemand wird der Feststellung des britischen Historikers Garton Ash widersprechen können, daß jedenfalls der Versuch unterblieb.

Zu schämen braucht sich die SPD keinesfalls, noch 1959 einen Deutschlandplan veröffentlicht zu haben, ein Dokument ihrer Ehr-

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lichkeit, zum letztmöglichen Zeitpunkt eine Anregung, deutsches Gewicht im Interesse der Einheit international einzusetzen. Geschichtlich war es zu spät, und sie selbst war nach ihrer größten Wahlniederlage 1957 auch zu schwach dazu. Die Position "Einheit vor West-Integration" war ehrenvoll, aber realitätsfern.

Ein wirklich tiefer Einschnitt in der Deutschlandpolitik der SPD nach dem Krieg war die Rede Herbert Wehners am 30. Juni 1960. Sie stellte die SPD auf den langen Umweg der West-Integration ein, obwohl die berechtigten Zweifel fortbestanden, ob Wiederbewaffnung und West-Integration fast automatisch zur Wiedervereinigung führen müßten. Anders gesagt: Die Rede stellte die SPD auf den Boden der von der Bundesregierung geschaffenen Realitäten, Verträge und Abkommen und machte die Partei regierungsfähig. Obwohl das eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit ist, daß jede neue Regierung die international eingegangenen Verpflichtungen ihrer Vorgänger respektiert, fällt das der jeweiligen Opposition nicht leicht. So hat auch später die CDU/CSU Mühe gehabt, äußerlich und innerlich die vorher heftig bekämpfte Vertragspolitik der sozialliberalen Koalition zu akzeptieren, ohne auch nur den Versuch zu Revision oder Nachbesserung zu machen.

Etwas anderes ist interessant: Die Kursänderung, die Wehner erzwungen hat, war nicht das Ergebnis von Gremien, Resolutionen, parteiinternen Meinungsbildungen, sondern sie erfolgte im Grunde autoritär, entgegen Parteitagsbeschlüssen, setzte den Deutschlandplan des vorhergehenden Jahres schlicht außer Kraft und befreite damit - wenn man so will - die Partei und ihren späteren Vorsitzenden Willy Brandt für das, was einmal Ost- und Entspannungspolitik genannt werden sollte. Unwillkürlich vergleicht man, wie schwer es der Partei jetzt fällt, auf dem Wege von Kommissionsberatungen die Befreiung zu Regierungsfähigkeit zu erreichen, die die uneingeschränkte Akzeptanz eingegangener Verpflichtungen beim Beitritt zu den Vereinten Nationen erfordert. Scharping jedenfalls würde eine derartige Befreiung auch verdienen.

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Wir sollten uns nicht um das Geschwätz kümmern, daß die SPD eine Tradition der Anpassungen hat. Das gilt für jede politische Bewegung, wenn sie gegenüber neuen Problemen und neuen Wirklichkeiten nicht untergehen will. Man könnte die Geschichte der Konservativen während der letzten 100 Jahre auch als eine der Anpassung an die von den Sozialdemokraten entwickelten Forderungen und geschaffenen Realitäten schreiben. Man könnte die Fähigkeit der Deutschen zur Anpassung in Ost wie West nach dem Kriege als den Königsweg der Schwachen bezeichnen, ihr Ziel dennoch zu erreichen.

Im Prinzip hat sich die SPD spätestens seit dem Bau der Mauer auf eine zeitlich unbegrenzbare Teilung eingestellt. Es machte ihr innenpolitische Schwierigkeiten, es früher zu sagen als andere, die es dann etwas später - bis 1988 und 1989 - allerdings genauso hart gesagt haben. Dazu gehörten zwei Entscheidungen, die uns sehr schwer gefallen sind. Die erste war der Schutz der Mauer durch unsere Polizei gegen jene sympathischen Studenten, die der Auffassung waren, sie würden die Mauer - nach dem Vorbild der Algerier - mit plastischem Sprengstoff jeweils schneller in die Luft jagen können, als sie wieder aufgebaut werden könnte. Der Senat hatte die Haltung der drei Mächte zu respektieren, keinen Konflikt oder einen Vorwand dazu in und um Berlin zuzulassen. Wir hatten harte Realitäten zu lernen. Die andere Entscheidung war die praktische Auflösung der SPD in Ostberlin. Wir konnten und wollten den Genossen nicht zumuten, persönliche Risiken durch die offen demonstrierte Treue zur Partei auf sich zu nehmen; denn wir hätten ihnen nicht helfen können. Beharren auf dem akademisch gewordenen Vier-Mächte-Status wäre unverantwortlich gewesen.

Wir standen in Berlin vor der Frage, nachdem nicht einmal die drei Mächte die Mauer wegbringen konnten, uns mit berechtigten Protesten und Forderungen zu begnügen oder uns unzulänglich und begrenzt selbst zu helfen und die Mauer durchlässig zu machen. Kleine Schritte sind besser als große Worte, hieß es damals im Interesse der Menschen, sogar der Erhaltung nationaler Substanz. Das Passierscheinabkommen war übrigens insoweit auch die erste Aktion, bei der

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Deutsche mit Deutschen verhandelten, um sich Erleichterungen zu verschaffen, nicht ohne Mißtrauen von den Vier Mächten verfolgt.

Man sollte auch nicht vergessen, daß ziemlich still und unkontrovers schon vorher der innerdeutsche Handel weiterging. Wenn man so will, ist das die konservative Parallele zur sozialdemokratischen Ostpolitik, von uns nie kritisiert. Trotz der Mauer behielt die DDR, die so noch gar nicht genannt werden durfte, wirtschaftlich ihre Vorzugsstellung mit dem Swing. Das lag im gesamtdeutschen Interesse ebenso wie im Interesse der westdeutschen Wirtschaft, ohne daß damals oder später die Frage debattiert wurde, ob damit Adenauer nicht Ulbricht stabilisiert habe.

Niemand in Bonn, ob er nun Adenauer, Brandt oder Kohl hieß, konnte Ulbricht oder Honecker stärker stabilisieren, als es 20 sowjetische Divisionen und der Warschauer Pakt taten. Wandel durch Annäherung war im Grunde das Konzept, dennoch eine Änderung zu bewirken. Das ist nun heute auch nicht mehr umstritten, aber es wäre falsch, den Eindruck zu erwecken, die SPD hätte damals dem neuen Konzept begeistert zugestimmt. Ohne die schützende Hand Willy Brandts wäre ich wieder Journalist geworden. Schon damals wurde diskutiert, ob das Regime in Ostberlin nicht durch Passierscheinvereinbarungen legitimiert wurde. Schon damals mußten wir uns mit der Formelkrücke behelfen, daß über Amts-, Orts- und Behördenbezeichnungen keine Einigung erzielt werden konnte. Diese salvatorische Klausel hat meiner Erinnerung nach Heinrich Albertz erfunden. Grotesk, daß man politisch einen Ablaß brauchte, um für die Menschen und das Land etwas tun zu können.

Deutschlandpolitik wurde im Laufe der 60er Jahre zu Ostpolitik. Die SPD ist untrennbar mit diesem Wort verbunden, das Eingang in die Sprachen der Welt gefunden hat. Es handelte sich um eine Politik, die die bestehenden Schranken unserer Souveränität akzeptierte, um sie zu überwinden, die Realitäten akzeptierte, um sie zu verändern. Sie fand ihre klassische Kurzform in jenem Artikel des Moskauer Vertrages, der die Selbstverständlichkeit enthielt, daß bestehende Verträge und Abkommen nicht berührt werden, aber dennoch die po

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litische Landschaft veränderte: Bonn hatte sich als politisch handlungsfähig gegenüber der Sowjetunion erwiesen, insofern wie unsere Verbündeten. Die Erkenntnis, daß in Moskau der Schlüssel für Osteuropa, vor allem der DDR liegt, wurde operativ umgesetzt. Es war die Konsequenz aus der Erfahrung, daß jeder Weg um die DDR herum oder unter Aussparung der Sowjetunion, der bis 1966 versucht worden war, blockiert bleiben würde. Die mutige Formulierung in der ersten Regierungserklärung von Brandt, die ich zunächst als unnötige Vorleistung empfunden hatte, wonach die DDR ein Staat sei, erwies sich als Türöffner. Auch diese Weichenstellung war nicht das Ergebnis einer Gremienberatung, sondern ein Beispiel, daß Brandt auch weniger Demokratie wagte, als er mehr Demokratie zu wagen empfahl.

Im Prinzip wurde mit Moskau der Rahmen der gesamten bilateralen Verträge abgesprochen, die mit Warschau, Prag und Ostberlin abgeschlossen werden sollten. Dabei war uns bewußt, mit welch zwiespältigen Gefühlen Polen und Tschechen das sahen; aber nicht bei ihnen lag die Macht oder auch nur die Möglichkeit, das Regime der DDR, das wir als feindselig einschätzten, zu dem bewegen zu können, was es dann im Berlin-Abkommen und im Grundlagenvertrag mit Abstrichen seiner bisherigen Forderungen bezahlen mußte.

Nicht einmal den Brief zur deutschen Einheit hätten wir in Warschau oder Prag bekommen, den selbst Ostberlin nicht mehr zurückweisen konnte, nachdem er in Moskau angenommen worden war. Ich war jedenfalls ebenso elektrisiert wie bewegt, als einer meiner sowjetischen Gesprächspartner mir nach der Unterschrift unter den Moskauer Vertrag sagte, er wisse nicht, ob es je zur deutschen Einheit kommen werde, aber falls ja, hätten wir jetzt den ersten Schritt getan.

Das Vier-Mächte-Abkommen schuf nicht nur die erste Rechtsgrundlage für den zivilen deutschen Verkehr von und nach Berlin und befreite die Stadt von jahrzehntelangen Pressionen mit ihren Nadelstichen und Schikanen, sondern es markierte kaum verdeckt einen neuen Abschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

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Zum ersten Mal konnten die Vier Mächte mit ihren unbestrittenen, originären Rechten keine Deutschland und Berlin betreffende Vereinbarung schließen ohne deutsche Mitwirkung, genauer die Mitwirkung der beiden deutschen Staaten. Ohne die Einigung von Bundesrepublik und DDR über das Transitabkommen, das den Verkehr unbehinderter machte und die Souveränität der DDR insoweit begrenzte, hätte es kein Vier-Mächte-Abkommen gegeben. Das Modell Vier-plus-Zwei war geboren, das 20 Jahre später zur Formel Zwei-plus-Vier wurde. Bonn hat - erst einmal leise und verdeckt - die Großen an die Hand genommen und sie zu dem gewünschten Ergebnis gebracht, das die Interessen aller Beteiligten bündelte. 20 Jahre später war es gar nicht so einfach, die führende deutsche Rolle ähnlich schonend zu kaschieren.

Im Grundlagenvertrag regelten Bonn und Ostberlin ihre Beziehungen in einer Struktur, die nicht mehr änderungsbedürftig war, solange die Teilung dauerte. Es war ein wichtiger Erfolg, daß die DDR "die Frage der Nation" darin bestätigte, auch wenn man sich weiterhin stritt. Daß die damalige Opposition der CDU/CSU übrigens so viel Lärm machte mit ihrer Sorge, die sozialliberale Regierung habe damit die Teilung vertieft, hat uns geholfen; ihre Sorge hat Sorgen von Regierungen in Ost und West besänftigt und beruhigt, die Deutschen könnten Geschmack aneinander finden. Beobachter werden festgestellt haben, daß es eben keinen Andrang der Massen gab, als wir den grenznahen Verkehr einführten und die Zahl der Übergangsstellen verdoppelten. Zu meiner Enttäuschung drängten die Westdeutschen eben nicht so doll, daß weitere Übergänge unausweichlich geworden wären, zu denen die DDR bereit war. Es war schon erschreckend, wie weit sich die Teilung "eingelebt" hatte. Selbst das hatte einen Vorteil:

Als ich den französischen Botschafter davor warnte, keinem Deutschen zu trauen, der die Wiedervereinigung für gegenstandslos erklärte, denn der wäre entweder dumm oder ein Lügner, war der doppelte Vorteil: Ich sagte ihm die Wahrheit, aber er glaubte sie nicht.

Vielleicht darf man eine innenpolitische Bemerkung anfügen. Der Grundlagenvertrag wurde in einer Zeit verhandelt, in der die sozial

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liberale Regierung keine Mehrheit mehr im Bundestag hatte und in der Öffentlichkeit die Frage erörtert wurde, wieviel Prozent Schiller-Wähler es geben würde, nachdem Karl Schiller die Partei verlassen hatte. Jedenfalls galt das Ende der Regierung Brandt als sicher, und niemand hat erwartet, vorausgesagt oder auch nur gehofft, daß wir im Spätherbst den größten Wahlerfolg in der Geschichte unserer Partei haben würden. Ein Grundlagenvertrag mit der DDR war auch nicht populär. Ein Glück, daß wir uns nicht nach Meinungsumfragen gerichtet haben! Ich bin fest davon überzeugt, daß der Mut, dennoch das Richtige und Notwendige zu tun und lieber mit wehenden Fahnen unterzugehen, als opportunistisch weich in den Knien zu werden, von der Bevölkerung respektiert und honoriert wurde. Ohne den Grundlagenvertrag hätten wir den Wahlerfolg nicht so gehabt.

Der Grundlagenvertrag wurde außenpolitisch zum letztmöglichen Zeitpunkt abgeschlossen, in dem wir unsere Beziehungen zur DDR noch regeln konnten, bevor die DDR ihre internationale Anerkennung in Helsinki bekam. Unsere westlichen Verbündeten haben uns verständnisvoll unterstützt, damit die DDR die Gegenleistung von uns bekam, die sie sonst umsonst bekommen hätte.

Dazu gehörte der Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen. Er erfolgte auch abgestimmt nach dem späteren Muster Zwei-plus-Vier, und zwar ausdrücklich, ohne die Rechte der Vier Mächte über Deutschland als Ganzes berühren zu können und ohne eine andere Einschränkung als die Erwartung, daß die Feind-Staaten-Klausel aus der Charta der Vereinten Nationen gestrichen würde bei der ersten Gelegenheit einer Veränderung der Charta. Daß die drei Mächte die Charta nicht mehr in Anspruch nehmen würden, hatte Adenauer 1955 erreicht, das gleiche hatte die Sowjetunion 1970 Brandt erklärt. Eine Änderung der Charta ist in den mehr als 20 Jahren seither nicht erfolgt. Wann das geschieht, ist nicht vorauszusehen, jedenfalls ist nicht zu erwarten, daß die heutige Bundesrepublik nachträglich die Gültigkeit ihrer Mitgliedschaft durch eine wie auch immer geartete Erklärung einschränkt, wonach sie Teile der Charta für sich grundsätzlich nicht akzeptiert.

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Mit den Verträgen von Moskau, Warschau, Prag und Berlin war die bilaterale Phase beendet. Sie sollte ergänzt werden durch die dann folgende mulitlaterale Phase, also die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dabei haben wir die Genugtuung, daß der Gewaltverzicht für die Veränderung bestehender Grenzen, wie es in unseren bilateralen Verträgen stand, zum europäischen Pfeiler wurde, in die Schlußakte von Helsinki übernommen und ergänzt um Minderheiten- und Menschenrechte, die Perspektive zu einer Zusammenarbeit öffnete, um Krieg zwischen den Staaten in Europa zu verhindern.

Die Fortsetzung der bilateralen Ostpolitik war die europäische Abrüstung. Schon im Herbst 1971, als die Verträge noch heftig umstritten waren, sprachen Brandt und Breschnew in Oreanda über die notwendige nächste Phase, also die militärische Entspannung. Reduktion der Streitkräfte ohne Gefährdung der Sicherheit der beteiligten Seiten war die Formel, aus der später die langjährigen Verhandlungen in Wien über beiderseitig ausgewogene Streitkräftereduktionen (MBFR) wurden. Die Erwägung war wiederum, daß wir auf die Stärke der eigenen Position und Argumente vertrauen können, also Zusammenarbeit nicht nur nicht fürchten, sondern geradezu suchen müssen und das Friedensthema nicht der anderen Seite überlassen dürfen. Außerdem, so war die Einschätzung der Entwicklung von Chruschtschow bis zur Invasion der CSSR, seien Stärke und Attraktivität der östlichen Ideologie so weit gesunken, daß man nun daran gehen mußte, dem Osten die einzig wirkliche Stärke, nämlich die militärische Angriffsfähigkeit zu nehmen. Chruschtschow hatte sich mit seinem törichten Wort vom Ein- und Überholen in das aussichtslose Rennen begeben, den eigenen Erfolg an den Maßstäben des westlichen Lebensstandards messen zu lassen. Nach dem gescheiterten Prager Frühling kamen wir zu der Auffassung, dazu beizutragen - wenn das möglich sei -, daß beim nächsten Mal der Prager Frühling in Moskau stattfindet; weder die Tschechen noch andere würden dann in die Sowjetunion einmarschieren.

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Schon damals, also noch vor Helsinki, gab es die Konzeption, durch Truppenreduktionen und Abrüstung Bedrohung so weit abzubauen, daß daraus in Europa ein Zustand wird, in dem auch die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung kommen wird. Selbst wenn das nicht funktionieren würde, wäre es für Deutschland und Europa ein Vorteil, den Frieden sicherer zu machen. Gleichzeitig war klar, daß dies nur im Zusammenwirken mit den Vier Mächten und unseren unmittelbaren Nachbarn zu bewirken sein würde.

Ich hebe die damaligen Überlegungen an dieser Stelle hervor, weil sie im Laufe der Jahre jedenfalls in bezug auf die Deutschlandpolitik zu einer allgemein akzeptierten Überzeugung wurden. Es gibt Hunderte von Belegen und Zitaten für die Auffassung, daß Deutschland erst in einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung sein Recht auf Selbstbestimmung werde wahrnehmen können. Dieser Auffassung waren und folgten Brandt, Scheel, Schmidt, Genscher und Kohl. Im Ablauf haben sich alle geirrt. Wir haben die deutsche Einheit, aber keine europäische Friedensordnung. Die alte Weltordnung ist zerbrochen, eine Weltunordnung droht, auf die keine Organisation vorbereitet war und ist. Die europäische Friedensordnung nach dem Ende der Blöcke herzustellen ist die große Aufgabe, die theoretisch ohne den Warschauer Pakt leichter zu lösen sein müßte, aber jedenfalls nicht gelöst werden kann ohne die Staaten des früheren Warschauer Paktes und der früheren Sowjetunion.

Bonn hatte durch die Ost- und Entspannungpolitik ein neues Gewicht erreicht, international angesehen, respektiert, aber nicht gefürchtet; "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land" war ein Wahlslogan, zu dem unsere Nachbarn zustimmend nickten. Man kann sich heute schwer vorstellen, daß ein solcher Spruch noch gewagt und im Ausland positiv kommentiert würde.



II.

Als Helmut Kohl 1982 in das Bundeskanzleramt einzog, versprach er die Fortsetzung der von seinen Vorgängern eingeleiteten Deutsch

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landpolitik. Ob er das Versprechen halten würde, war nach den erbitterten Auseinandersetzungen der zurückliegenden Jahre nicht sicher, jedenfalls hatte die SPD keinen Grund, von ihren Erfolgen, ihrem Markenzeichen, innen- wie außenpolitisch Abschied zu nehmen. Die erste Grundentscheidung der Partei nach dem Machtverlust war also, auf die Einhaltung des Versprechens zu drängen.

Aus der Sicht des neuen Bundeskanzlers ergab sich ein Interesse, die Ergebnisse der Entspannungspolitik nicht zu gefährden, das um so größer war, als er befürchten konnte, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1983 von ihm zugesagte Stationierung der neuen amerikanischen Raketen könnte zur Verhärtung, vielleicht dem Abbruch des Reiseverkehrs, jedenfalls zu deutsch-deutschen Verlusten führen. Die von der neuen Opposition für diesen Fall prophezeite "Vereisung" sollte jedenfalls nicht eintreten. Die Kalkulation, daß selbst Kommunisten wissen, was eine Milliarde DM ist, erwies sich als richtig. Und so kam es zu der ersten qualitativen Weiterentwicklung der Deutschlandpolitik, die die Sozialdemokraten vielleicht nicht gewagt hätten, nämlich dem ungebundenen Finanzkredit, den einzufädeln Strauß zufiel.

Die SPD war Teil der unerklärten, aber wirksamen gesamtdeutschen Großen Koalition mit Kohl und Honecker, die den Schaden begrenzt halten wollte, soweit das von den Deutschen abhängig oder ihnen möglich war. Schadensbegrenzung wurde ein Schlüsselwort, das Honecker wie Kohl benutzten, und praktische Schadensbegrenzungen trotz neuer Raketen auf beiden Seiten und damit objektiv wachsender Gefährdung für beide deutschen Staaten war ein Interesse der SPD, natürlich um so mehr, als sie seit dem Beginn der Raketendebatte, auch unter zunehmender Spannung gegenüber dem eigenen Kanzler, auf der Möglichkeit der Ablehnung der Pershing-Stationierung bestanden hatte, falls nicht ernsthaft über die Vermeidbarkeit verhandelt werden würde. Unser Verdacht, daß nicht ernsthaft verhandelt wurde, sondern nur der vorher bestimmte Beginn der Stationierung erreicht werden sollte, ist inzwischen durch amerikanische Veröffentlichungen bestätigt.

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Ohne die sicherheitspolitische Seite der damaligen Situation kann die erwähnte Grundentscheidung der SPD in der Opposition auch nicht erklärt werden. Daß Vereinbarungen nur mit den regierenden Kommunisten möglich sind und mit niemandem sonst in den Ländern des Warschauer Vertrages, war die Grunderfahrung, die sich die neue Bundesregierung voll und ohne jede Einschränkung zu eigen gemacht hatte. Sie folgte ihr ohne jede Einschränkung bis zum letzten Augenblick und verfolgte zu Recht dieses Prinzip mit allen Regierungen in Osteuropa. Sie durfte gar nicht anders. Die SPD in der Verantwortung hätte sich genauso verhalten.

Bleibt die Frage, ob die SPD nicht 1984 oder 1985 prinzipiell hätte umschalten sollen, also auf eine Linie, die sie in einen operativen oder auch nur losen Kontakt zu den Opponenten gebracht hätte.

Die Berechtigung dieser Frage ist nicht zu leugnen, nachdem das Ergebnis der Geschichte bekannt ist. Festzustellen bleibt jedenfalls, daß in Unkenntnis der späteren Geschichte diese Frage damals in keinem Gremium der SPD auch nur gestellt worden ist.

Unsere Überlegungen waren wirklichkeitsnäher. Sie gingen von der Erfahrung aus, daß in den kommunistisch regierten Staaten die Partei entscheidet und die Regierungen nur ausführende Organe des politischen Willens sind. Sofern wir also unsere Kontakte von der bisherigen Regierungsebene auf die der Parteien verlegen würden, ergäbe sich die ungewöhnliche und wirklich neue Situation, operativen Einfluß auf dem Umweg über die regierenden Parteien auf die dortigen Regierungen und ihre Haltung nehmen zu können und damit einen Hebel zu gewinnen, um die eigene Regierung an das Versprechen zu binden, Entspannungs- und Deutschlandpolitik fortzusetzen.

Das war der eigentliche Kern dessen, was später die zweite Phase der Ostpolitik genannt wurde, was die innenpolitischen Gegner nicht zu Unrecht Neben-Außenpolitik nannten und was naturgemäß die SED in die auch von ihr schnell erkannte Schwierigkeit brachte, der SPD Zugeständnisse machen zu sollen, die für die DDR eine Verbindlichkeit hatten, die eine demokratische Opposition natürlich nicht für die Bundesrepublik zusagen konnte.

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Die Sowjets nahmen das leichter. Sie konnten sich versprechen, auf diesem Wege die Hand am Puls der deutschen Dinge zu behalten und beginnende emanzipatorische Neigungen der DDR-Führung kontrollieren zu können. Auf unserer Seite ergab sich die Möglichkeit, Moskau zu beeinflussen, was um so interessanter wurde, nachdem Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU in Fragen vom Abbau der Bedrohungen, Abbau der konventionellen Überlegenheiten und gemeinsamer Sicherheit wirklich phantastische Parallelitäten zu dem neuen Denken zeigte, das die Palme-Kommission formuliert hatte. Das zu nutzen lag nun wirklich im Interesse des Landes mit den Auswirkungen auf die DDR-Führung, der gleichzeitig Bewegungsraum auf diesem Gebiet verschafft wurde.

Ich weiß nicht mehr, ob Willy Brandt oder Hans-Jochen Vogel die Idee hatte; letzterer jedenfalls hatte die Einrichtung einer Arbeitsgruppe mit der KPdSU vorgeschlagen, protokollarisch penibel auf der Ebene der Bundestagsfraktion, bald gefolgt von einer mit der SED und aus offensichtlichen Gründen ergänzt durch solche mit Warschau und Prag; mit den Ungarn verstanden wir uns sowieso. Wie gut, hat Gyula Horn später bestätigt.

Das funktionierte auch sehr gut. Das erste Ergebnis, ein Papier über eine chemiewaffenfreie Zone in Deutschland, hat, wie Angehörige des Auswärtigen Dienstes bestätigten, die Verhandlungen in Genf beeinflußt und die Bundesregierung jedenfalls nicht entmutigt, den einseitigen Abzug der amerikanischen Chemiewaffen von deutschem Boden zu betreiben, obwohl damals die uns gegebene Versicherung der SED, von der wir die Bundesregierung natürlich unterrichteten, von unseren Diensten nicht bestätigt werden konnte, daß es nämlich sowjetische Chemiewaffen auf dem Boden der DDR nicht mehr gäbe.

In der Palme-Kommission war aus meinem Grundsatz: keine Atomwaffen auf dem Boden der nicht-atomaren Staaten, ein Annex geworden. Die Kollegen Vance und Owen machten deshalb den konstruktiven Vorschlag eines atomwaffenfreien Korridors vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, was uns dazu veranlaßte, dies zum zweiten Thema der Arbeitsgruppe SPD/SED zu machen. Das war - wie erin

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nerlich - heftig umstritten, ging auch in der SPD nicht ohne gedämpfte Kritik ab, aber war doch so vernünftig, daß es später von Kohl mit Gorbatschow im Kaukasus im Prinzip bestätigt wurde, denn es werden keine Atomwaffen auf das Gebiet der ehemaligen DDR verlegt. Das war nun der Erfolg von Kohl. Der unsere konnte es schon deshalb nicht sein, weil es die SED nicht mehr gab, mit der wir das vereinbart hatten. Aber dagegen konnten wir auch nicht sein, denn es war richtig und bleibt richtig, künftig vielleicht ergänzungsbedürftig für das gesamte Gebiet der BRD, damit es keine geteilte Sicherheit mehr gibt.

Das dritte Projekt, nämlich Vertrauensbildung, Angriffsunfähigkeit und gesamteuropäische Luftkontrolle durch einen europäischen Satelliten, ist zum Teil gegenstandslos geworden, weil es den Warschauer Vertrag nicht mehr gibt, z. T. muß es nicht verwirklicht werden, weil es ja inzwischen eine Art von offenem Himmel, also Kontrollflüge als vertrauensbildende Maßnahmen der früheren Gegner, gibt. Aber eine entsprechende Satelliten-gestützte Institution steht noch an. Zum Teil haben wir auf diesem Wege Lösungsmöglichkeiten für Probleme gezeigt, die den säkularen Einschnitt des Ost-West-Konfliktes überlebt haben, akut geblieben und lösungsbedürftig sind. Kein Grund für die SPD, das Haupt mit Asche zu bestreuen.

Nun kann man sagen, daß diese ganze zweite Phase der Ostpolitik quasi gouvernemental gewesen sei. Das stimmt, das war auch - wie dargelegt - ihr Sinn. Als Vorwurf kam es aus den eigenen Reihen erst fünf Jahre später, und zwar interessanterweise nicht wegen der Inhalte, sondern weil wir darüber versäumt hätten, Kontakte und Zusammenwirken mit den Dissidenten in den einzelnen Ländern, insbesondere der DDR, zu pflegen. Bevor ich auf diesen ernsten Vorwurf eingehe, noch eine kurze Bemerkung zu einem Gipfel der zweiten Ostpolitik, dem gemeinsamen Papier von SPD und SED.

Wenn es richtig war, daß der Erhaltung des Friedens mit Ausnahme der Verteidigung, also der Bewahrung der Freiheit, alles unterzuordnen war, dann galt das auch für die Ideologie. Die Idee der Freiheit konnte nicht mit Gewalt verbreitet werden, also mußte sie

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subkutan ihre Chance bekommen, also mußte man eine Kultur des Streits entwickeln. Eppler hat das die offensivste Form der Ostpolitik genannt. Das Papier machte in der SPD wie in der SED Ärger. In beiden Parteien gab es Beschwerden, den Gegner satisfaktionsfähig gemacht zu haben. Beide Seiten hatten ihre Kalkulation der Aufweichung des anderen. Unsere Kalkulation ging auf.

Im Politbüro der SED gab es eine der wenigen politischen Auseinandersetzungen. Dort tat das Papier mehr weh als bei uns. Eine Anti-Kampagne war nötig. Praktisch zerriß man es. Die beste Bestätigung seiner Wirkung gab Steffen Reiche, als er im Herbst 1989 als erster Sozialdemokrat aus der DDR an einer Sitzung des Parteivorstandes in Bonn teilnahm und um das Papier bat. Wir mußten es über Nacht nachdrucken, um es ihm mitgeben zu können. Die Sozialdemokraten in der DDR brauchten es. Die Kirche übrigens auch.

In diesem Zusammenhang darf ein anderer Aspekt sozialdemokratischer Politik nicht übersehen werden. Ein Mann wie Willy Brandt hatte Sinn für die Geschichte der Arbeiterbewegung, als deren Teil er sich fühlte. Er duzte Hermann Axen in Bonn sofort, obwohl er ihn seit den 30er Jahren in Paris nicht mehr gesehen hatte, und Axen in seiner Befangenheit bemerkte es zunächst gar nicht. Auch Gorbatschow tippte in seinem ersten Gespräch mit Brandt vorsichtig an; ob sich nicht ein paar Leute nach 50 oder 70 Jahren einmal zusammensetzen sollten, um herauszufinden, was denn von dem alten Streit noch geblieben sei. Das wurde abgelehnt, auch weil es die eigene Strategie hätte stören können. Als der Papst der Kommunisten erklärt hatte:

"Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen", war der Kampf zwischen Diktatur des Proletariats und Revisionismus im Prinzip entschieden. Wir haben uns den Triumph verkniffen, denn wir wollten Gorbatschow nicht schaden, zumal er Abrüstung erzwang, in seinem Laden wie im Westen. Wir wußten: Zwischen Ost und West, zwischen der Sowjetunion und Deutschland stand die Machtfrage, genauer die Frage der bewaffneten Macht, die gelöst werden mußte, was Sozialdemokraten klarer war, als Kommunisten glaubten. Es spricht viel für Valentin Falins Formulierung, daß ohne die Entspannungspo

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litik Gorbatschow nicht Nr. l geworden wäre; als Folge des NATO-Doppelbeschlusses wurde er jedenfalls nicht Generalsekretär. Ein Sowjetmensch meinte einmal zu der Zeit, in der Gorbatschow Präsident der Sowjetunion war, man könne sagen, daß Bernstein Lenin besiegt habe.

Die SPD hatte immer ein tiefes Mißtrauen gegen die Politik der Stärke, nicht nur aus der Erinnerung, was deutsche Politik der Stärke angerichtet hatte, sondern auch, weil es sehr fragwürdig war, wie weit Deutschland mit der Stärke anderer spielen durfte. Und wann je konnte die SPD sich eigentlich stark fühlen, wenigstens in dem Sinne, daß sie ein bißchen mehr als 50 Prozent der Stimmen im eigenen Land bekam?

Die Kommunisten wiederum schwankten lange zwischen der Verachtung der Sozialdemokraten, weil diese nicht mit Brutalität zur Macht griffen und sie ebenso brutal behaupten wollten, sondern schwächlich die demokratischen Mehrheitsentscheidungen des dummen Volkes akzeptierten, und auf der anderen Seite der Bewunderung, wieviel diese Sozis an Veränderung der Gesellschaft bis hin nach Schweden dennoch erreicht hatten. Und deshalb waren Sozialdemokraten eben gefährlicher als Konservative, und von allen Sozialdemokraten waren aus geschichtlichen Gründen die Deutschen am gefährlichsten, nicht zuletzt, weil es da ein geteiltes Land gab und die Zwangsverschmelzung.

Als Winzer unsere Politik als "Aggression auf Filzlatschen" bezeichnete, lag er nicht so falsch. Gegen die Stärke Amerikas fühlte sich die DDR durch die Sowjetunion geschützt, mit den Konservativen Geschäfte zu machen, war traditionell erwiesenermaßen ungefährlich, mit den Sozialdemokraten gab es ein Risiko, zu dem Ostberlin aus Moskauer Interessen gezwungen wurde und in dem es wenigstens seine Volksfront-Chancen suchen wollte. Das ist auch der tiefste Grund, weshalb die SPD sich den regierenden Kommunisten unter Vernachlässigung der Dissidenten zuwandte, nicht nur, weil allein mit denen etwas zu bewegen war, sondern weil wir wichtige Kommunisten in ihrem Verhalten verändern wollten.

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Im Ergebnis hat das funktioniert. Ich sehe es als geschichtlich unhaltbare Vereinfachung, zu behaupten, daß es zur Veränderung und zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa nur durch Druck von unten, also der Bevölkerung, oder durch Druck von außen, durch amerikanische Rüstung, gekommen ist. Die Veränderung im Denken der Herrschenden durch sozialdemokratische Ideen und Argumente war auch unentbehrlich. In der Tat kann man sagen, daß die SPD sich so auf die Regierenden konzentriert hat, daß sie darüber Dissidenten vernachlässigte, aber sie konzentrierte sich auf den Gegner, den allein sie - die SPD - ideologisch beeindrucken, bewegen, verändern konnte.

Außerdem war Druck von unten nur in Warschau und Prag zu spüren in einer Zeit, als es solchen Druck von unten in der DDR nicht gab. Auch in Ungarn, Bulgarien, Rumänien und vor allem in der Sowjetunion gab es den Druck von unten nicht. Moskau und Budapest sind die Beispiele für die Revolution von oben durch verändertes Denken oben. Auf das Denken in Moskau einzuwirken, war ein genauso entscheidender Faktor in der zweiten Phase der Ostpolitik, wie die Erkenntnis der ersten Phase war, daß in Moskau der Schlüssel für die Vertragspolitik läge. Es hat ja schließlich auch gestimmt, daß die Veränderung des Denkens in Moskau eine Qualität von Demokratisierung, Pluralität und Elementen der Marktwirtschaft gewann, die von der Führung der DDR nicht mehr mitgemacht werden konnte, ohne ihre Existenz zu gefährden. Ich glaube, daß diese Vorgänge im Ergebnis sozialdemokratischer ostpolitischer Strategie elementarer gewirkt haben als die jeweiligen Oppositionen, denen schließlich erst der Raum durch Entspannungspolitik geschaffen worden war, in dem sie sich zunehmend und mit Mut und mit hohem Risiko entfalten konnten.

Bei den Reformern der ersten Generation in der Sowjetunion war sozialdemokratischer Einfluß unbestreitbar, wurde aber nicht diskutiert, seit Helmut Kohl geschickt und mutig mit seinem Freund Michail Sergejewitsch eine ganz ideologiefreie Interessenpolitik machen konnte, ebenso übergeleitet zu Boris Nikolajewitsch, der sich in

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Swerdlowsk mindestens ebenso anzupassen gewußt hatte wie sein Kollege in Stawropol.

In der DDR vollzog sich eine Differenzierung zwischen den Starren, Verknöcherten, den Zweifelnden und denen, die von der Reformbedürftigkeit, aber auch Reformfähigkeit ihres Systems überzeugt waren. Für die drei Gruppen wären Honecker, Krenz und Modrow zu nennen. "Erst die Möglichkeit des Zusammentreffens mit Männern wie Peter Reuschenbach, Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau und nicht zuletzt mit Ihnen, erst das konkrete Erleben einer funktionsfähigen Stadt wie Hamburg hat beispielsweise bei mir zu der Erkenntnis geführt, daß der Sozialismus im Sterben liegt", hat mir der frühere Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, geschrieben. Aber das galt für alle im Apparat bis hin zu einem Mann wie Axen, der eben nach vielen Begegnungen nicht mehr derselbe dogmatische Funktionär war, als den ich ihn kennengelernt hatte. Wir wußten schon, warum wir auf Städtepartnerschaften drängten, über 50 durchsetzten, gegen zähes Zögern der SED-Führung, und ihr Beharren auf fast staatlichen Abkommensformen als fast lächerlich hinnahmen. Wer an den 4. November 1989 denkt, die größte Kundgebung in der deutschen Nachkriegsgeschichte, kann nicht übersehen, daß sie im wesentlichen eben von Reformern der SED und von solchen zustande gebracht wurde, die sich als demokratische Sozialisten fühlten. Jens Reich und Bärbel Bohley nahmen teil, aber waren nicht bestimmend. Und es kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß die Schwankenden bzw. die Reformkräfte in der SED, die die Macht noch hatten, nicht weniger als die Opposition dazu beigetragen haben, daß der Umschwung ohne Blutvergießen gelang. Unser Einfluß auf die SED war jedenfalls größer als unser Einfluß auf die Opposition. Das muß man sagen, und daraus kann man positive wie negative Urteile ableiten.

Jochen Vogel hatte von Wehner gewissermaßen die Federführung in humanitären Angelegenheiten übernommen. Durch diese zähe und stille Arbeit über viele Jahre konnte vielen Menschen die Ausreise ermöglicht werden, weniger schlicht gesagt: der Weg in die Freiheit

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gebahnt werden, übrigens ohne die Gegenleistung, die später als "Menschenhandel" bezeichnet wurde. Unbefriedigend blieb immer, nicht allen helfen zu können, die raus wollten; drinnen bleiben wollten nur wenige. Ich nenne nur die Namen Schmude, Weisskirchen und Gansel, die mehr oder weniger direkt Kontakte entwickelten zu solchen, die sich dann als Opposition formierten. Ohne die parallelen politischen Gespräche, an denen die SED-Führung interessiert blieb, wäre das so wohl auch nicht möglich und abzudecken gewesen. Nur die SPD verfügte über diesen Fächer differenzierter Einwirkung. Andere verhandelten über Geld, während wir von Frieden redeten.

Vor einigen Tagen habe ich über die Verwunderung von Reformkommunisten gelesen, daß Sozialdemokraten Gysi schlechter behandeln als Honecker. Sie könnten das ja auch als Beweis nehmen, daß viele Sozialdemokraten nicht die Nähe des Kommunisten, sondern des Staatschefs gesucht haben. Entsprechendes gilt bis zum heutigen Tage für die Zusammenarbeit mit vielen Chefs vieler Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Insoweit war und ist das Machtbewußtsein der SPD ganz ausgeprägt.

Bleibt ein schwieriges Kapitel. Alles, was hier an Besonderheiten des Verhältnisses zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten dargelegt worden ist, führte zu einer Form der Begegnungen, die insoweit eben auch mit denen anderer Parteien nicht zu vergleichen ist. Das reichte von einer feindseligen Kälte über normale, interessenbezogene Sachlichkeit bis zu einer kameraderiehaften Nähe, die es besser nicht gegeben hätte, selbst wenn gerade sie manchmal bewirkt haben sollte, was sonst nicht erreichbar gewesen wäre.

Ich meine hier nicht interne Äußerungen "drüben" oder draußen, um innenpolitische Vorteile zu erwirken. Das hat es immer gegeben, wird es auch weiter geben. Daß der Osten sich von einer CDU-Regierung mehr versprechen könnte, als von der SPD oder unfreundliche Unions-Äußerungen in Washington über die SPD-Regierung gab es ebenso wie sozialdemokratische Versuche umgekehrt. Der Unterschied ist, daß einiges - bei weitem nicht alles über alle - aus der DDR veröffentlicht wird. Ich meine etwas anderes. In einem Vermerk

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der SED wird z. B. festgehalten, ich hätte zugesagt, den Besuch sozialdemokratischer Delegationen durch das ZK genehmigen zu lassen. In meiner Formulierung heißt das, die SPD habe kein Interesse an Polit-Tourismus. Sofern die SED keine Bestätigung vom PV erhalte, könne sie davon ausgehen, daß es sich um private Reisen handele. Der Hintergrund war unser Interesse, manche Neigungen in der Partei zu bremsen, nun auf eigene Faust Entspannung und Versöhnung zu erproben und dabei in Volksfront-Euphorie zu verfallen. Es gab Anlaß für den damaligen Bundesgeschäftsführer, zu erklären, daß regierende Kommunisten im Interesse des Friedens unentbehrliche Partner sind, daß sie innenpolitische Gegner und international Konkurrenten bleiben.

Ein anderes Beispiel: Im September 1986 war ich bei Honecker und wurde dort so zitiert: "Im Auftrag von Willy Brandt möchte ich mitteilen: Wir wollen in aller Form erklären, daß bei einer Regierungsübernahme durch die SPD die Regierung der BRD voll die Staatsbürgerschaft der DDR respektieren wird und damit dieses Thema beerdigt wird." Das klingt ziemlich schlimm für einen Laien, der Honecker natürlich nicht war; denn der wußte aus einem früheren Gespräch, daß und warum die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR für die Bundesregierung und natürlich auch die SPD nicht in Frage kommt. Respektiert hatten wir die Staatsbürgerschaft der DDR schon lange. Das war gewissermaßen gleich Null. Die volle Respektierung war zweimal Null. Die Ankündigung, zweimal Null in aller Form auszusprechen, war auch nicht mehr wert. Ich habe versucht, aus dem Nichts, das ich in der Hand hatte, etwas zu machen, um die Kooperation der DDR gegen die unkontrollierte Einreise der Tamilen zu gewinnen. Ich bekam eine Zusage. Rau konnte den Erfolg für sich reklamieren. Später erfuhr ich, daß Schäuble sich um das Gleiche bemüht hatte.

Mitteilungen, die hier schon in der Zeitung gestanden hatten, wurden in Ostberlin als besonders ernst genommen, wenn sie vertraulich übermittelt wurden. Manch eine Äußerung über den Kanzler oder eigene Parteifreunde in der ihm eigenen Art unterdrückte Oskar La

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fontaine weder in Saarbrücken noch in Ostberlin, was ihn nicht daran hinderte, dort zu empfehlen, Tapetenwechsel zu machen, in Anspielung auf Hager. Jedenfalls bringen uns zu diesem Komplex aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus DDR-Quellen nicht weiter. Deshalb wird die SPD alle ihr zugänglichen eigenen Gesprächsaufzeichnungen zusammen mit den entsprechenden Aufzeichnungen der SED veröffentlichen. Dann wird sich jeder ein Bild machen können. Es wird sicher ziemlich lang. Ich wünschte, andere Parteien täten das gleiche.

Aber mit alldem kann die Frage noch nicht beantwortet werden, ob die SPD genug getan hat, um den Druck von unten zu mobilisieren, also ihre Freiheitstradition stark genug beachtet hat. Hier sage ich für mich ja und nein. Zunächst einmal war für Leute meiner Generation das Erlebnis unvergeßlich, daß den Menschen weder am 17. Juni 1953 noch drei Jahre später in Polen und Ungarn, noch 1968 nach dem Einmarsch in die CSSR geholfen wurde. Diese Erfahrung, daß der Westen untätig bleibt, wenn sich im Inneren des Ostblocks etwas rührt, war ungeheuer prägend. Wir fragten uns 1980, ob denn die Polen diese Erfahrung unbedingt noch einmal machen wollten; die Ankündigung eines Generalstreiks wegen der Erhöhung von Zigaretten- und Schnapspreisen fand ich schlicht verrückt. Wir trauten Solidarnosc nicht das Augenmaß zu, die Sehne nicht zu überspannen. Heute weiß ich, daß wir sie unterschätzt haben; damals haben auch andere einen Einmarsch der Sowjets in Polen für möglich gehalten, dem wir außer mit Protesten wieder nichts entgegengesetzt hätten. Wir haben dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Rakowski, den wir gut einschätzen konnten, geglaubt, daß Jaruzelski das Kriegsrecht sobald wie möglich aufheben wollte, und die französischen Freunde haben einige Jahre später zugegeben, daß ihre erste Kritik an der SPD nicht berechtigt war. Das Mißverständnis zwischen Brandt und Walesa ist noch bereinigt worden. Aber insgesamt haben wir die Opposition in Polen nicht ernst genug genommen.

Dies gilt trotz der vielen Kontakte, die es gab, trotz der humanitären Bemühungen in der Sowjetunion, der Verbindungen zu Hajek, den

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Gesprächen mit Dissidenten in den meisten osteuropäischen Ländern, die uns aber in Moskau gerade in der Einschätzung bestätigten, daß eine grundsätzliche Änderung von unten nicht zu erwarten sei. Denn wir hatten sehr früh Kontakte zu russischen Dissidenten, ohne nach einigen Monaten etwas anderes als eine große Fluktuation feststellen zu können, die in dem Strom der Entwicklung aufging, den wir heute in Rußland sehen. Auch nicht vergessen werden darf, daß Horst Ehmke mit Hilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht ohne Bedenken in den eigenen Reihen in drei Seminaren Dissidenten zusammenbrachte, die sich zum Teil noch nie gesehen hatten. Es illustriert die Situation im März 1988, daß er dort festhielt, vor 20 Jahren hätte keiner für möglich gehalten, daß die Entspannung in so kurzer Zeit nicht nur zu millionenfachen Besuchsreisen, sondern zunehmend zur Bildung und Äußerung gesellschaftlich selbständiger Gruppen und Meinungen in Osteuropa führen würde. Die erste Phase unserer Ostpolitik sei die Voraussetzung gewesen, um in der zweiten Phase gesellschaftliche Kräfte in den Entspannungsdialog einbeziehen zu können. Die äußere Dimension dieser Politik heiße Frieden, die innere Dimension Reform. Hier zeige sich eben die unaufhebbare Spannung, mit den Regierungen in Kontakt zu bleiben, aber gleichzeitig Pluralismus, Meinungsfreiheit, religiöse Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Der Kollege Weisskirchen fand, daß wir aus unserem Dilemma nicht heraus können. Es werde lange Zeit eine Gratwanderung bleiben. Wir wissen "um den Schmerz derer, die Dissidenten sind, und bitten sie gleichzeitig darum, Geduld aufzubringen. Ich weiß nicht, ob ich geduldig wäre, wenn ich in Osteuropa leben würde. Aber wir können als SPD nichts anderes machen, als dies: mit euch reden und die Autoritäten bitten, mit euch genauso reden zu dürfen, wie umgekehrt, wenn regierende Kommunisten hierher kommen und reden, mit wem sie wollen."

Und noch ein Zitat möchte ich anfügen, um Wirklichkeit in Erinnerung zu rufen, die heute wie aus einem anderen Zeitalter klingt: Im September 1987 haben wir nach dem Besuch Honeckers Genugtuung darüber ausgedrückt, daß die Zusammenarbeit beider Staaten verstärkt

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werden, daß es mehr Reisen und Tourismus unter Einbeziehung von Normalbürgern geben solle, und dann heißt es: "Zur Frage der Nation und des Selbstbestimmungsrechts ist es bei der Wiederholung der Position geblieben, die bereits vor 15 Jahren im Grundlagenvertrag formuliert worden ist. Im Kommunique sind weder die Mauer noch der Schießbefehl noch die blutende Wunde an der Grenze erwähnt. Es fehlt die Rücknahme der Verdoppelung des Zwangsumtausches. Offensichtlich nicht korrigiert wurde die fehlende Einbeziehung Berlins in die Übernachtungsregelung für Besucher. Die SPD wird ihre Bemühungen fortsetzen, auf den Zustand der konventionellen Nicht-Angriffsfähigkeit hinzuwirken, die der Bundespräsident in seiner Tischrede formuliert hat... Sich auf das Machbare konzentrieren heißt, statt von der Einheit zu träumen, die Gemeinsamkeit der Interessen beider Staaten zu suchen." Damit sind wir bei der Frage der Nation, die auch nach der Herstellung der staatlichen Einheit noch immer Fragen aufgibt, erstaunlicherweise.

Seit dem Februar 1984, als alle Fraktionen mit Ausnahme der Grünen einen Beschluß zur Deutschlandpolitik faßten, der sich auf den ersten Bericht Kohls zur Lage der Nation stützte, war der Begriff der "Nation" nicht mehr im Streit. Im November 1984 veröffentlichte die Bundestagsfraktion ihre Thesen zur Deutschlandpolitik, die sogar der damalige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Rühe, als "vernünftige Grundtendenz" rühmte. 1986 wurde der Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm in Irsee veröffentlicht, in dem bestätigt wurde: "Die Frage der Nation, der sich auch die DDR nicht entziehen kann, hat sich durch die staatliche Teilung nicht erledigt. Es bleibt offen, ob und in welcher Form die Deutschen in beiden Staaten in einer europäischen Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft finden."

Danach begann der Streit um die Vokabel "Wiedervereinigung". Die Wiederherstellung des Gewesenen werde es nicht geben, meinte Hans-Jochen Vogel schon 1983. Das stimmte, wie wir im Jahre 3 nach der Einheit sehen. Und das Wort von der Lebenslüge traf eben auch zu, wie Brandt formulierte, denn weder vor noch nach ihm ha

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ben die Bundeskanzler die Wiedervereinigung als erstes Ziel ihrer Politik betrieben, und als Kohl zugriff, mit Mut und Glück, geschah das zwei Jahre nach dem Parteitag, an dem die Union sich ehrlich machen und den Begriff der "Wiedervereinigung" aus ihrem Programm mit Zustimmung ihres Vorsitzenden nehmen wollte. Ich will damit nur sagen, daß es ganz parteiübergreifend eine Haltung aller Bundesregierungen mindestens seit 1966 gab, die von den Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR zu Recht so verstanden wurde:

Richtet euch auf die Lage ein; wir wissen jedenfalls nicht, wann die Teilung Europas und die Teilung Deutschlands überwunden werden können.

Aber all das hat der SPD nicht den schmerzhaften Prozeß erspart, die Frage zu beantworten, was aus der Nation wird, wenn man ehrlicherweise von der zeitlich nicht begrenzbaren Teilung ausgehen muß. Sie ergab sich auch aus der Konsequenz des nicht umstrittenen, aber nur von uns so klar zum Ausdruck gebrachten Ansatzes, daß Gemeinsame Sicherheit nicht auf Abschaffung durch Zusammenbruch, sondern auf Reform- und Lebensfähigkeit beider Systeme gerichtet war.

Im Januar 1989 hieß es im Entwurf des Grundsatzprogramms: "Die Deutschen haben wie alle Völker ein Recht auf Selbstbestimmung. Die Frage der Nation hat sich nicht erledigt, aber sie ist den Erfordernissen des Friedens untergeordnet. Es muß offen bleiben, ob und in welcher Form die Deutschen in beiden Staaten in einer Europäischen Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft finden."

Auf dem Parteitag Mitte Dezember 1989 in Berlin, also sechs Wochen nach dem Fall der Mauer, hieß es dann: "Die Menschen in beiden deutschen Staaten werden über die Form institutioneller Gemeinschaft in einem sich einigenden Europa entscheiden." Das war weniger, als das berühmte Wort vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, sagt. Es entsprach eben etwa dem, was Kohl 14 Tage vorher in seiner Zehn-Punkte-Erklärung formuliert hatte, wo er bekanntlich zunächst mit seinem Kollegen Modrow über eine Vertragsgemeinschaft, dann über konföderative Strukturen und schließ

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lich über Konföderation verhandeln wollte. Über Einheit im Jahre 1990 wurde nicht gesprochen. Es ist mißlich, mitten im Strom dramatischer Ereignisse ein Grundsatzprogramm zu formulieren, das mindestens in diesem Punkt revisionsbedürftig ist.

Hinter den Kulissen gab es zur Nation eine Auseinandersetzung, die der Vorsitzende durch Formelkompromisse überdecken wollte. Sie banden die beiden Flügel zusammen, aber fliegen konnte die Partei damit nicht, wie sich 1990 erwies.

Der Konflikt war mehrschichtig. Daß Entspannungspolitik und Sicherheitspartnerschaft zuletzt die beiden Bündnisse überflüssig und damit die Voraussetzungen für die Einheit schaffen sollte, wurde von der ganzen Partei getragen. Dabei meinten die einen, ich will sie mal vereinfachend die "Rechten" nennen, daß wohl nicht einmal die Bündnisse zu überwinden sein werden, während die anderen, vereinfachend "Linke" genannt, das Ziel der Einheit nicht so ernst nahmen, vor dem die ungeliebten Bündnisse standen. Als der Zusammenbruch des östlichen Systems eintrat, waren alle überrascht. Als die Einheit vor der Tür stand, brach die Dialektik auf, ob Entspannungspolitik die Einheit ermöglichen oder überflüssig machen sollte. Sofern die alte Generation "rechter" war, sah sie sich am Ziel ihrer Wünsche, nämlich der deutschen Einheit, während jüngere, "linkere", sich als Patrioten der alten Bundesrepublik empfanden und insofern die emotionalen Generationsunterschiede, die es in Westdeutschland zur nationalen Frage gab, durchaus widerspiegelten. Es wäre nicht aufrichtig, so zu tun, als hätten die Westdeutschen ungeduldig auf Einheit gedrängt.

Oskar Lafontaine konnte sich eben durchaus im Einklang mit einer postnationalen Stimmung in Westdeutschland fühlen, als er im Dezember 1989 darauf drängte, unsere Politik vor dem Hintergrund des traditionellen Internationalismus zu formulieren, was bedeutete, daß die deutsche Frage im europäischen Einigungsprozeß eingebettet sein müsse.

Die Partei wußte, welche Position sie mit der selbstverständlichen Disziplin unterstützte, als sie den Kanzlerkandidaten kürte, nach dem

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Attentat erst recht. Ich erinnere mich an meine Begeisterung über die fulminante Rede, mit der er im Bundestag die Regierung angriff und ihre Fehler, womit er recht behielt; und ich erinnere mich an das lähmende Entsetzen, als Schäuble die ganze Wirkung dieser Rede mit dem Bedauern wegwischte, daß der Kollege Lafontaine nicht einfach gesagt hätte, er freue sich über die Einheit.

Aber die Gemengelage wurde im Herbst 1989 noch komplizierter. Gerade diejenigen, die auf größere Nähe der Partei zu den Dissidenten drängten, drängten nicht auf Einheit. Sie nahmen im Gegenteil an, daß der demokratische Sozialismus in der DDR nun eine wirkliche Chance hätte, verwirklicht zu werden. Und sie konnten sich dabei darauf stützen, daß die Opposition in der DDR ihren Staat reformieren und nicht aufgeben wollte. Das galt für die Reformer in der SED nicht weniger. Bärbel Bohley hat schließlich begründet, vor einem Jahr, warum die Opposition "Kontakte in den Westen in der Regel vermieden oder nur sehr schwach und einseitig gepflegt" hat. Wo sind sie geblieben, und in welchen Ecken schweigen oder grollen sie heute, die an jenem 4. November so begeistert und begeisternd gesprochen haben? Angenommen, wir hätten sie unterstützt, mit der SED gebrochen und der Bundesregierung das unangenehme Geschäft überlassen, mit der DDR um Menschen und Erleichterungen zu feilschen, angenommen, wir wären klüger gewesen als alle und hätten das Ende von Mauer, DDR und Sowjetunion vorausgesehen, angenommen, die Opposition gegen das Regime hätte sich mit der Opposition in der SED verbündet und die Führung der DDR übernommen, angenommen, der Runde Tisch hätte bestimmt und den großen Versuch unternommen, den demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu verwirklichen, dann wären starke Kräfte in der SPD für die Unterstützung dieses Versuchs eingetreten, für Konföderation statt schneller Einheit. Die vielen Wenns machen u. a. deutlich, wie unzulänglich es ist, sozialdemokratische Mängel an Eindeutigkeit zu den Dissidenten und zur Nation zu verbinden.

Zumal da noch die Sozialdemokraten in der DDR waren. Wir konnten uns nicht entschließen, zur Gründung der SPD in der DDR

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aufzurufen. Auch aus Verantwortung, nicht mit den Schicksalen von Menschen spielen zu dürfen, und mit der Erinnerung an die Auflösung der Partei nach dem Bau der Mauer, die immer noch stand, sondern mehr, weil die Glaubwürdigkeit ihres selbstbestimmten Entschlusses der SDP "drüben" eine bedingte Legalität geben konnte. Etwas anderes kam hinzu: Gerade vor dem Hintergrund der Arbeiterbewegung und Zwangsverschmelzung nahmen wir an, daß ein Aufruf zur Gründung der SPD in der DDR durch uns der Aufruf zum Ende der DDR, also die Kampfansage schlechthin sein würde, und dafür schien die Zeit zu früh. Es stellte sich erst nach den Märzwahlen 1990 heraus, daß wir Kraft und Einfluß der SPD überschätzt haben. Aber wer heute so tut, als hätte die SPD mit einem anderen Verhalten den Fall der Mauer und das Ende der DDR auch nur um einen Monat, eine Woche oder einen Tag beschleunigen können, überschätzt unser damaliges Gewicht noch immer.

Übrigens darf daran erinnert werden, daß die DDR die Entwicklung eines deutschen Walesa oder Havel wohl nicht zugelassen haben mag, aber jedenfalls hat sich in der Turbulenz der Umbruchsmonate niemand herausgestellt, der den Griff zur Macht, die auf der Straße lag, gewagt hätte.

Wir haben damals der sowjetischen Führung mitgeteilt, wir könnten die DDR innerhalb von zwei Wochen destabilisieren. Es wäre Abenteurertum gewesen. Früher sollte die DDR-Führung sich sicher fühlen können, sonst hätte die Kirche nicht das Dach bilden können, unter dem die Dissidenten sich formieren konnten. Nun im Herbst 1989 unterstützten wir noch immer das Interesse der Bundesregierung, die DDR nicht zu destabilisieren.

Wir teilten die allgemeine Sorge zwischen Moskau und Washington, zwischen Ostberlin und Bonn, die rasante Entwicklung nicht unkontrollierbar werden zu lassen, Explosion und Blutvergießen zu verhindern. Deshalb setzte Kohl die Zusammenarbeit mit Krenz fort, und wir verhielten uns nicht anders. Kohl durfte gar nicht anders, und wir waren konsequent, auch wenn das nachträglich einige falsch nennen. Immerhin habe ich mit Ibrahim Böhme, den alle, die ihn

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vorher kennenlernten, als das größte Talent bezeichnet haben, bei meiner ersten Begegnung verabredet, daß wir uns vor und nach jedem Gespräch mit der SED-Führung abstimmen würden. In meinem letzten Gespräch mit Axen in seinem Amtszimmer erklärte ich, daß die Sozialdemokraten in der DDR unsere präferenzierten Partner sind und wir die Gespräche mit der SED abbrechen würden, wenn sie das nicht akzeptierte. Es war ein Stück Schutz für die SPD-Ost und im Rückblick für mich das Ende der zweiten Phase der Ostpolitik, fast unbemerkt.

Was die außenpolitischen Äußerungen der neuen alten Partei in der DDR anging, so waren wir in Bonn beeindruckt durch die frische, unverbrauchte, unformelhafte Sprache. Beim ersten Treffen mit Markus Meckel stellte ich auch reibungslose Übereinstimmung in der Sache fest: Europäische Sicherheit und Einheit sind zu verbinden. Die SPD in der DDR konnte - wie ich für mich persönlich - die Regierungserklärung de Maizieres voll unterschreiben.

Die Diskussion in der Partei um die Nation wurde weggewischt durch die Entscheidung, den Erfolg des Versprechens, es würde keinem schlechter, aber vielen besser gehen.

Mein Fazit der Deutschlandpolitik der SPD nach dem Kriege: Sie hat ihr Ziel erreicht. Auch die zweite Phase ihrer Ostpolitik hat dazu beigetragen. Es war die Kunst, aus der Position der Schwäche Stärkere zu bewegen. Ihr Erfolg hat sie überrumpelt, und die Gunst der Stunde wurde verkannt; andere haben nicht nur geerntet, weil sie regierten.

Offen bleiben zwei Punkte: Erstens: Europäische Stabilität muß nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der vorgezogenen deutschen Einheit erst recht nachgeholt werden. Die Vorstellungen der SPD dazu haben nichts von Relevanz verloren, sondern sind dringlicher geworden, auch wenn die Partei sich zuweilen bemüht, das zu verdunkeln.

Zweitens: Auch heute ist kein Staat zu sehen, der Deutschland vorauseilen möchte in der Aufgabe seiner nationalen Souveränität. Auch bei bestem Willen könnte Deutschland keine europäische Na-

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tion schaffen. Der nationale Staat sammelt Steuern, setzt Recht und Sanktionen bei seiner Übertretung fest und entscheidet, ob seine uniformierten Bürger innerhalb oder außerhalb der Grenzen schießen. Die nationale Verantwortung der Parlamente ist unentbehrlich, unter welchen Bedingungen sie ihre Kompetenzen auf die geschichtlich notwendigen übernationalen Organe übertragen. Es bedarf der Nation, um den neuen kollektiven Rahmen für Sicherheit zu schaffen, dem sich die nationalen Institutionen unterwerfen. Ein Europa der Vaterländer kann eine Einheit, aber kaum eine Union bilden. Das ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeit.

Daß wir nun endlich die Probleme haben, die wir uns immer gewünscht haben, habe ich vor zwei Jahren gesagt. Triumph kann sich nicht einstellen angesichts neuer zerbrochener Menschenschicksale und Bergen von Problemen innen wie außen, für deren Lösung Orientierung vermißt wird. Die Erfüllung des Traumes der Einheit noch erlebt zu haben, läßt immer wieder das glückliche Gefühl zurückkehren, wenn man vom Reichstag am Brandenburger Tor vorbei in die Linden gehen oder über die Glienicker Brücke fahren oder auch nur auf einem Waldweg die Stille hören kann. Daneben tritt schnell der Blick für die Fehler, vor allem die Schwäche des Staates, die eigenen Fehler des Einheitsvertrages zu korrigieren, so daß
- verrückt genug - die Teilung der Nation in der Einheit wächst. Deutschlandpolitik ist beendet; die neue Aufgabe ist geteilt zwischen Politik in Deutschland und deutscher Politik für Europa.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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