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[GESPRAECHSKREIS]
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Vorbemerkungen des Herausgebers

Am 4. September 1996 veranstaltete die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrem „Gesprächskreis Geschichte" gemeinsam mit der Arbeitsmeinschaft Bonn der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ein Kolloquium, das die Reihe der öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem kurz zuvor in deutscher Sprache erschienenen Buch des Harvard-Dozenten Daniel Jonah Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" einläutete. Diese Veranstaltung, an der der israelische Botschafter Avi Primor und der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis sowie eine Gruppe ehemals verfolgter, aus Bonn stammender Frauen und Männer teilnahmen, wurde von über 600 Personen besucht. Diese rege Teilnahme - wie auch die gesamte Goldhagen-Debatte - ist als Zeichen zu werten, daß in Deutschland nicht nur ein hohes Maß an Wissen über den Holocaust vorhanden ist, sondern darüber hinaus auch die innere Bereitschaft besteht, sich mit den Schrecken jener Zeit persönlich auseinanderzusetzen.

Das Buch von Goldhagen, das wenige Monate vor der deutschen Übersetzung im Frühjahr 1996 in den USA erschienen ist, konstatiert nicht nur, daß ganz gewöhnliche Männer und Frauen, ganz gewöhnliche Deutsche, den Völkermord an den europäischen Juden begangen haben. Es führt auch zu der Frage: Sind die Deutschen insgesamt ein Volk von Tätern? Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfällt: Das Buch trifft ins Mark; denn es stellt der in den letzten Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft immer stärker werdenden Strukturanalyse die subjektive Seite der persönlichen Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen gegenüber. Und es ist als ein Signal zu werten, daß jeder Versuch, insbesondere von seiten der Deutschen, einen Schlußstrich unter den Holocaust zu setzen, verfehlt ist.

Im ersten Teil der Veranstaltung wurde erörtert, welchen Stellenwert dieses Buch im Angesicht der bisherigen Forschungen besitzt. Professor Hans Mommsen aus Bochum, einer der bedeutendsten Kenner des Nationalsozialismus, trug ein umfassendes Referat mit dem Titel „Die Deutschen und der Holocaust" vor. Er rechnet unter die wenigen Historiker, die Daniel Goldhagen - ungeachtet aller Kritik an Mommsen - von dem generellen Vorwurf ausnimmt, die Historiker hätten die Geschichte der Täter bislang ausgeblendet. Die an den Vortrag anschließende Diskussion wurde von Michael Schneider moderiert, der im Rahmen des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung gerade eine zweibändige Synthese über Arbeiter und Arbeiterbewegung in der NS-Zeit vorbereitet.

Im zweiten Teil der Veranstaltung wurde dann über die Voraussetzungen, die Gründe und die möglichen Auswirkungen der breiten Diskussion des Buches von Goldhagen vor allem in Amerika und in Deutschland debattiert. Es ging dabei nicht nur um die Diskussion des Buches, sondern auch und vor allem um die Bedingungen der Rezeption und die Auswirkungen. Unter der Moderation von Freimut Duve, Lektor, Publizist und Abgeordneter des Deutschen Bundestages seit 1980, diskutierten auf dem Podium Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Jane Caplan, Geschichtsprofessorin in London und Philadelphia, die zahlreiche historische Studien über die NS-Zeit verfaßt hat und insbesondere auf die Reaktion in Amerika auf Goldhagen einging, Frank Schirrmacher, der Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der sich in seinem Blatt sehr kritisch mit dem Werk Goldhagens auseinandergesetzt hatte, gleichermaßen Raul Teitelbaum, der Korrespondent von „Jedioth Achronoth", in deren Verlag die israelische Ausgabe von Goldhagens Buch erscheinen soll, und der die israelische Sicht auf die Problematik herausstellte, außerdem wiederum Hans Mommsen.

Diese Podiumsdiskussion galt vor allem der Resonanz und den politischen Implikationen des Buches von Goldhagen. Sie zielte nicht nur auf das Selbstverständnis von Deutschen, von deutschen, amerikanischen und israelischen Juden, sondern auch auf das geschichtliche und gegenwärtige Verhältnis von Deutschen und Juden zueinander und deren Einfluß auf die politische Kultur in ihren Ländern.

Nun liegt die Frage nahe, warum Daniel Goldhagen nicht auf dem Podium mitdiskutierte. Über diese Frage war im Vorfeld der Veranstaltung oft gesprochen worden. Auf Daniel Goldhagens Teilnahme war aber verzichtet worden, weil es bei dieser Veranstaltung nicht um die Person des Autors und die Motive, die ihn leiteten, als er dieses Buch schrieb, ebensowenig um seine nachträgliche Interpretation des Werkes gehen sollte, sondern vielmehr um die Wirkung eines Buches, das jeder lesen und über das sich jeder eine eigene Meinung bilden kann. Ist ein Werk erst einmal veröffentlicht, gehört es im eigentlichen Sinne nicht mehr dem Autor. Es gehört dann der Öffentlichkeit, und es gewinnt eine gewisse Eigenständigkeit, sobald es rezipiert wird. Für die Gäste der Veranstaltung, die das Buch noch nicht oder nur zum Teil gelesen hatten, war auf einem Tisch, als erster Einstieg, Goldhagens sehr umfangreiche Abrechnung mit seinen Kritikern in „Die Zeit" ausgelegt worden.

Das Buch von Goldhagen besteht eigentlich aus zwei Teilen. In drei wirklich aufwühlenden, erschütternden Fallstudien bereitet er das mörderische Wirken der Polizeibataillone, die Vernichtung durch Arbeit und die Todesmärsche bis ins schreckliche Detail immer wieder aus. Soweit ich es übersehe, haben diese Fallstudien relativ wenig Kritik hervorgerufen. Es sind vor allem die generalisierenden Kapitel dieses Buches, die scharfe, zum Teil hochemotionale, politische und wissenschaftliche Diskussionen ausgelöst haben. Sie stellen den Antisemitismus der Deutschen als den wesentlichen Faktor für den Holocaust heraus und geben somit eine dem breiten Publikum zwar sehr eingängige, jedoch eindimensionale Erklärung für den Holocaust. Wohl wird das komplizierte Geflecht der bedingenden und einwirkenden Faktoren knapp angesprochen. Jedes Argument für und wider wird in diesem Buch entweder in einer Anmerkung oder in einem halben Satz zumindest angeführt. Die Argumente, die der Hauptthese entgegengehalten werden können, werden jedoch alles in allem sehr vernachlässigt.

Der Völkermord an den Juden - so lautet verkürzt Goldhagens These - ist nicht nur von den Deutschen begangen worden; er konnte auch nur von den Deutschen begangen werden. Die Täter, also diejenigen, die den Holocaust durchführten, waren nicht nur Hitler und relativ überschaubare Gruppen von KZ-Schergen, die man als die wenigen „bösen" Nationalsozialisten den vielen „normalen" Deutschen gegenüberstellen könnte. Täter waren vielmehr alle, die wissentlich, wenn auch nur als Lokomotivführer, Verwaltungsbeamte oder kirchliche Mitarbeiter, in irgendeiner Weise zum Massenmord beigetragen haben. Die Zahlen, die Goldhagen nennt, schwanken zwischen 100.000 und einer Million, was die quantitative Dimension verdeutlicht.

Nach Goldhagen bildete die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes die Voraussetzung dafür, daß der Mordplan eines verbrecherischen Regimes gelingen konnte. Ihm zufolge rührte diese Zustimmung von kulturellen Strukturen her, die sich bei den Deutschen vom Mittelalter an, vor allem aber in immer schärferer Form seit dem 19. Jahrhundert mit einem gewissen - auch wenn Goldhagen das in seiner Kritik dezidiert zurückweist - immanenten Determinismus herausgebildet haben und geradezu als nationales deutsches Projekt einen - wie er es nennt - „eliminatorischen Antisemitismus" hervorgebracht haben. Seit Jahrhunderten wurden die Juden von den Deutschen diskriminiert, da sie zunächst als Gottes Mörder, später als eine allumfassende Gefahr und schließlich als Untermenschen, die alle Übel dieser Welt verursachten, angesehen wurden. Die Juden wurden aus der Gesellschaft ausgegrenzt, sie wurden entrechtet, ausgeschaltet, verfolgt, in Ghettos isoliert und vertrieben. Schließlich wurden sie, was Goldhagen als die letzte Stufe eines konsequenten Steigerungsprozesses darstellt, unter dem Einfluß des NS-Regimes als Konsequenz des „eliminatorischen Antisemitismus" ausgerottet. „Eliminatorischer Antisemitismus" gerät dabei zu einem schillernden Begriff, der von Goldhagen an verschiedenen Stellen recht unterschiedlich verwendet wird.

Diese Ausrottung der Juden vollzogen die Täter, und darauf insistiert Goldhagen immer wieder, nicht etwa infolge äußeren oder inneren Druckes, was auf die eine oder andere Weise erklärt oder vielleicht auch entschuldigt werden könnte, sondern ganz im Gegenteil bereitwillig und mit Begeisterung. Jemanden, der sich um die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung bemüht, irritiert und stimmt traurig, wie sehr Goldhagen in seinem Buch die Schicksale und die Opfer des „anderen Deutschlands" ausblendet, die schließlich auch zur deutschen Geschichte gehören.

Eines sollten wir beachten, wie auch immer die Debatte um das Buch verlaufen wird: Fachwissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen mit den Thesen Goldhagens dürfen weder direkt noch indirekt apologetischen Tendenzen Vorschub leisten. Wichtige Fragen, denen wir weiter nachgehen müssen, hat er allemal aufgeworfen. Manche neuen Sichtweisen und Zusammenhänge hat er, wenn auch in überspitzter Form, herausgearbeitet und über den Kreis der Spezialisten hinaus in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gehoben. Die von Goldhagen so stark betonte mentale und kulturelle Dimension, die Motivation der Täter müssen stärker Beachtung finden. Vielleicht haben wir in den letzten Jahren doch zu sehr nach den strukturellen Voraussetzungen des Holocaust gefragt und dabei Motivationen und Intentionen vernachlässigt. Wir sollten fest im Auge behalten, daß die von Goldhagen unterstrichenen bzw. aufgeworfenen Fragen angemessen beantwortet werden müssen, daß der Holocaust auf mittlere Sicht auch nach dem Tode der Generation der Opfer von künftigen Generationen erinnert werden muß, um Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhaß für immer auszuschließen.

Auf vielfachen Wunsch werden hiermit das bei dem Kolloquium gehaltene Referat Hans Mommsens sowie die Podiumsdiskussion in überarbeiteter Form abgedruckt und damit einer breiteren Öffentlichkeit verfügbar gemacht. Für ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung der Veranstaltung bin ich Magdalene Krumpholz und Susanne Miller von der Arbeitsgemeinschaft Bonn der Deutsch-Israelischen Gesellschaft zu Dank verpflichtet, ebenso meinem Kollegen Michael Schneider. Bernd Jeschonnek (Berlin) hat aus dem Tonmitschnitt eine erste Druckfassung erarbeitet, wofür ich ihm danke.

Es bleibt zu hoffen, daß die vorliegende Broschüre dazu beiträgt, die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Bonn, im Dezember 1996 Dr. Dieter Dowe

Leiter des

Historischen Forschungszentrums


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