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Hartmut Soell

Herbert Wehners Bruch mit dem Kommunismus


„Glaubt einem Gebrannten!" Der Mann, der dies den Delegierten des außerordentlichen SPD-Parteitages im November 1959 in Godesberg zurief, um sie von der Notwendigkeit der Erneuerung der Partei im Programm und Praxis zu überzeugen, setzte sehr bewußt seine schon zum Mythos geronnene Biographie ein.

Auf diese Weise Zustimmung zu erreichen, war gleichwohl nicht ohne Risiko. Jeder historische Mythos enthält neben Fragmenten aufzuhebender Vernunft Elemente nicht oder falsch verarbeiteter und deshalb ins Irrationale abgeglittener Vergangenheit. Er trägt die Gefahr in sich, Geschichte zu wiederholen. Und sei es nur von anderen und in Form jener Etiketten, die ihm häufig - in den eigenen Reihen meist verdeckt, von politischen Gegnern überwiegend offen - aufgebrannt wurden und teilweise immer noch werden. Der wechselvolle Lebenslauf Herbert Wehners bietet eine breite Palette von Anwürfen, auch wenn sie in aller Regel die gelebte Realität verzerren: Anarchist, Kommunist, Bolschewist, Stalinist, Sowjetspion, britischer Agent, Verräter, Denunziant - allesamt Begriffe, die im Nachkriegsdeutschland je nach politischer Himmelsrichtung mit dem „Ludergeruch" der Revolution, der sozialen Deklassierung, gar der lumpenproletarischen Existenz und der politischen Kriminalität behaftet waren.

Waren die oft jähen Wendungen und Brüche in Wehners politischem Engagement in seiner Kindheit und der sozialen und politischen Lebenswelt angelegt, die ihn umgab? Mit aller Vorsicht läßt sich diese Frage in wesentlichen Punkten mit „ja" beantworten. Es bedeutete schon etwas, als erstes Kind einer - nach seinem eigenen Zeugnis - „richtigen Arbeiterfamilie" in einer bewegungs- und spannungsreichen Zeit geboren zu sein. Wenige Monate vor Wehners Geburt, im Dezember 1905, hatten über 80000 sächsische Sozialdemokraten in Dresden gegen das Klassenwahlrecht demonstriert. Seit den Maitagen 1849, in denen Gottfried Semper beim Barrikadenbau geholfen, Michael Bakunin diese zeitweise verteidigt und Richard Wagner in Flugblättern für die demokratische Revolution geworben hatten, hatte es in Dresden keinen solchen Aufbruch der Massen mehr gegeben.

Die durch Arbeitsplatzwechsel und Arbeitslosigkeit des Vaters bedingte Heimatlosigkeit, das damit verbundene Gefühl der Nichtzugehörigkeit, des Fremd- und Verlassenseins, die Härte der Arbeit der Eltern und zu oft auch der Kinder selbst, der geringe Lohn, das "Aufwachsen unter Steinen", in den zu engen Wohnungen der Mietskasernen - all diese stummen Zwänge des proletarischen Milieus haben auch Wehners Kindheit mitgeprägt.

Dennoch waren Arbeiterkinder nach der Jahrhundertwende nicht nur Opfer beklagenswerter gesellschaftlicher Umstände. Gemessen an der Lebensweise früherer ländlicher und städtischer Unterschichten, auch früherer Generationen von Industriearbeitern, gab es eine größere Vielfalt von Lebens- und Erziehungsstilen, in denen die Herausforderung durch die schwierigen äußeren Umstände angenommen, auch den Kindern früh bewußt gemacht wurden und so zur Intensivierung der Beziehungen im Innenraum der Familie beitrugen.

Hinzu kam die Tatsache, daß die Kernfamilie, zu der Herbert Wehner gehörte, offenbar eine tiefe Kluft von der väterlichen Verwandtschaft trennte, die ihren mittelbürgerlichen Status im Gegensatz zu den Wehners offenbar hatte halten können. So war die Kernfamilie weitgehend auf sich selbst verwiesen und für das Kind Herbert Wehner zur einzigen Heimstatt, gar zur festen Burg, geworden. Um so schlimmer war es für ihn, daß bei Kriegsbeginn 1914 diese ohnehin prekäre Sicherheit der Familie ins Wanken geriet. Über die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wird oft vergessen, welche seelischen Ängste und materiellen Entbehrungen der Erste Weltkrieg über Millionen Familien, insbesondere über die Kinder, brachte.

Herbert Wehner hat in der während der Haft in Schweden 1942/43 verfaßten Schrift „Selbstbesinnung und Selbstkritik", die August Hermann Leugers-Scherzberg 1994 herausgegeben hat, den Gegensatz zwischen dem Jubel der vom kollektiven nationalistischen Gemeinschaftserlebnis überwältigten Mehrheit des Volkes und der eigenen kindlichen Verlorenheit betont, als er - der knapp Achtjährige - den Anfang August 1914 mit seinem Regiment ausrückenden Vater bis zum Bahnhof begleiten durfte: „Der Krieg kam über uns wie ein schreckliches Ungewitter, unbekannt in seinen Ausmaßen, unbekannt in seinen Folgen. Wir hatten nichts, woran wir uns halten konnten. Wir wußten nur, daß die bisher gültigen Regeln und Gewohnheiten unerbittlich beiseite geschoben wurden, und daß nichts uns davor retten könnte." (ebda., S. 164 f.)

Die angstvolle Erinnerung daran, daß der einzelne mit seiner Familie sich selbst überlassen wurde, daß das Regiment des Vaters schon in den ersten Wochen „aufgerieben" wurde und die Mutter das dritte Kind, das sie erwartete, verlor, hat ihn tief geprägt.

Spuren dieser Trennungsängste und der Versuche, sie zu kompensieren, finden sich in zahlreichen Lebenssituationen Wehners wieder. Mimosenhafte Empfindlichkeit und Schroffheit im öffentlichen Auftreten sowie Sensibilität im privaten und Freundeskreis wurden zwei Verhaltensweisen, mit deren Hilfe Wehner diesen Ängsten zu begegnen wußte.

Da der vom Staat gezahlte Ausgleich für den Ausfall des Hauptverdieners nicht reichte und die Mutter zeitweise schwer krank wurde, mußten auch die Kinder bald zum Lebensunterhalt beitragen. Der ältere und kräftigere Herbert unterzog sich dieser Mühsal schon als Neunjähriger.

Wo viel Schatten ist, da gibt es auch etwas Licht: Neben der Fähigkeit, die soziale Lebenswelt mit wacheren Augen zu betrachten, vor allem der Stolz, der Mutter helfen zu können - helfen zu wollen, wurde fortan zur zweiten Natur - und von ihr früh ernstgenommen zu werden.

Kinderarbeit, Vaterlosigkeit und vielerlei Entbehrungen materieller wie seelischer Art als Kriegsfolgen haben, je länger der Krieg dauerte, den Protest der Jungen, selbst der ganz Jungen, zum grundsätzlichen Argwohn werden lassen. Diese Tendenz zum Mißtrauen gegenüber den Täuschungen und Selbsttäuschungen der älteren Generation, die im Extrem in scheinbar sich widersprechenden Formen auftrat - in der Verwerfung jeglicher Autorität ebenso wie in der Anbetung der absoluten Autorität des einen Führers - hatte auch den gerade der Kindheit entwachsenden Wehner erfaßt. Es war nicht nur jugendlicher Übermut, sondern erstes öffentliches Anzeichen dieses fundamentalen Protestes, wie der zwölfjährige Chorknabe der Kirchengemeinde Dresden-Striesen - dorthin war die Mutter mit den Kindern 1916 zurückgekehrt - zur Novemberrevolution beitrug: Am Samstag nach dem üblichen Probesingen im Gemeindesaal nahm er das dort hängende Kaiser-Wilhelm-Bild von der Wand und drehte es um. Der „national" empfindende Pastor machte in der Sonntagspredigt keinen Hehl daraus, wie schwer für ihn dieses Sakrileg wog.

Der durch den Krieg und die militärische Niederlage enorm verschärfte Autoritätsschwund der Älteren, der es zunächst den Jugendlichen leichter zu machen schien, war die eine Sache; das Gefühl des Zuspätgekommenseins war die andere.

"Ich bin Jahrgang 1906, und wenn ich zynisch sein wollte, könnte ich sagen, wir kamen immer einige Jahre zu spät. Wir gehörten zu den Nachvollziehenden." In dieser ein halbes Jahrhundert später vorgenommenen Selbstdeutung hieß es weiter: „Rosa Luxemburg war schon vier Jahre tot, als ich ... entdeckte, was sie geschrieben hat. Und so wurde man aufgrund von Dingen, die in meiner Heimat damals geschahen, fasziniert, obwohl daran nichts mehr war. Nicht weil sie tot war, sondern weil diese Dinge, soweit sie von konkreter Politik handelten, schon überlebt oder widerlegt waren."

Zu den „Nachvollziehenden" zu gehören, als Revolutionär nicht Urheber großer Bewegungen zu sein, das bedeutete einen Verlust an Unmittelbarkeit, an Authentizität, an politischem Sinn überhaupt, wie er größer kaum vorstellbar ist. In der großen Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, von den Klassikern bis hin zu den Romantikern, von Schiller über Kleist bis hin zu Chateaubriand, von Stendhal über de Musset bis Heine galt das Zuspätkommen als Gipfel der Tragödie, als „le grand mal du siècle". Trotz einer gehörigen Portion Selbststilisierung - Wehner kannte sich gut in der Literatur aus - ist das Lebensgefühl von politisch aktiven Teilen seiner Generation und seiner sozialen Klasse gut getroffen: politische Identitätssuche, die sich von der Realität ab- und dem Mythos der authentischen, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit zugleich und unmittelbar verkörpernden Revolution zuwandte.

Der konkrete Anlaß, aus dem durch die Tradition des Elternhauses vorgegebenen politischen Engagement - er war zu Beginn des Jahre 1923 der Jugendorganisation der SPD beigetreten - wieder auszusteigen und sich mit Gleichgesinnten einer „freien" Gruppe anarchosyndikalistischer Richtung anzuschließen, war der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen im Herbst 1923, um die sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung in Dresden abzusetzen. Im benachbarten Freiberg gab es über zwei Dutzend tote Demonstranten. Dies vor allem hat die Jugendlichen „aus dem Gleis geworfen".

Der Weg, den Wehner und seinesgleichen beschritten, war so ungewöhnlich nicht. Es gab Abspaltungen und Neuformierungen von Gruppen zuhauf. Zumal in Dresden und Umgebung bestand eine bunte Vielfalt von Syndikalisten, Unionisten und Anarcho-Kommunisten, die nur in den wichtigsten „Antis" (Antietatismus, Antizentralismus, Antiautoritarismus, Antikapitalismus und Antimilitarismus) übereinstimmten.

Wehner fühlte sich zuerst angezogen von Peter Kropotkins „gegenseitiger Hilfe" und von Gustav Landauers „Revolution der Köpfe", die auf die ethischen Elemente notwendiger Verhaltensänderungen abhob. In Martin Bubers „Erinnerung an einen Tod" - zu Ehren des im Frühjahr 1919 bei der Niederschlagung des Münchner Räteaufstandes ermordeten Gustav Landauer beschrieben - fand er sich wieder: "An der wahren Front kämpft einer gegen seine Genossen und gegen sich selber, und erst von den Entscheidungen dieser Kämpfe aus wird er zu anderem ermächtigt. Das sind die Menschen, denen man sagt, sie hätten die Kampfkraft geschwächt. Das sind die Menschen, die die Kampfwahrheit am Leben halten..."

In den immer zahlreicher werdenden eigenen Beiträgen des jungen Anarchisten Wehner dominierte die Sprache des Leidens und der Leidenschaft, der inneren Krisen und der radikalen Verzweiflung. Das „knechtselige" deutsche Volk und seine „elende Geschichte, erfüllt von Untertanentreue und Militarismus", besonders die „feige Sklavengesinnung" der Arbeiter, der „Herdengeist der proletarischen Massen" sowie die Kritik an von „vertrockneten Gelehrten" propagierten Marxismus, später auch an der Praxis Stalins, linke Revolutionäre und Anarchisten in der Sowjetunion zu verfolgen, waren die häufigsten Themen.

Bald reichte ihm die Gruppe als gegenseitige "Erziehungsgemeinschaft" nicht mehr aus. Er wollte mehr - die Aktion! "Revolutionäre Tat" hieß die Zeitschrift, die Wehner zusammen mit anderen Mitgliedern der Dresdener "Anarchistischen Tatgemeinschaft" seit Mai 1926 herausgab.

Aus dem Dilemma, zu warten, bis sich der von Landauer verkündete Sozialismus des Gewissens und der Umkehr durchgesetzt hatte, und dem Anspruch, revolutionärer Tatmensch im Hier und Heute zu sein, fand er auch nicht durch die Hinwendung zu den Bakuninschen Imperativen: die Revolutionäre aller Richtungen zusammenzuschließen, den bestehenden Staat zu zerschlagen, das Volk politisch und ökonomisch zu befreien.

Besonders scharf akzentuierte sich dieses Dilemma in der Zusammenarbeit Wehners mit dem Dichter und Anarchisten Erich Mühsam. Dieser, wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik zu einer fünfzehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt und deshalb von Wehner anfangs als authentischer Revolutionär der Tat verehrt, hatte nach seiner Freilassung durch die Weihnachtsamnestie 1924, durch die auch Hitler freigekommen war, einen Großteil seiner alten Illusionen, insbesondere die einer möglichen Synthese der Ideen Bakunins und Lenins, behalten. Auch dieser Versuch zog Wehner an.

Die engere Zusammenarbeit zwischen Mühsam und Wehner dauerte ein knappes halbes Jahr - von Oktober 1926 bis März 1927. Dann brach Wehner abrupt die Beziehungen ab. Wenige Monate später war er Mitglied der KPD.

Wie kommt ein Mensch, der trotz seiner Jugend eben kein „leeres Blatt" im Sinne Brechts mehr war, auf das „die Revolution ihre Anweisungen schreibt", dazu, in relativ kurzer Zeit all das an scharfsinnigen Beobachtungen und Erkenntnissen - bis hin zur Kritik an der bürokratischen Diktatur Stalins und an der Verfolgung der anarchistischen Genossen in der Sowjetunion - hinter sich zu lassen, was ihm über Jahre hinweg in Fleisch und Blut übergegangen zu sein schien?

Jahrzehnte später erklärte er seine Konversion so: „Mich hat es danach gedrängt, etwas zu tun und nicht zu reden und nicht nur zu deklarieren."

Der Entschluß, der KPD beizutreten, wurde ihm neben weiteren Gründen, auf die im einzelnen jetzt einzugehen die Zeit nicht erlaubt, durch eine Eigenschaft erleichtert, die ihm schon zur zweiten Natur geworden war. Jahrzehnte später noch gab er auf die Frage nach seinem besonderen Talent die kurze Antwort: „Helfen!"

Schon als Mitglied anarchistischer Gruppen hatte er mehrere Jahre in der Roten Hilfe mitgearbeitet und politische Gefangene, unter ihnen Max Hoelz, betreut. Als ihm Ende 1927 die Stelle als hauptamtlicher Sekretär der Roten Hilfe Ostsachsens angeboten wurde, fielen auch die letzten Vorbehalte gegenüber der auf den oberen Ebenen der Parteiorganisation und in ihrem politischen Kurs immer stärker fremdbestimmten KPD.

Mit der Hierarchie hatte er deshalb wenig Probleme, weil er schnell mehrere Stufen übersprang. Ein Jahr später stand er schon in der Leitung des KPD-Bezirks Ostsachsens an zweiter Stelle. Nach der Zusammenlegung der drei sächsischen Bezirke Ende 1929 nahm er die gleiche Position im ganzen sächsischen Bezirk ein. Der ultralinke Kurs, den Stalin den Kominternparteien seit der Jahreswende 1928/29 immer stärker aufnötigte, um den Kampf mit seinen innerparteilichen Rivalen von links und rechts und den damit verknüpften mörderischen innergesellschaftlichen Umbruch - die Beseitigung der „Kulaken" und die forcierte Industrialisierung - nach außen abzuschirmen, wurde von Wehner voll akzeptiert, weil er seiner radikalisierten inneren Einstellung entsprach. Etwaige Bedenken, die ihm während der gewerkschaftlichen Arbeit - er war als zweiter Sekretär für die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition verantwortlich - kamen, wurden so immer wieder überspielt.

Angesichts ihrer enormen Mitgliederfluktuation und ihrer durch fortgesetzte Flügel- und Cliquenkämpfe entstandenen Verluste an „Kadern" hatte die KPD unverbrauchte junge Leute wie Wehner bitter nötig. Seine enorme Arbeitsleistung, seine agitatorischen und rhetorischen Fähigkeiten wie seine kräftige Statur verschafften ihm jenes dekorative Flair des Edelproletariers, der die Mühen der Arbeit ebenso zu verkörpern schien wie den Zug zum Höheren. Er genoß wachsendes Ansehen als „Führer" insbesondere bei den durch die steigende Massenarbeitslosigkeit immer stärker radikalisierten Arbeitslosen. Die Reden im sächsischen Landtag, in den er im Sommer 1930 gewählt worden war, wurden von den Zuhörern mit ebenso großer Begeisterung aufgenommen wie seine Auftritte während des Ende 1930 von ihm mitorganisierten Streiks der Dresdener Taxifahrer.

Wenige Wochen nach dessen Scheitern wurde er durch den Beschluß des Zentralkomitees in Berlin „zur Disposition" gestellt. Vergeblich wehrte er sich dagegen, die heimatliche Basis zu verlieren - ein Grund mehr für die Entscheidung der Berliner Zentrale, denn wurzellose „Kader" schienen auf Dauer brauchbarer zu sein. Seine Tätigkeit als Instrukteur der Zentrale, der in Bezirken und Unterbezirken nach dem Rechten zu sehen hatte, erwies sich später als Vorteil. Von der Machtergreifung des NS-Regimes in den Untergrund getrieben, konnte er durch seine Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten dazu beitragen, die durch die Verhaftung von Zehntausenden von Funktionären und aktiven Mitgliedern weitgehend zerschlagene Organisation der KPD durch ein Netz von illegalen Zellen in einem sehr begrenzten Umfang zu ersetzen. Eine Schlüsselstellung war ihm auch dadurch zugefallen, daß er, der im Mai 1932 von Ernst Thälmann zu einem der technischen Sekretäre des Politbüros bestellt worden war, sich ab November 1933, als alle Mitglieder dieses obersten Führungsgremiums entweder verhaftet oder außer Landes gegangen waren, nun allein auf weiter Flur sah.

Diese Führung hatte in den Augen Wehners und Tausender Gleichgesinnter zunächst jeden Kredit verloren. Nicht nur, weil die Illegalen sich im Stich gelassen fühlten, sondern weil die Emigrationsleitung nicht bereit war, die Niederlage, die die Partei 1933 erlitten hatte, als solche anzuerkennen. Nach wie vor wurde der Kampf gegen die „sozialfaschistische" SPD fortgeführt und Parolen vom „revolutionären Aufschwung" und vom „deutschen Oktober" oder „nach Hitler kommen wir" verkündet, die für die illegale Arbeit völlig ungeeignet waren.

Wehner hatte wie wenige Kommunisten das Ausmaß der Katastrophe begriffen und machte sich über den enormen Beitrag der eigenen Partei, insbesondere ihrer Führung, zu den Ursachen dieser Katastrophe wenig Illusionen. Er geriet deshalb in eine schwere, etliche Monate andauernde Vertrauenskrise. Den Maßnahmen des geheimen KPD-Apparats, insbesondere bei der Beschaffung von illegalen Wohnungen und Reisedokumenten, mißtraute er, weil er ahnte, mit welchem Uriasbriefe jene versehen wurden, die der Parole vom bloßen „strategischen Rückzug" nicht folgen wollten. Was ihn letztlich davon abhielt, der Partei den Rücken zu kehren, war die Lage in Deutschland selbst. Vom Widerstand gegen die braune Mörderbande, gegen den Inbegriff dessen, was Rosa Luxemburg als „Abstieg in die Barbarei" prophezeit hatte, abzulassen, hätte bedeutet, sich politisch selbst aufzugeben.

Neue Hoffnung schöpfte er, als Teile der KPD-Führung anfingen, sich nach dem Muster der französischen KP auf das Experiment der Volksfront einzulassen. Auch dafür hatte die Neuorientierung der Westpolitik Stalins, der auf die Bedrohung durch Hitler erst zu reagieren begann, nachdem er nicht mit diesem ins Geschäft gekommen war, den Weg frei machen müssen. Wehner selbst hatte den Auftrag erhalten, die erste Phase dieses Experiments, den Abstimmungskampf an der Saar im Sommer und Herbst 1934, zu leiten. Auch wenn dadurch das Ergebnis der Abstimmung, bei der die Saarländer ihren lange gedemütigten nationalen Gefühlen freien Lauf ließen und mit über neunzig Prozent der Parole „Heim ins Reich" folgten, faktisch kaum beeinflußt wurde, konnte Wehner später die dabei gemachten Erfahrungen und Verbindungen zu sozialdemokratischen Emigranten nutzen.

Nachdem er auf der in Kunzewo bei Moskau im Oktober 1935 stattfindenden Parteikonferenz (der sog. „Brüsseler Konferenz") als Vertreter der jungen illegalen „Kader" in die engere Führung gewählt und ihm als Operationsfeld Westeuropa zugewiesen worden war, bemühte er sich im folgenden Jahr intensiv in Paris um das Zustandekommen einer Volksfront innerhalb der deutschen Emigranten. Im Dezember 1936 kam zwar ein gemeinsamer Aufruf zustande, der neben bekannten Namen wie Rudolf Breitscheid, Willy Brandt und Heinrich Mann auch die Unterschriften führender KPD-Funktionäre wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Kurt Funk (d.i. Herbert Wehner) enthielt. Aber das Mißtrauen der nichtkommunistischen Partner - von dem des Prager Exilvorstandes der SPD, der sich an der Volksfront nicht beteiligt hatte, gar nicht zu reden - angesichts der sehr unterschiedlichen kommunistischen Interpretationen der alten und neuen Politik erhielt immer wieder neue Nahrung. Es reichte eben nicht aus, wenn einzelnen Vertretern der KPD wie Willi Münzenberg und Herbert Wehner Aufrichtigkeit und Bereitschaft zur Verständigung mit anderen Kräften zugebilligt wurden.

Die durch die Schauprozesse seit August 1936 auch in Westeuropa sichtbare Praxis der von Stalin inszenierten Hexenjagd gegen vermeintliche Gegner tat ein übriges, die Bemühungen um eine deutsche Volksfront versanden zu lassen.

Wehner, der sich mit Ulbricht wegen der gegenüber den anderen Kräften des Volksfrontausschusses zu betreibenden Politik zerstritten hatte, wurde nicht zuletzt deshalb Ende 1936 nach Moskau zitiert und einem mehrjährigen Untersuchungsverfahren der Komintern unterworfen. Über die Art und Weise, wie er dort den Kopf aus der Schlinge zog, ist inzwischen einiges bekannt.

Die Gauck-Behörde verfügt über Kopien von Materialien aus dem Archiv des KGB. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatte in den sechziger Jahren diese Materialien erhalten, um operative Maßnahmen gegen Wehner vorzubereiten. Darunter befinden sich zwei Berichte Wehners für die NKWD, die Vorläuferin des KGB, die ihn zweimal in der Lubjanka verhörte. Der Bericht vom Februar 1937 ist eine Situationsanalyse über linke Gruppen (SAP, ISK, Brandlergruppe, Neu Beginnen) in der deutschen antifaschistischen Bewegung und den Einfluß der „trotzkistischen Wühlarbeit" in diesen Gruppen. Der Bericht ist weitgehend identisch mit einem im gleichen Jahr in der Komintern-Zeitschrift „Kommunistische Internationale" erschienen Artikel Wehners. Während bei der Analyse dieser Gruppen Namen von Personen genannt wurden, die sich zumeist in Westeuropa, Skandinavien oder USA aufhielten, fehlen Namensangaben beim Abschnitt „Trotzkistische Einflüsse in unserer Partei".

Unter den damaligen Bedingungen einer sich immer mehr steigernden Verfolgungshysterie gegen die "Trotzkisten" als die, in Stalins Augen, Erzbösewichter ist es vorstellbar, daß die NKWD diese Zurückhaltung Wehners als zu wenig kooperativ eingeschätzt und ihn auch aus diesem Grunde im Dezember 1937 ein zweites Mal als Zeugen vernommen hat. Im übrigen war der Unterschied zwischen Zeugen und Angeklagtem minimal, meist nur eine Frage des Zeitpunktes und des Zufalls.

In diesem zweiten, im Zuge der Vernehmung nach Mitternacht bei hohem Fieber geschriebenen Bericht sind die Namen von rund drei Dutzend Personen enthalten, von denen sich die meisten außerhalb der Sowjetunion befanden oder schon verhaftet waren. Bei den Verhafteten galt die Regel: Wer sie nicht als „Schädlinge", als „Volksfeinde" bezeichnete, da die „Organe" wie die NKWD ja nicht irren konnten, geriet selbst in den Verdacht, ein „Feind" zu sein.

Übrig bleiben sechs Namen von Personen, von denen fünf nach dieser Vernehmung am 12./13. Dezember 1937 verhaftet wurden. Bei zweien dieser Fälle handelte es sich um enge Mitarbeiter Thälmanns (Flieg und Birkenhauer). Sie hatten Wehner u.a. mit dem lebensgefährlichen Vorwurf überzogen, er habe Thälmann schon vor dessen Verhaftung der Gestapo in die Hände zu spielen versucht. Wehner hatte mit Gegenbeschuldigungen reagiert. Bei einem weiteren der Genannten handelte es sich um das ehemalige Politbüromitglied Fritz Schulte, dem Wehner schon auf der sog. Brüsseler Konferenz vorgehalten hatte, er habe durch sein Fehlverhalten die Verhaftung Illegaler in Deutschland verursacht. Die weiteren Namen - es handelte sich um Frauen - tauchen möglicherweise deshalb auf, weil nach ihnen gefragt wurde.

Ob alte Fraktionskämpfe, ob Rache für den Tod vieler Freunde und Gefährten nach 1933, ob Revanche in persönlichen Auseinandersetzungen oder einfach der Umstand, daß er selbst einem Untersuchungsverfahren der Komintern ausgesetzt war, für die Angaben ausschlaggebend waren, ist heute schwer auszumachen. Wehner hat durch die Art, in der er insbesondere die Fälle der beiden Mitarbeiter Thälmanns in den 1946 geschriebenen (1982 dann von Gerhard Jahn herausgegeben) „Notizen" schilderte, deutlich gemacht, daß er Schuldgefühle hatte, weil er in jenes zum Inquisitionsritual gehörende Netz von Anklagen, Gegenanklagen, Denunziationen und Selbstbezichtigungen geraten und dadurch zum Mittäter geworden war. Er hat sich deshalb auch Jahrzehnte später im Nachhinein einen frühen Tod im Spanischen Bürgerkrieg gewünscht.

Für Historiker, die nicht den politics of memory von Medien oder Parteien verpflichtet sind, ist bei der Zurechnung konkreter Schuld selbst in den genannten Fällen Vorsicht geboten. Soweit bisher bekannt, tauchten in keiner Prozeßakte derjenigen, die später zu meist langjähriger Lagerhaft oder zum Tode verurteilt wurden, Wehners Hinweise auf.

Vieles am knapp vierjährigen Moskauer Zwangsaufenthalt bleibt weiter rätselhaft.

So verfaßte Wehner im Mai 1937 einen „streng vertraulichen" Bericht an die KPD-Führung und die Komintern, der die negative Reaktion der deutschen Arbeiter auf die Moskauer Prozesse so drastisch schilderte - u.a. durch eine Gleichsetzung der Verherrlichung von Hitler und Stalin sowie des sog. Röhmputsches mit diesen Prozessen -, daß ihm daraus jederzeit der gefährliche Vorwurf des „Objektivismus" hätte gemacht werden können.

Seine veröffentlichten Beiträge aus jener Zeit sind - wie die der anderen KPD-Emigranten auch - voller byzantinischer Lobhudelei gegenüber Stalin und den glorreichen Errungenschaften der Sowjetunion. Auch den Schrecken des Hitler-Stalin-Paktes versuchte er schnell zu verdrängen - nicht zuletzt deshalb, weil er sich der Illusion hingab, wie es in einer internen Analyse der KPD-Führung vom Dezember 1939 hieß, die durch den Pakt auch unter den „nationalsozialistischen Werktätigen begonnene Orientierung auf die Freundschaft mit der Sowjetunion" eröffne große Möglichkeiten, sie in die „gemeinsame Kampffront mit den kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern" einzureihen.

Die Frage, weshalb Wehner trotz der kurz angedeuteten Gefahren überlebt hat, kann nur ansatzweise beantwortet werden - am wenigsten wohl wegen seiner Bereitschaft zur Denunziation. Viel eher gab den Ausschlag, daß er aufgrund seines Lebensalters nicht wie andere langgediente KPD-Spitzenfunktionäre Zeuge der Fehler Stalins in der Politik der Komintern geworden und deshalb nicht in dessen Visier geraten war. Hinzu kam, daß ihm Dimitroff, der Generalsekretär der Komintern, wegen seiner Kenntnisse der illegalen Verbindungen nach und in Deutschland für unentbehrlicher hielt als die meisten anderen führenden Mitglieder der Moskauer KPD-Emigration. Dimitroff soll auch im kleinen Kreis geäußert haben: „Der Wehner bleibt nicht bei uns, der denkt zuviel!" In terroristischen Systemen selbständig zu denken, kann, wie Leo Löwenthal 1946 schrieb, „lebensgefährlich" sein.

Trotz des Verdachts gaben Dimitroff und Pieck, der auch einer seiner Fürsprecher war, im Winter 1941 Wehners Drängen nach, sich wieder direkt in den illegalen Kampf in Deutschland einschalten zu können. Von Schweden aus, wohin er im Februar 1941 gelangte, sollte das Hineinschleusen „ins Land" organisiert werden.

Das von Wehner mit großen Hoffnungen begleitete Unternehmen - gewissermaßen „deutscher Tito" (vor Tito) zu werden - scheiterte nicht nur an den enormen praktischen Schwierigkeiten. Die meisten Verbindungen nach Deutschland waren von der Gestapo unterwandert, die in jener Phase des Krieges noch mit der konservativ gesinnten schwedischen Polizei zusammenarbeiten konnte. Nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion versuchten deren Vertreter in Stockholm mehrfach, von Wehner Adressen und Verbindungen Illegaler in Deutschland zu erfahren. Wehner weigerte sich, weil er nicht zuletzt auf Grund der Moskauer Erfahrungen davon ausgehen mußte, daß die sowjetische Seite solche Verbindungen rücksichtslos nutzen würde. Es ist bis heute ungeklärt, ob diese Weigerung zu seiner Entdeckung - er war illegal eingereist - und zu seiner Verhaftung im Februar 1942 beigetragen hat.

„Als Agent einer ausländischen Macht" gegen Deutschland wurde er vom Stockholmer Oberlandesgericht zu einjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Danach wurde er in ein Internierungslager eingewiesen, aus dem er erst im Juli 1944 freikam. Die Tatsache, daß das schwedische Gericht sein Hauptargument, er habe in Deutschland eine breite Volksbewegung gegen die Hitlerregierung in Gang bringen wollen, nicht anerkannte, hat ihn lebenslang - wie sein späteres freundschaftliches Verhältnis zu Schweden zeigt - viel weniger geschmerzt als der Vorwurf, er habe durch seine Aussagen vor Gericht Illegale in Deutschland an die Gestapo ausgeliefert.

Dieser Vorwurf, der zunächst zu seinem Ausschluß aus der KPD im Juni 1942 führte und den noch Jahrzehnte später die SED-Führung - meist über links- und rechtsextreme westdeutsche Pressedienste und -dünste bis hin zur CSU-Landesleitung (so noch im Wahlkampf 1976 in einem „Rotbuch" mit dem Titel: „Wer ist Herbert Wehner?") - nutzte, um Wehners wachsenden Einfluß in der Bundesrepublik zu konterkarieren, war in keiner Weise gerechtfertigt. Ermittlungsakten des Volksgerichtshofs in Prozessen gegen kommunistische Illegale von 1943 zeigen, wie geschickt Wehner seine Verbindungen geschützt hatte. Überdies war der SED-Spitze durch eine Untersuchung, die Wilhelm Pieck im Winter 1945/46 veranlaßt hatte, sehr wohl bekannt, daß an diesem Vorwurf nichts dran war. Sonst hätte sie nicht im Januar 1946 Erich Honecker, der 1934/35 einer der Gehilfen Wehners im Saarkampf war, mit dem Auftrag, Wehner zu treffen, in die Westzonen geschickt.

Obwohl dieser Vorwurf schon vor beinahe zwei Jahrzehnten widerlegt wurde, geisterte er noch in den letzten Jahren durch westdeutsche Medien, die sich auf Aussagen von Markus Wolf beriefen, dessen Wissen und Können häufig überschätzt wurde.

Wehner durchlitt in den Jahren der Haft und danach bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1946 mehrere existentielle Krisen. Er war tief enttäuscht über die Vergeblichkeit der illegalen Arbeit, die schon in den verzweifelten Appellen und Warnungen vor dem Holocaust in seiner im Herbst 1942 nach Deutschland geschmuggelten Schrift „Die Wahrheit dem deutschen Volke!" zum Ausdruck kam. Sie war an den moralischen Verwüstungen, die die NS-Diktatur angerichtet hatte, sehr viel mehr gescheitert als an deren Verfolgungspraxis. „Jeder Gedanke an das eigene Volk", so hieß es in der Schrift „Selbstbesinnung und Selbstkritik", schmerze „wie ein Stich". Oder auch: Es sei „unbestreitbar, daß dem Nazismus die Unterwerfung des ganzen Volkes gelungen" sei.

Der schmerzhafte Prozeß der Loslösung von der KPD und der von ihr gehegten Illusionen wurde durch die eben erwähnte seelische Fremdheit dem eigenen Volk gegenüber nicht eben erleichtert. Zusammen mit dem Zwang, sich mit dem Problem der Parteidiktatur und der von ihr verweigerten Menschenrechte auseinanderzusetzen, wie er es im Moskauer Käfig unmittelbar erlebt hatte, trieb ihn dies zeitweise in eine extreme Lebensbilanzkrise. Noch ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem Lager erschien er seinem Dresdener Landsmann und späteren Bundestagskollegen Peter Blachstein, der ihn 1945 in Uppsala traf, „wie ein Mann im Niemandsland".

Persönliche Zuwendung und private Geborgenheit fand er bei Charlotte Burmeister und deren beiden Kindern. Freunde aus der Haft hatten ihm die Adresse vermittelt. Sie war die Witwe eines von den Nazis ermordeten Hamburger Kommunisten und fühlte sich weiter der kommunistischen Sache verbunden. Im Gespräch mit ihr erprobte er seine tastenden Versuche der Neuorientierung. In einem an sie gerichteten Brief von Sommer 1944 - kurz vor seiner Entlassung - hieß es, er habe schon früher nicht zu denen gehört, für die immer alles „sonnenklar" gewesen sei. Seit 1933 habe er sich mehr und mehr davon überzeugt, daß es notwendig sei, diese eigenen Gedanken zu entwickeln und zu verfechten. Die Zeit der Haft sah er so als eine für ihn „sehr harte, aber auch fruchtbare Zeit".

Wenige Monate später, nachdem sie ihm den Rat gegeben hatte, sich an seine „Freunde" zu wenden, begründete Wehner seine Ablehnung mit den Worten: „Sieh', Lotte, als ich noch jung war, wurde ich schon außergewöhnlich stark von den Gedanken gepackt, die Lenin entwickelt hat. Aber ich war nie ein Mitläufer oder Mitschreier oder so. Ich war immer sehr kritisch, ungeachtet dessen, daß es in meinem Herzen brennt (...). Für mich ist die sozialistische Sowjetunion ein ausschlaggebender Aktivposten im Kampf um den Fortschritt im Großen. Aber ich denke, daß nur eine wirkliche internationale sozialistische Arbeiterbewegung diesen Fortschritt im Großen herbeiführen kann. (...) Ich will mit meinen Kräften dieser wirklichen Bewegung dienen (ob im Großen oder Kleinen ist nicht das Entscheidende). Das aber kann ich am besten, wenn ich mich selbst durchsetze, statt mich kiloweise verbrauchen zu lassen." (Beide Zitate verdanke ich dem Kollegen Leugers-Scherzberg.)

Dieses Ringen mit sich selbst war nicht völlig freiwillig. Seinem Hauptgegner Karl Mewis, der auch einer der Urheber der Legende vom Verrat gewesen war, war es gelungen, ihn vom Gros der KPD-Emigration wie von der Führung der schwedischen KP zu isolieren. Wehners Bericht an Pieck über das Verhalten von Mewis hatte die schwedische Polizei abgefangen. Erst zwei Jahrzehnte später wurde der SED-Führung bekannt, daß Mewis das getan hatte, was Wehner zu Unrecht zum Vorwurf gemacht wurde: durch seine umfänglichen Aussagen vor der schwedischen Polizei Illegale in Deutschland in Gefahr gebracht zu haben. Prompt verlor Mewis seine Funktion als Kandidat des Politbüros und sein Amt als Chef der staatlichen Plankommission.

Zu Wehners Isolierung in Schweden hatte offenbar die Tatsache beigetragen, daß er bei dem einzigen Treffen mit Mewis im November 1944 ein politisches Programm entwickelte, das das Recht auf Persönlichkeit, auf Demokratie in der Partei und im Staat betonte. Nach Zeugenaussagen soll er es so vorgetragen haben, daß jeder Anwesende von seinem Bruch mit dem Stalinismus überzeugt sein mußte.

Im Ringen um ein neues Wertesystem hatte er in dem 1943 in Schweden erschienenen Buch „Der Kampf um die Menschenrechte" aus der Feder des deutschen Emigranten Willy Strzelewicz einen neuen Ankergrund gefunden. Strzelewicz war schon vor 1933 aus der KPD aus- und in die SPD eingetreten. In Stockholm hatte er den „Arbeitskreis demokratischer Deutscher" gegründet und war neben Willy Brandt Redakteur der Exilzeitschrift "Sozialistische Tribüne".

Er hatte in seiner Arbeit betont, daß das Marxsche Werteverständnis von Mensch, Staat und Gesellschaft zwar aus der Tradition der Menschenrechte stamme. Er kritisierte aber, daß in der kommunistischen Praxis die individuellen Freiheitsrechte nicht anerkannt, sondern der „eisernen Disziplin des kommunistischen Ordens" untergeordnet würden. Anstelle der alten Klassen seien im kommunistischen System neue soziale Gruppen und Schichten entstanden, die sich nicht weniger zur herrschenden Macht herausbildeten als frühere Schichten.

Wehner war von den Thesen des Buches so beeindruckt, daß er Strzelewicz, den er als jungen Studenten gekannt hatte, im Frühjahr 1946 um ein Gespräch bat. In diesem Treffen, das mehrere Stunden dauerte, sprach Wehner von den ihn bedrückenden Moskauer Erfahrungen und fand diese in Arthur Koestlers Büchern („Der Yogi und der Kommissar" sowie „Sonnenfinsternis") bestätigt. Aus der Unterredung gewann Strzelewicz den Eindruck, Wehner habe "sich innerlich von der KPD gelöst und aufgehört, ein Kommunist zu sein", wisse aber „noch nicht, wohin" (zit. nach Freudenhammer/Vater, S.143).

Mehr Gewißheit über den künftigen Weg erhielt Wehner durch die Reden Kurt Schumachers wie durch die brieflich geführte Diskussion mit Günther Reimann, einem ehemaligen Redakteur der Roten Fahne, der in den USA lebte. Für ihn hatte Wehner im Frühsommer 1946 die berühmten „Notizen" geschrieben. Peter Blachstein, der kurz danach die USA besuchte, hatte Reimann das Manuskript überbracht. Blachstein zeigte sich nach dessen Lektüre „verblüfft", wie lange Wehner den Zynikern im kommunistischen Apparat guten Willen zugebilligt habe. Seiner Anfang September 1946 ausgesprochenen Warnung, daß ein gewisses Mißtrauen bestehen bleiben und nur durch gemeinsame Erfahrungen beseitigt werden würde, begegnete Wehner mit dem Eingeständnis, gegen Mißtrauen verschlage sein Versuch, seine Absichten selbstkritisch darzulegen, nicht. Die Partei habe er „schweren Herzens" verlassen. Wörtlich hieß es da: „Denn immer noch dachte ich und denke ich an die vielen guten und ehrlichen Menschen, die ich innerhalb der KPD und ihres Einflußbereichs kennengelernt habe und tätig weiß. Aber ich bin gegangen, als ich sah, daß mit dem herannahenden Sieg der SU über Deutschland nur eine neue Periode einer furchtbaren reaktionären Entwicklung innerhalb der kommunistischen Bewegung beginnen würde. Und es gibt für mich kein Zurück oder Paktieren." (zit. nach M. Scholz, Herbert Wehner in Schweden 1941-46, München 1995, S. 135) Strzelewicz hatte nicht umsonst von einem "Orden" gesprochen. Keiner, der innerlich so "brannte" wie Wehner, kann leichten Gewissens mit einem Glaubenssystem brechen, das solche Absolutheit beanspruchte.

Sechs Wochen später, am 25. Oktober 1946 - inzwischen durch die Vermittlung von Freunden von Schweden nach Hamburg gelangt und in die SPD eingetreten - hielt er ein erstes großes Referat vor der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft, dem Beratungsgremium des dortigen SPD-Vorstandes.

Die Zuhörer erlebten eine bis dahin in dieser Schärfe kaum gekannte Auseinandersetzung mit den „totalitären Tendenzen in der Arbeiterbewegung", an denen diese schon in den Jahren 1918 bis 1933 gekrankt habe: Innerhalb der Arbeiterbewegung sei der Kampf unversöhnlicher geführt worden als der mit der Bourgeoisie. Er habe nicht einmal Halt vor der Auslieferung politischer Gegner an die Gestapo gemacht. Die Reduzierung des Sozialismus auf die Lehre von der Strategie und Taktik des Kampfes der Arbeiterklasse habe den Bruch mit der Kontinuität der freiheitlichen und humanitären Bestrebungen - zum Teil religiösen Ursprungs - der Vergangenheit und Gegenwart zur Folge gehabt. Wehner hielt es für falsch, nur von der Entstellung des eigentlich von Lenin Gedachten durch Stalin zu reden: „Stalin hat in vielen Punkten seinen eigenen Lenin geschrieben, aber was er über die Lehre des Sozialismus und die Rolle der Partei ursprünglich geschrieben hat, das hat seine Wurzeln in den Ideen von Lenin selbst." (Selbstbesinnung und Selbstkritik, S. 232)

Weiter hieß es da: In Rußland seien Kämpfe um Ideennuancen als Kämpfe gegen Klassenfeinde geführt worden und hätten zur Vernichtung von vielen Millionen Menschen geführt, einer Zahl, die wahrscheinlich der Summe der in Nazi-Deutschland Vernichteten nicht nachstehe (ebda., S. 234). Und schließlich war zu hören: „Derjenige, der nur die deutschen Erfahrungen hat, hat vom Totalitarismus nur 49 % erfahren. Wenn er 100% erfahren will, muß er die 51 % des russischen Totalitarismus auch noch kennenlernen".

Mit solchen Thesen, die er zwei Wochen später bei einem Treffen junger Intellektueller bei einem englischen Offizier mit persönlichen Erfahrungen aus Moskau unterfütterte, besiegelte er den endgültigen Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit.

Das wurde auch in der SED-Führung so empfunden, die bis dahin abgewartet hatte, wie Wehner sich entscheiden werde. Sie reagierte fortan mit den ihr geläufigen Mitteln: mit Attentatsversuchen und Verleumdungskampagnen, während östlicher Tauwetterperioden in den fünfziger und sechziger Jahren nur gelegentlich unterbrochen durch von Unsicherheit geprägte Kontaktversuche.

Im Westen wurde Wehners Entscheidung zwiespältiger aufgenommen. Kurt Schumacher begann, ihm - wohlgemerkt nach eingehender Überprüfung - sein Vertrauen zu schenken, und forderte ihn 1949 auf, für den Bundestag zu kandidieren. Dort hatte Wehner von Beginn an als Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses eine vielfach angefochtene, aber dennoch für die besonders Bedrängten und Geschundenen jenseits der Zonengrenze hilfreiche Schlüsselstellung inne. Der Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953 in über 200 Städten und Gemeinden der DDR und deren Ruf „Wir sind Arbeiter, keine Sklaven" war für ihn nicht nur der Beweis, daß sich die Arbeiter sowohl ihrer „menschlichen Würde" wie der „Würde ihrer Schicht" bewußt waren, sondern erschien ihm auch als nachträgliche Bestätigung seiner Grundentscheidung, die politische Auseinandersetzung um ein Gemeinwesen der Freien und Gleichen auf dem Boden der Demokratie zu führen.

Sein wichtigster politischer Widersacher Konrad Adenauer wußte - im Gegensatz zu manchem seiner Parteifreunde - sehr wohl, daß Wehner, wollte er glaubwürdig bleiben, gar nicht anders konnte, als an dieser Entscheidung festzuhalten. Wehner hatte ihm 1952 überdies versichert, wo für ihn und die SPD die Grenze der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition lag: im direkten oder indirekten Bündnis mit der SED.

Gleichwohl ist Adenauer mehr als einmal der Versuchung erlegen, Wehners kommunistische Vergangenheit als Beweis für die Bereitschaft der SPD, sich der Moskauer Politik zu unterwerfen, ins Feld zu führen.

In den sprachlichen Formen, den verbalen Exzessen und den ätzenden Sarkasmen, in denen Wehner auf solche und andere Herausforderungen häufig reagierte, wurden die Tiefe der Brüche und die daraus entstandenen Verletzungen immer wieder sichtbar. In der Sache selbst, der Entscheidung für eine freiheitliche Ordnung, blieb er fest. Er hat damit der zweiten Demokratie in Deutschland, die auch in den Jahrzehnten, in denen er Einfluß hatte, noch längst nicht gefestigt war, dabei geholfen, ihren Weg zu gehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 8.1. 1998

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