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Hans Mommsen
Die Deutschen und der Holocaust


Es ist wichtig, die etwas emotional geführte, in den Populismus abgleitende Diskussion über das Buch von Daniel Goldhagen insofern zu verändern, als wir das zentrale Problem neu aufwerfen. Worin besteht denn die bleibende Verantwortung der Nation in bezug auf den Holocaust? Diese Frage ist durch die zugespitzte These Goldhagens, daß die Deutschen im Hinblick auf den Antisemitismus immer ein extrem anfälliges Volk gewesen seien, vielleicht sogar auf ein Seitengleis geschoben worden. So wenig die Funktion des Antisemitismus auch in der deutschen Geschichte seit der frühen Neuzeit bagatellisiert werden soll, bleibt die eigentlich zentrale Frage nicht eine ideologische, sondern diejenige, warum der Mord an fünf Millionen Menschen in der Mitte dieses Kontinents ohne größere, ohne relevante öffentliche Proteste der breiten Mehrheit der Bevölkerung geschehen konnte.

Diese Frage erschöpft sich nun keineswegs darin, über den Holocaust nachzudenken. Sie wirft gleichermaßen Probleme auf, die unsere Umwelt und Zukunft betreffen. Die Erscheinung des Völkermords ist eben nicht, wie einige meiner älteren Kollegen gehofft haben, mit dem Jahr 1945 beendet. Nun ist eine Behandlung der Ursachen des Holocausts und der deutschen Verantwortung nicht von der Analyse der Umstände zu trennen, die das NS-Regime bewogen haben, die zwangsweise Aussiedlung und Deportation der Juden - nachdem es sie in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht geächtet und enteignet hatte - in die Wege zu leiten, an deren Ende die Vernichtung des in deutscher Hand befindlichen europäischen Judentums stand. Daß die vielfältige Diskriminierung des jüdischen Bevölkerungsteils im Deutschen Reich schließlich zur Ausrottung der Juden führen würde, konnten Klarsichtige aus der hemmungslosen antisemitischen Hetzpropaganda des Regimes, aber auch aus dem Zynismus und Haß, aus der gesellschaftlichen Ächtung und sozialen Ausschaltung schließen, die sich vor aller Augen abspielten und in unzähligen antisemitischen Verordnungen im Reichsgesetzblatt, das jedermann zugänglich war, spiegelten. Was die in dem Buch Goldhagens in den Vordergrund gestellte Vernichtungsdrohung angeht, so gehörte sie zum langjährigen Vokabular des rassischen Antisemitismus, und es ist notwendig, zwischen Rhetorik und Umsetzung zu unterscheiden. Die Ableitung, die wir bei Goldhagen finden, der den sogenannten eliminatorischen Antisemitismus von den Hepp-Hepp-Unruhen von 1818/19 in Würzburg herleitet, ist schon deshalb zweifelhaft, weil wir es dabei mit einem Endpunkt des traditionalen Antijudaismus - der der rechtlichen Judenemanzipation vorausging - zu tun haben, nicht jedoch mit Vorformen des modernen völkischen Antisemitismus.

Es ist notwendig, sich über die unterschiedlichen Strömungen des Antisemitismus in Deutschland und in Europa klar zu werden. Bis in die dreißiger Jahre gab es einen zum Teil verhängnisvoll nachwirkenden christlichen, folglich religiös begründeten Antisemitismus, der aber mit dem eliminatorischen Element, das ihm Goldhagen unterstellt, nichts gemein hatte. Ich kann mich hier auf die grundlegenden Forschungen von Uriel Thal beziehen, der den christlichen Antisemitismus eingehend analysiert und grundsätzlich vom völkischen Antisemitismus unterschieden hat. Die zweite zentrale Strömung des Antisemitismus in Deutschland im Kaiserreich ist mit dem Begriff eines dissimilatorischen Antisemitismus zu umschreiben. Er zielte darauf ab, die jüdischen Gruppen - sofern sie der deutschen Gesellschaft und Kultur nicht vollständig assimiliert waren - zu isolieren und sie im Extremfall mit einer kulturellen Autonomie auszustatten. Shulamit Volkov, die die Wilhelminische Phase am besten kennt, bezeichnete diese Variante des Antisemitismus im Kaiserreich als „kultureller Code", der insbesondere in den Oberschichten und den konservativen Gruppierungen verbreitet war, nicht zuletzt in der Deutschen Konservativen Partei, die entsprechende antisemitische Ausfälle in ihrem Tivoli-Programm von 1893 niedergelegt hatte. So wird man Bismarck, der dieser Strömung zugehörte, gleichwohl einen jüdischen Bankier hatte, nicht der Form des Antisemitismus zurechnen, die letzten Endes zu Hitler und zum Holocaust führte.

Die Auseinandersetzung des deutschen Idealismus mit dem Judentum trägt zwar aus der heutigen Sicht deutlich problematische Züge, wenn wir an J. G. Fichte denken, und sie ist in den deutschen Nationalismus eingegangen. Jedoch müssen wir auch auf die Bestrebungen im Zuge der Judenemanzipation, ebenso auf die Tendenzen weisen, die Juden zwingen wollten, sich der deutschen Gesellschaft und Kultur anzugleichen, nicht aber deren Auswanderung in eine noch zu bildende jüdische Kolonie verlangten, was für das 18. Jahrhundert noch gang und gäbe war.

Diesen Nationalismus kann man jedoch nicht in die Nähe dessen rücken, was Goldhagen eliminatorischen Antisemitismus nennt. Ich will das an einem Zitat von Johann Gottlieb Fichte festmachen, auf das sich einige deutsche Autoren, aber auch Goldhagen stützen. Ich zitiere: „Aber ihnen" - den Juden - „Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen nicht eine jüdische Idee sei." Diese Formulierung hat nun sicherlich nichts mit dem späteren Holocaust zu tun. Sie spricht jedoch dafür, daß eine äußere Assimilation des Judentums - wie sie von einigen Aufklärern angestrebt worden ist - gleichsam den angestrebten Weg der Angleichung verfehlt hat, wobei darüber diskutiert werden könnte, warum gerade die deutschen idealistischen Philosophen und Denker sich im Zuge der Bildung der deutschen Nation mit dem Problem der Judenemanzipation und der Integration von jüdischen Schichten in Deutschland befaßt haben.

Indessen muß klar gesagt werden: Der Weg, der zum Nationalsozialismus führte, ist nicht vom Idealismus, sondern von völkischen Antisemiten wie Richard Wagner, Houston Steward Chamberlain und Theodor Fritsch, den Freikorps und Geheimverbänden wie der Organisation Konsul in der Weimarer Republik geebnet worden. Und er führt in der Tat direkt zur NSDAP. Es handelt sich jedoch um eine Neben-, nicht um eine Hauptströmung im deutschen nationalliberalen Denken, wie uns das Buch von Goldhagen weismachen will. Insbesondere in der Zeit Bismarcks wäre der deutsche Liberalismus nicht denkbar gewesen, hätten sich führende jüdische Politiker nicht an ihn angeschlossen. Insofern muß gegen das Buch von Goldhagen eingewandt werden: Es geht nicht an, die sich ausformende deutsch-jüdische Symbiose, ungeachtet aller Spannungen, die sie aufgewiesen hat, im nachhinein wieder aus der deutschen Geschichte herausnehmen zu wollen.

Eine zweite Fragestellung, die das Buch von Goldhagen aufgeworfen hat, betrifft das Verhältnis von Antisemitismus und Judenvernichtung. Denn die radikalen oder fanatischen Antisemiten dürfen nicht automatisch mit denjenigen gleichgesetzt werden, die sich dann anschickten, einen systematischen und in ihren Augen perfekten Völkermord zu praktizieren. Anders formuliert: Die Goebbels und die Streicher waren nicht die Himmler, Heydrich und Eichmann. Unter den Vollstreckern ist ein anderer, keineswegs allein ideologisch determinierter Typ anzutreffen. Insofern muß die historische Forschung die Frage stellen, auf welche Weise Antisemitismus und Holocaust miteinander zusammenhängen.

Es muß zudem festgestellt werden, daß zwar in den ersten Jahren der Weimarer Republik völkisch-antisemitische Elemente überwogen, aber in der mittleren Phase an Gewicht verloren. Andererseits besteht kein Zweifel, daß sich der Kern der NS-Führungsgruppe aus dem deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund speiste, jener vom Alldeutschen Verband aufgezogenen Tarnorganisation, die das Ziel verfolgte, die Arbeiterschaft dem Einfluß der SPD zu entziehen, indem sie das antisemitische Programm ausspielte. Dies stand in Analogie zu Stoeckers christlich-sozialer Bewegung, die gleichermaßen den Sozialismus durch Ausspielung des Antisemitismus zu bekämpfen suchte. Der Schutz- und Trutzbund hatte in seiner besten Zeit nicht mehr als 220.000 Mitglieder. Neben ihm ist die Deutsch-Völkische Freiheitspartei, die von der Deutschnationalen Volkspartei absplitterte, zu nennen. Der Kern des aktiven Antisemitismus, mithin jene Strömung, die sich dann in der Judenverfolgung des Nationalsozialismus verdichtete, war weit entfernt davon, eine Mehrheit zu bilden.

Gewiß haben sich in der Phase der Weltwirtschaftskrise bestimmte antisemitische Strömungen auch während der Weimarer Republik verstärkt, aber sie herrschten nicht vor. Sosehr die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Bekämpfung der Gegner der Republik von rechts versagte, so wenig versagte sie bei der Bekämpfung derer, die bei der Artikulation antisemitischer Äußerungen die Grenzen von Recht und Gesetz überschritten. Daher ist es für die Zeit vor 1933 so schwierig bei extremen Antisemiten die Absicht nachzuweisen, die Juden auszurotten. Das gilt selbst für Hitler. Denn die Belege, die es dafür gibt, sind - das Buch von Goldhagen zeigt es - so schütter, daß man sie gar nicht erst zu Rate ziehen sollte.

So weit zur Wirkungsgeschichte des Antisemitismus. Er spielt eine zentrale Rolle als Integrationsmittel der sich ausformenden NSDAP. Von September 1930 bis zu den Wahlen im Juli 1932, in der entscheidenden Phase der Wahlkämpfe der NSDAP, hat die nationalsozialistische Reichswahlleitung den Antisemitismus jedoch heruntergespielt. Hitler hat sich diesen Weisungen unterworfen, wußte er doch ganz genau, daß zusätzliche Wähler nicht gewonnen werden konnten, wenn die Partei sich weiterhin extremer antisemitischer Schlagworte bediente.

Inzwischen hat auch Daniel Goldhagen in Kommentaren vorsichtig eingeräumt, daß es doch offenbar nicht der Antisemitismus selbst gewesen sei, der Hitler an die Macht geschwemmt habe, sondern der extreme deutsche Nationalismus, der nun in der Tat in der Verkörperung durch die Deutschnationale Volkspartei durchaus antisemitische Elemente enthielt. In den Jahren von 1930 bis 1932 gab es auf der bürgerlichen Rechten antisemitische Wahlagitationen, die man unwillkürlich der NSDAP zurechnen möchte. Insofern ist ein direkter Kausalnexus zwischen der Verbreitung antisemitischer Strömungen und der Durchsetzung des Nationalsozialismus nicht gegeben. Gleichwohl darf die Bedeutung des konservativen dissimilatorischen Antisemitismus nicht unterschätzt werden. Denn diese antisemitischen Grundstimmungen bei großen Teilen der deutschen Oberschicht, im deutschen Militär, in der Administration, in der Diplomatie haben dazu beigetragen, daß die Funktionseliten im Dritten Reich, die großenteils nur oberflächlich nazifiziert waren, keine Ansatzpunkte fanden, um sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung - deren Methoden sie zurückwiesen - rechtzeitig und entschieden entgegenzustellen. Wer immer Hitlers Rede an die Generalität vor dem Angriff auf die Sowjetunion liest, jene berühmte Aufforderung, einen Rassenvernichtungskrieg zu führen, kann daran keinen Zweifel haben, daß der sich mit dem Antibolschewismus verbindende konservative Antisemitismus es militärischen Führungsschichten unmöglich machte, sich dieser Kriegführung Hitlers zu widersetzen. Mit dem Kommissarbefehl, mit den Disziplinarerlassen forderte Hitler die deutschen Soldaten geradezu auf, insbesondere gegen Angehörige der jüdischen Rasse - so die Terminologie - mit Gewalt vorzugehen, in dem Bewußtsein der gegen die NSDAP im November 1918 und danach verübten Verbrechen, die im NS-Jargon mit Vorliebe den marxistischen Parteien unterstellt worden sind. Hier lag der Rubikon, der es - wie ich glaube - möglich gemacht hat, den Weg zum Holocaust einzuschlagen.

Jedoch gibt es Zwischenstufen. Sie bestehen einerseits in der zunehmenden Diskriminierung und - was wichtiger ist - sozialen Isolation der jüdischen Mitbürger, die in die Großstädte flüchteten und damit aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwanden. Es ist bemerkenswert, daß erst durch die Kennzeichnungspflicht viele deutsche Mitbürger der Tatsache gewahr wurden, daß Juden unter ihnen lebten. Diese Vorstellung war zwar vollständig verdrängt worden. Juden gab es lediglich in der Verkörperung, wie sie die Goebbels-Propaganda suggerierte, die sich an dem Klischee des Ostjuden festmachte. Infolgedessen wurde der Begriff des Juden von dem des jüdischen Mitbürgers auf den des als Untermensch bezeichneten Ostjuden transponiert. Dieser psychologische Prozeß hat zweifellos dazu beigetragen, daß der unter den Deutschen zu Anfang durchaus noch vorhandene Widerstand gegen die Judendiskriminierung und -verfolgung zunehmend zurücktrat. Im Verlauf der Boykottaktion im April 1933, aber auch später, gab es durchaus Solidaritätsakte zu Gunsten der Juden.

Schwerer fällt es schon, die Haltung der Bevölkerung anläßlich der Reichskristallnacht zu beurteilen. Aber eines tritt klar zutage: Das gewaltsame Vorgehen gegen Juden war extrem unpopulär. Erst die quasigesetzlichen Maßnahmen, die Müller und Himmler trafen, bewogen die öffentliche Meinung, einzulenken und die Abführung von 20.000 deutschen Juden in die Konzentrationslager zu tolerieren. Naturgemäß fällt es sehr schwer, Aussagen über die Einstellung der deutschen Bevölkerung im ganzen zu machen. Schätzungen zufolge, die einige der Experten schon im Verlauf der NS-Zeit angestellt haben, können wir annehmen, daß von den Mitgliedern der NSDAP, aber auch der Bevölkerung insgesamt etwa 15 bis 20 Prozent diesem extrem fanatischen, diesem „wilden" Antisemitismus - wie es damals hieß - anhingen. Es bleibt das Phänomen zu erklären, auf welche Weise es einer Minderheit von dieser Größenordnung gelang, nach und nach der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen.

Dabei spielte auch eine Rolle, daß in der konservativen Ministerialbürokratie die Vorstellung vorherrschte, der NSDAP die „Spielwiese" der Judenfeindschaft zu überlassen. Ohnehin wurde letztere für eine Kinderkrankheit gehalten, die in einigen Jahren überwunden sein werde. So dachten selbst Juden, die davon betroffen waren. Dadurch entstand eine Konstellation, in der die überschüssigen sozialen Protestenergien der NSDAP als politischer Massenorganisation in die antijüdische Richtung gelenkt worden sind. Die Judenfrage stellte das einzige Feld dar, auf dem die NSDAP nicht sogleich auf gesetzliche Verordnungen und Bremsen stieß. In diesem Zusammenhang fiel Hitler die fatale Rolle zu, jede Sanktion gegen Personen, die sich auch kriminelle Übergriffe gegen Juden zuschulden kommen ließen, zu verhindern. Folglich war das System an der Flanke zur Radikalisierung des Antisemitismus von vornherein offen. Martin Broszat, mein verstorbener Kollege, hat in diesem Zusammenhang von der negativen Selektion der Weltanschauungselemente gesprochen. In der Tat ist dann, ausgehend von diesen Konzessionen, die als Ventil gedacht waren, der gesamte Rechtsstaat Schritt für Schritt aufgerollt worden. Die Judenverfolgung und deren Radikalisierung bildeten dann das Instrument, um die staatliche Ordnung auf dem Umweg über die antijüdischen Ausnahmegesetze auszuhebeln.

Den Mechanismus hat Browning vorzüglich dargestellt. Um mit der Partei Schritt zu halten, wurden in jedem Ministerium Referate gebildet, denen nichts anderes oblag, als Verordnungen gegen die Juden zu entwerfen. Sie taten es auch noch nach 1943, als es nur noch wenige Juden in Deutschland gab. Sie handelten nach der Devise, um Reichsinnenminister Frick zu zitieren: „Die Führung in der Judenfrage behalten wir." Mehr und mehr nahm die Radikalität zu. Und all das vollzog sich vor dem Hintergrund einer weitreichenden Gewöhnung an moralische Indifferenz, die insbesondere bei den Mittelschichten anzutreffen war. Hinzu traten sicherlich nicht hinterfragte antisemitische Einstellungen. Auch im Dritten Reich entwickelte sich ein Antisemitismus ohne Juden. Die unglaubliche Verteufelung der angeblich jüdischen Kriegstreiber in London, Washington und in Moskau wäre sonst schlechthin unmöglich gewesen.

Jedoch schlug die Propaganda 1942 zurück. Indem sich Goebbels mit gespielter Empörung gegen die Sowjets wandte, nachdem die Massengräber von polnischen Offizieren bei Katyn und Winiza entdeckt worden waren, wies er die deutsche Bevölkerung im Altreich auf die gleichartige Ermordung der Juden von deutscher Seite hin. So tauchte dann dieses verdrängte Geschehen plötzlich auf; es trat aber auch wieder zurück. Die erkennbare Distanzierung der Bevölkerung löste bei Martin Bormann die Befürchtung aus, daß bereits die nächste Generation die Judenfrage nicht mehr so „lebensnah" und so klar sehen werde, und bewog ihn und Himmler, den Vernichtungsprozeß zu beschleunigen, da man später auf Widerstand von seiten der Bevölkerung stoßen könne. Der vorsichtige Versuch, in den „Vertraulichen Informationen" der Parteikanzlei individuelle Zustimmung der Bevölkerung für die beginnenden und in dieser Zeit sich schon rasch vollziehenden Holocaustmaßnahmen zu gewinnen, mußte wieder aufgegeben werden. In den geheimen Informationen vom 9. Oktober 1942 hieß es, die Parteiführer sollten die Bevölkerung vertraulich - man muß sich einmal vorstellen, wie das geschehen sollte - von „sehr scharfen Maßnahmen" unterrichten. Diese Sprachregelung wurde jedoch im Juli 1943 ausdrücklich zugunsten derjenigen zurückgenommen, daß die Juden „geschlossen zu zweckentsprechendem Arbeitseinsatz herangezogen" würden und „jede Erörterung einer künftigen Gesamtlösung" in der deutschen Öffentlichkeit und in Kreisen der Partei zu unterbleiben habe. Insoweit stellt das Mittel der Geheimhaltung einen Indikator für die Einstellung der deutschen Bevölkerung dar.

Wiewohl es eine verbreitete antisemitische Strömung gab, wurde der jetzt zur Debatte stehende „eliminatorische" Antisemitismus von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert. Himmler mußte befürchten, daß auch in engeren Kreisen der Partei die Mitschuld am Holocaust verdrängt und am Ende ihm, ebenso dem NS-Apparat, allein die Verantwortung für die Ermordung des Judentums aufgebürdet werde. Daher deckte der Reichsführer SS am 6. Oktober 1943 in einer denkwürdigen Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen die Judenvernichtung intern auf, die er an anderer Stelle als ein „nie zu schreibendes und geschriebenes Ruhmesblatt der deutschen Geschichte, das er mit ins Grab nehmen werde", bezeichnete. Er legte sie bloß, da er sonst als der Alleinschuldige erschienen wäre.

Wenn man diese Umstände berücksichtigt, wird ganz klar: Der Holocaust stellte keine von langer Hand geplante Aktion dar. Die systematische Massenvernichtung drängte sich vielmehr als Ausweg aus einer Kette von spektakulären Fehlschlägen letzten Endes auf. Selbst Himmler hatte noch im Mai 1940 in seiner Denkschrift über die „Behandlung der Fremdvölkischen im Osten" eine Ausrottung förmlich ausgeschlossen. Was Hitlers persönliche Vorstellungen angeht, können wir auf unendlich viele ideologische Tiraden verweisen. Was die praktische Umsetzung der Vernichtungsmetapher angeht, sind wir jedoch weitgehend auf Vermutungen angewiesen, obwohl er immer zu Schärfe geraten und die Radikalisierung angetrieben hat.

Die jüngere Forschung hat tiefe Schneisen in das Dickicht des nationalsozialistischen Entscheidungsprozesses geschlagen. Sie hat klar gemacht, daß der Weg zur Endlösung auf eine Interaktion zwischen den lokalen Apparaten der SS und dem Reichssicherheitshauptamt, aber auch zwischen dem Generalgouvernement und dem Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums - das war die wichtige Position Himmlers in der Ansiedlungsfrage der Volksdeutschen - zurückging. Während die Forschung noch vor wenigen Jahren die Frage diskutierte, wann der Übergang zum systematischen Holocaust des europäischen Judentums anzusetzen sei, setzt sich jetzt die Vorstellung durch, daß die Verfolgung der Juden seit August/September 1941 schrittweise in die systematische Massenvernichtung überging. Der definitive Schritt zu unbegrenzter Vernichtung fällt erst in die Monate nach der Wannseekonferenz. Auf sie ist entgegen einer lange verbreiteten Meinung die Entscheidung für den Holocaust ebensowenig zurückzuführen wie auf den Auftrag, eine Endlösung der europäischen Judenfrage vorzubereiten, den Göring Heydrich am 31. Juli 1941 erteilte. Eichmann hat diese Anweisung selber aufgesetzt, und Göring hat sie einfach unterschrieben, ohne seinen Kopfbogen zu verwenden.

Andererseits hat Christopher Browning, der nach Raul Hilberg zweifellos führende Holocaustforscher, deutlich gemacht, daß seit August 1941 an die Seite der Einsatzgruppen, die in der besetzten Sowjetunion eingesetzt waren, zwei SS-Brigaden und 21 Polizeibataillone traten, so daß 1942 200.000 Mann verfügbar waren, die nichts anderes zu tun hatten, als die rassische „Flurbereinigung" durchzuführen. 1943 erhöhte sich diese Vernichtungsarmee sogar noch auf 300.000 Mann.

Von diesen Größenordnungen müssen wir ausgehen, auch wenn nicht alle von ihnen an den Exekutionen teilgenommen haben. Das werden vielmehr vergleichsweise kleine Gruppen gewesen sein. Noch 1942 schwankte man zwischen dem Gedanken einer Reservatslösung und einer völligen Vernichtung. Noch Wochen nach der Wannseekonferenz sprach Heydrich in Prag gegenüber seinen Mitarbeitern im Reichsprotektorat davon, daß der Teil der tschechischen Nation, der nicht „eingedeutscht" sei, als Aufseher für die Verwaltung der elf Millionen Juden in dem für die Gestapo einzurichtenden Reichskommissariat Eismeer eingesetzt werde. Diese Äußerung stimmt weder mit seiner Rede auf der Wannseekonferenz noch mit deren Interpretation völlig überein. Erstens gab es eine Interaktion zwischen den Dienststellen des Reichskommissars für Festigung des deutschen Volkstums vor Ort, dem Reichssicherheitshauptamt und Adolf Eichmann. Zweitens wird deutlich, und das ist unter dem Gesichtspunkt der deutschen Nationalgeschichte bestürzend, daß Vollstrecker wie Eichmann und Globocnik, aber auch viele andere, bis zu 80 Prozent ihrer Arbeitszeit damit beschäftigt waren, Himmlers riesiges Ansiedlungsprojekt, das unter dem Namen „Generalplan Ost" bekannt geworden ist, durchzuführen. Es begann mit der Notwendigkeit, die Volksdeutschen aus den baltischen Gebieten, aus Wolhynien und Bessarabien anzusiedeln. Diese Umsiedlung hatte man Stalin im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt leichtfertig zugestanden. In dem Maße, in dem Polen aus dem Warthegau ausgesiedelt wurden und den deutschen Siedlern Platz zu machen hatten, lag es nahe, die Juden im Generalgouvernement in Ghettos zu schicken, um deren Wohnungen für die anzusiedelnde polnische Bevölkerung zu verwenden. Hierauf hat der Berliner Historiker Götz Aly mit Nachdruck hingewiesen. Da die Seeleute aus Riga und andernorts kaum in den agrarischen Warthegau geschickt werden konnten, fuhren die Züge mit den Seeleuten nach Stettin. Mit Juden angefüllt, kehrten sie in die Vernichtungslager nach Osten zurück.

Es liegt auf der Hand, daß die Germanisierungspolitik im osteuropäischen Raum und der Holocaust eng miteinander zusammenhingen. Als den Planern der Umsiedlung und deren Vollstreckern ihr eigentliches Programm, deutsch besiedelte Zonen bis hin zur Krim zu schaffen, unter den Händen zerronn, als die Volksdeutschen in den Lagern rebellierten und nicht versorgt werden konnten, vernichteten sie kompensatorisch die noch überlebenden Teile der jüdischen Bevölkerung.

In der gegenwärtigen Diskussion steht die Frage im Vordergrund, welche Rolle die antisemitische Motivation bei den Vollstreckern spielte. Die zentrale These von Daniel Goldhagen mißt ihr entscheidende und ausschließliche Bedeutung zu. Viele prominente Vollstrecker des Holocausts waren jedoch ursprünglich keine spezifischen Antisemiten. Theodor Dannecker, Eichmanns enger Gehilfe, auf dessen Konto der Tod von annähernd 900.000 Menschen geht, nahm den Antisemitismus erst im Verlauf seiner SS-Karriere auf, und ähnlich gilt das für viele Renegaten, die in den nationalsozialistischen Organisationen sozial aufgestiegen sind und sich in ihnen auf besondere Weise bewähren mußten.

Neben der ideologischen wirkte daher eine durchaus soziale und bürokratische Dynamik, die vor allem dann herausgestellt werden muß, wenn man der Frage nachspürt, wie es zur massenhaften Anwendung von Gewalt, Sadismus und Massenmord hat kommen können. Gegen die Interpretation Goldhagens, infolgederen die Deutschen ein Volk gewesen wären, das lustvoll an das Morden gegangen sei, müssen jedoch grundlegende Einwände erhoben werden. Zunächst einmal hat Goldhagen nicht voll realisiert, daß der Hamburger Oberstaatsanwalt in den Verhören und in der Befragung von betroffenen Zeugen in erster Linie auf heimtückische Motive abstellte, als er die Morde an Juden verfolgte. Das hat damit zu tun, daß bloße Tötungshandlungen bereits verjährt waren. Goldhagens Darstellung, die zwei Aktivitäten der „Aktion Reinhard", der Vernichtung des Judentums in Ostgalizien und im Generalgouvernement, gilt, gibt die entsprechende Anklageschrift des Staatsanwalts wieder, ohne den Tenor der Urteile heranzuziehen. Manche dieser Zuspitzungen, auch sadistischer und anderer verbrecherischer Gewalthandlungen, entsprangen dem Beweistenor, stellen jedoch keine flächendeckende, damit typische Erscheinung dar.

Mein Kollege Wolfgang Scheffler, der lange in diesem Bereich - insbesondere als Gutachter vor den Gerichten - gearbeitet hat, ist empört, daß diese sadistischen Akte überhaupt so stark in den Vordergrund gespielt werden. Wenn rechtlose Situationen dieser Art erst einmal entstanden sind, sind die Sadisten nicht weit. Sie leben in jeder Gesellschaft, sicher auch in der deutschen. Nicht deren Existenz ist typisch, sondern die kalte Perfektion, mit der die Ermordung von Menschen, die gar nicht mehr als Individuen wahrgenommen wurden, geplant und vollzogen wurde. Der Sadist hat Emotionen. Es ist jedoch das kalte Morden der „Eichmänner" gewesen, das den Holocaust in diesem Umfang möglich gemacht hat. Die osteuropäischen Judenräte unterlagen dem Irrtum, die nationalsozialistische Verfolgung werde wie gewöhnlich den Weg emotionaler Spontaneität nehmen und eine unterwürfige Reaktion werde sie wieder zum Stillstand bringen. Es läßt sich jedoch zeigen, daß das bürokratische Element ebenso wie das Streben nach Effizienz und Perfektion auf die Bühne gelangten. Infolgedessen trat eine Judenvernichtung in unerhörter Art ein, die dem wahnsinnigen Gesichtspunkt folgte, es sei schließlich moralisch geboten, die hungernden und gequälten Menschen einfach umzubringen. So schrieb der SS-Sturmbannführer Höppner, einer der Mitarbeiter des Reichskommissars für Festigung deutschen Volkstums in Posen, an Eichmann über das Ghetto Lodz und fragte an, ob man im kommenden Winter Tausende verhungern oder an Epidemien zugrunde gehen lassen wolle oder ob es nicht „humaner" sei, sie durch irgendein schnell wirkendes Mittel - also Giftgas - zu töten. Diese pseudomoralische Rechtfertigung vor dem Hintergrund einer bürokratischen Aktion stellt den eigentlichen Grund dafür dar, warum eine solche Aktion ohne breiteren Widerstand der handelnden Gruppen durchgeführt werden konnte.

Damit rückt natürlich die Frage nach der deutschen politischen Kultur in den Vordergrund. Einerseits war es sicherlich der Fanatismus von radikalen Gruppen, der uns in den Vernichtungslagern entgegentritt. Viele unter ihnen wird wohl in stärkerem Maße das Bestreben angetrieben haben, auf diesem Wege die UK-Stellung zu sichern, als die Lust, gegen täglich oder wöchentlich angekarrte Juden vorzugehen.

Der bürokratische Faktor, den Hannah Arendt seinerzeit mit dem berühmten Begriff der „Banalität des Bösen" umschrieben hat, scheint mir von zentraler Bedeutung. Die Täter handelten in einer Struktur, die sie in den Stand setzte, ihr Schuldbewußtsein zu verdrängen. Gleichwohl stellen alle Untersuchungen heraus, daß die Täter bis hin zum Reichsinnenminister Frick Bedenken hatten und auswichen, wenn sie mit den Verbrechen konfrontiert wurden. Auch bei Adolf Hitler ließe sich eine solche Haltung nachweisen. Somit bleibt das Menetekel der Deutschen, daß sie eine Konstellation entstehen ließen, in der es dann in der Tat schwer möglich war, dem Verbrechen wirksam entgegenzutreten.

Viele derjenigen, die die Debatte über das Buch von Goldhagen verfolgen, fragen mich: „Was sollten wir, die einer Arbeiterfamilie angehörten, die ohnehin unter Bewachung stand, denn in dieser Sache unternehmen?" Deshalb zielt die Kritik, die ich als Zeithistoriker übe, nicht auf den kleinen Mann auf der Straße, sondern auf die Haltung der deutschen Funktionseliten. Damit gewinnt der Faktor des konservativen Antisemitismus, der diese Eliten daran hinderte, rechtzeitig Einhalt zu gebieten, an Gewicht. Das Ganze muß allerdings im Zusammenhang mit der kumulativen Radikalisierung innerhalb des Regimes, einer schrittweisen Verschärfung der Judenpolitik, gesehen werden, die der Tatsache entsprang, daß miteinander rivalisierende Apparate nur in diese eine Richtung drängen konnten. Sicher spielte Hitler in dieser Hinsicht als Motor eine unentbehrliche Rolle.

Wir müssen daher weniger auf die antisemitische Indoktrination hinweisen als auf die Gewöhnung an moralische Indifferenz, die vorzugsweise in Deutschland zu beobachten ist. Meiner Ansicht nach trifft das insbesondere auf die deutschen Oberschichten, auf die funktionalen Eliten, nach 1918 zu, was einesteils auf die Niederlage und den Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches, anderenteils auf den drohenden sozialen Abstieg infolge der gesellschaftlichen Umschichtung, die gern mit dem Begriff des Aufstiegs des neuen Mittelstandes umschrieben wird, zurückzuführen ist. Darüber hinaus versagten wichtige gesellschaftliche Institutionen und Verbände, nicht zuletzt die beiden Kirchen. Von seiten der Kirchen geschah zu wenig, nicht hingegen von seiten einzelner kirchlicher Würdenträger. Die Seligsprechung von Domprobst Lichtenberg mag als Geste der katholischen Kirche gedeutet werden, sich von der Verstrickung in eine Politik - die nicht eingestanden wird - zu lösen, die mit innerer Folgerichtigkeit - wie wir heute wissen - zum Holocaust führen mußte.

Häufig ist in der Diskussion darauf verwiesen worden, man habe von den Morden nichts gewußt. Das ist sicher richtig. Selbst hohe Würdenträger des Dritten Reiches waren über die systematische Massenvernichtung, die wir heute Holocaust nennen, nicht informiert. Entweder verdrängten sie den Holocaust, oder sie waren über ihn unzureichend informiert. Im wesentlichen hatten sie verbrecherische Einzelaktionen im Auge. Das trifft sogar auf den Staatssekretär der Reichskanzlei zu, der an der Wannseekonferenz teilgenommen hat. Natürlich kann man einwenden, daß dieser verdiente preußische Finanzbeamte, der der Bekennenden Kirche zugehörte, der Juden geholfen hat, ungeheurer blauäugig gewesen sei. Jedoch läßt sich nachweisen, daß er von 1939 an den Versuch unternahm, sich über diese Sache genaue Kenntnis zu verschaffen, und daran ständig - auch durch Drohungen Himmlers - gehindert wurde. Erst nach der Wannseekonferenz, die er selber nicht für sehr bedeutend hielt, sagte er seinem Kollegen Schily, der eine Halbjüdin zur Frau hatte und noch in der Reichskanzlei gehalten wurde, die Sache sei ausgegangen wie das „Hornberger Schießen". Er rechne damit, daß es gelinge, die Judenfrage bis nach Kriegsende aufzuschieben.

Als er später versuchte, die Konsequenzen zu ziehen, und Lammers, dem Reichsminister und Staatssekretär der Reichskanzlei, seinen Rücktritt anbot, entgegnete ihm dieser: „Aber, Kritzinger, es ist doch viel schlimmer, wenn Sie jetzt gehen, jetzt bleiben Sie." So suchte der preußische Staatssekretär Kritzinger noch im April 1945 im brennenden Berlin verzweifelt eine Anweisung zur Auslagerung der Aktenbestände und der Dienststellen der Reichskanzlei nach Süddeutschland.

Wenn Sie bestimmten Kreisen angehörten, war es nicht unbedingt möglich, glaubhafte Informationen über dieses Geschehen zu erhalten, wenn Sie nicht frühzeitig erkannt hatten, was da vor sich ging. Wenn Sie Kommunist oder Sozialdemokrat waren, fiel das vermutlich leichter. Ein Mann wie Bertold Beitz kam nach Kiew und sah sofort, was dort geschah. Er brauchte keine weitere Belehrung mehr. Aber der Mehrheit der Bevölkerung kann das nicht unterstellt werden. Auch wenn es große Teile der Bevölkerung, dessen bin ich mir sicher, gewußt hätten, hätten die Mentalität des „Dienstes im Gliede", die Terrorisierung, zum Teil die sekundäre Ideologisierung bewirkt, daß der Holocaust im wesentlichen so, wie er vollzogen worden ist, Wirklichkeit geworden wäre.

Die Selbstkritik der Nation kann keineswegs mit der Frage aufhören, ob sie vom Holocaust wußte oder nicht. Vielmehr muß analysiert werden, welche mentalen, politischen und institutionellen Strukturen dazu geführt haben, daß diese Verfolgung Schritt für Schritt eskalieren konnte, an deren Ende es auch aus der Sicht der Vollstrecker gar keinen anderen Ausweg mehr gab, als diese jüdischen Menschen, für die niemand mehr sorgen konnte, für die es keine Verpflegung gab, für die niemand eintrat, die man nirgendwo hinbringen konnte, schließlich zu vernichten und darüber hinaus das Bewußtsein zu entwickeln, das sei humaner gewesen, als sie in die Pripjetsümpfe zu treiben.

Das moralische Problem bleibt bestehen. Ich lege Wert darauf, auch den Holocaust als einen politischen Prozeß zu interpretieren. Wir müssen erklären, warum die einzelnen, die diese Aktion aus eigenem Antrieb niemals unternommen hätten, dazu gekommen sind, wie die vielzitierten Männer des Hamburger Polizeibataillons, die überwiegend ältere Familienväter waren, zu handeln. So gesehen, stellt die Geschichte des Holocausts eben gerade keine Black Box, sondern eine Herausforderung der Nachlebenden dar. Meine jüngeren Kollegen, zum Beispiel Jörg Sandkühler, dessen Arbeit über Ostgalizien, Bertold Beitz und die Ölindustrie bald erscheint, oder Dieter Pohl, der eine grundlegende Untersuchung über die „Aktion Reinhard" verfaßt hat, Götz Aly, dessen Buch über den Zusammenhang zwischen Holocaust und Ostsiedlung unentbehrlich ist, sowie andere bewundere ich, weil sie imstande sind, mit diesen Dingen so nüchtern, so kalt umzugehen. Ich gestehe, für meine Generation fand ich das unerträglich. Gleichwohl ist es notwendig, sich von einer voyeurhaften Beschäftigung mit dem Verbrechen und der Gewalt, von einer sehr merkwürdigen Form des Ästhetizismus freizuhalten, wenn wir über den Holocaust reden. Die Beschwörung der Gewalt führt nicht zur Aufarbeitung, nicht zu politischer Einsicht und nicht zu wirklichen Erklärungen. Sie führt vielmehr dazu, jene bloße Betroffenheit der fünfziger und sechziger Jahre - die immer wieder aufscheint - wiederzubeleben. Eine mentale und ideologische Aufarbeitung hatte sie jedoch nicht zur Folge. In der Debatte trete ich entschieden dafür ein, den Holocaust als einen politischen Prozeß aufzufassen. Ich lege Wert darauf, die moralischen Implikationen deutlich zu machen, sie indes nicht isoliert zu behandeln, wie es in der Debatte über das Buch von Goldhagen geschieht.


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