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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 10]
2. Beschäftigungssicherung und Arbeitszeitpolitik
Die "Wiederentdeckung" der Arbeitszeitpolitik wurde durch die scharfe Rezession 1993 ausgelöst. Die ökonomische Krise war nicht auf eine bloße konjunkturelle Schwäche zurückzuführen, sondern auch durch tiefgreifende Strukturprobleme bedingt. Der wirtschaftliche Einbruch führte zu einem drastischen Personalabbau in zahlreichen Industriebranchen und zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit bis zu einem Höchststand von über 4 Millionen gemeldeten Arbeitslosen. Vor diesem Hintergrund wurde wieder verstärkt auf Arbeitszeitverkürzungen als ein Instrument zur Sicherung von Beschäftigung gesetzt. Obgleich eigentlich keine Arbeitszeitregelungen auf der tariflichen Agenda standen, kam es 1993/94 in einer Reihe von westdeutschen Tarifbereichen zu Vereinbarungen über neue Arbeitszeitmaßnahmen mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Ein Anfang wurde im Steinkohlenbergbau gemacht, als man sich im Frühjahr 1993 auf zusätzliche Freischichten zur Sicherung von Arbeitsplätzen anstelle von Lohnerhöhungen einigte. Der gesamte Verteilungsspielraum wurde damit für Arbeitszeitverkürzungen ausgeschöpft. Im Verlauf des Jahres verschärfte sich jedoch die Beschäftigungssituation und Entlassungen in erheblichem Umfang drohten. Weitere deutliche Arbeitszeitverkürzungen wurden diskutiert, und Ende 1993 wurde eine Vereinbarung über 30 zusätzliche Freischichten für 1994 und 1995 getroffen. Zur Finanzierung dieser Freischichten wurde eine bereits vereinbarte Einkommenserhöhung in 8 zusätzliche Freischichten umgewandelt. Die weiteren 22 Freischichten wurden durch eine Kürzung der Einkommen 1994/95 um 6% erreicht. Um die Monatseinkommen nicht zu stark zu kürzen, werden Teile der einmaligen Jahreszahlung umgelegt. Ein gestaffelter sozialer Ausgleich ist nur für die unteren Einkommensgruppen vorgesehen. Durch diese Arbeitszeitregelung, d.h. deutliche Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich, konnten alle Auszubildenden übernommen werden. Die Zahl der vermiedenen Entlassungen wird mit 10.000 beziffert. [Seite der Druck-Ausgabe: S. 11] Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erreichte die sogenannte "4-Tage-Woche" bei der Volkswagen AG. Auch bei Volkswagen führte nicht nur die konjunkturell bedingte Schrumpfung des Automobilmarktes in die Krise. Hinzu kommen strukturelle Anpassungsprobleme mit einem erheblichen Handlungsdruck in Richtung Produktivitätssteigerung und Kostensenkung. Im Krisenjahr 1993 wurden z. B. im Werk Kassel rund hundert Kurzarbeitstage gefahren. Für das gesamte Unternehmen wurde ein Überhang von 30 Tsd. Arbeitsplätzen prognostiziert. Volkswagen hat bereits seit 1986 einen Personalabbau eingeleitet, der überwiegend mit Vorruhestandsregelungen bewerkstelligt wurde. Das Potential an über 56jährigen Arbeitnehmern im Unternehmen ist mittlerweile zu gering, als daß dieses Instrument noch genügend Arbeitsvolumen erbracht hätte, um den Überhang aufzufangen. Gleiches gilt für die Ausnutzung der Fluktuation und Aufhebungsverträge. Als Alternative zu sonst nötigen Massenentlassungen setzte das Unternehmen auf eine drastische Arbeitszeitverkürzung auf 28,8 Wochenstunden ohne Entgeltausgleich. Für IG Metall und Betriebsrat hatten Beschäftigungssicherheit und Arbeitsplatzerhalt die absolute Priorität, so daß im Grundsatz von vornherein Übereinstimmung herrschte. In den durchaus schwierigen Verhandlungen ging es um die konkrete Ausgestaltung und die materielle Ausstattung. Die umfangreiche und im einzelnen komplizierte Tarifvereinbarung enthielt in ihrem Kern:
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 12] Mit dieser Arbeitszeitverkürzung konnten 20 Tsd. Arbeitsplätze gesichert werden. Weitere Bestandteile des Tarifvertrages zur Sicherung der Standorte und Beschäftigung waren einmal das Stafettenmodell, bei dem Absolventen einer Berufsausbildung zunächst ein Beschäftigungsverhältnis mit 20 Wochenstunden angeboten wird. Nach zwei Jahren steigt die Arbeitszeit auf 24 Stunden und nach 42 Monaten auf das Vollzeitniveau. Im Gegenzug sollten ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben rausgleiten. Umgesetzt wurde bislang lediglich der erste Teil dieser Vereinbarung, während über den gleitenden Ruhestand noch diskutiert und verhandelt wird. Zum anderen wurde die Möglichkeit zu Blockkurzarbeitszeiten zur Qualifizierung tariflich verankert. Das Modell sieht vor, daß drei Monate im Jahr für die berufliche Qualifizierung genutzt werden können. Die Verhandlungen über die betriebliche Umsetzung des Tarifwerkes gestalteten sich sehr schwierig und zogen sich bis in den April 1994 hin. Die Arbeitszeitbilanz von Volkswagen für das Jahr 1994 weist eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 30,76 Stunden aus, wobei der Schnitt im zweiten Halbjahr mit 32,2 Stunden etwas höher lag. Vier der Standorte liegen knapp unter 30 Stunden, nur zwei liegen insgesamt über 32 Stunden. Diese Bilanz führte dazu, daß der Betriebsrat 1995 die Diskussion mit der Belegschaft mit dem Ziel führte, den Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung im Rahmen der anstehenden Tarifverhandlungen zunächst für 5 Jahre fortzuschreiben. In diesen Verhandlungen wurde eine Verlängerung der Beschäftigungssicherung vereinbart, die frühestens nach zwei Jahren kündbar ist, d. h. das Unternehmen verzichtet bis Ende 1997 auf betriebsbedingte Kündigungen. In seinen arbeitszeitbezogenen Teilen legt der Vertrag fest, daß im Jahresdurchschnitt 28,8 Wochenstunden nicht überschritten werden sollen. Die Arbeitszeit ist auf höchstens acht Stunden täglich begrenzt und kann von Montag bis Freitag unregelmäßig verteilt werden. Die zuschlagfreie wöchentliche Arbeitszeit kann bis zu 38,8 Stunden betragen. Durch Betriebsvereinbarung können jährlich bis zu 12 Samstage in die Arbeitszeit einbezogen werden. Die Zuschläge für Samstags- und Mehrarbeit sinken von 50 auf 30%. Durch eine neue Pausenregelung erhöht [Seite der Druck-Ausgabe: S. 13] sich die effektive Arbeitszeit. Eine Umstellung des Betriebsrentensystems soll ein Ausgleiten aus dem Erwerbsleben erleichtern. Die Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung in der Metall- und Elektroindustrie eröffnet den Betriebsparteien die Option, durch freiwillige Betriebsvereinbarung die Wochenarbeitszeit auf bis zu 30 Stunden zu verkürzen. Hierbei sind zwei Varianten möglich: Wird die Arbeitszeit für alle Beschäftigten (ohne Auszubildende) abgesenkt, sind betriebsbedingte Kündigungen für die Dauer der Vereinbarung ausgeschlossen. Das Entgelt vermindert sich entsprechend der Arbeitszeitverkürzung. Wird die Betriebsvereinbarung nur für Betriebsteile oder einzelne Arbeitnehmergruppen abgeschlossen, erhalten die Arbeitnehmer einen nach dem Umfang der Arbeitszeitverkürzung gestaffelten Lohnausgleich (von 1% bei 35 bis 7% bei 30 Wochenstunden). In diesem Fall besteht keine rechtliche Verpflichtung zum Kündigungsschutz. Um die Monatseinkommen zu garantieren, können die Jahressonderzahlung bzw. das zusätzliche Urlaubsgeld umgelegt werden. Der Ausgleichszeitraum für die ungleichmäßige Verteilung der Arbeitszeit wird von 6 auf 12 Monate verlängert. Der Tarifvertrag läuft zum Jahresende 1995 aus und hat keine Nachwirkung. Die Tarifparteien haben vereinbart, vor Ende der Laufzeit Gespräche über die Weiterführung der Vereinbarung aufzunehmen. Zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses sind die regional abgeschlossenen, jedoch bundesheitlichen Tarifverträge in einer Reihe von Tarifbezirken (Nordwürttemberg-Nordbaden, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) unverändert verlängert worden. In Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern ist auf Antrag von Geschäftsführung und Betriebsrat eines Unternehmens mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien im Einzelfall eine Verlängerung des Ausgleichszeitraumes auf 24 Monate möglich. In Nordrhein-Westfalen kann mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien sogar ein Ausgleichszeitraum von mehr als 24 Monaten vereinbart werden. In der Eisen- und Stahlindustrie wurde einmal die schon vereinbarte Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit mit Lohnausgleich auf 35 Stunden um 11 Monate vorgezogen. Durch Betriebsvereinbarung kann [Seite der Druck-Ausgabe: S. 14] die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich für ganze Betriebe, Betriebsteile oder Beschäftigtengruppen auf bis zu 32 Wochenstunden reduziert werden. Als soziale Komponente erhalten Arbeitnehmer in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen eine halbe Stunde mehr als die verkürzte Arbeitszeit vergütet. Varianten des Ansatzes Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich gegen Kündigungsschutz sind auch in der papierverarbeitenden Industrie und einigen kleineren Tarifbereichen zu finden. Ein anderer Arbeitszeitansatz ist der Arbeitszeitkorridor, bei dem tarifvertraglich den betrieblichen Verhandlungsparteien die Option eröffnet wird, für einzelne Arbeitnehmergruppen oder auch ganze Betriebe von der Regelarbeitszeit in Bandbreiten nach oben oder unten abzuweichen. In der Chemischen Industrie ist bei einer regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden ein Arbeitszeitkorridor von 35 bis 40 Stunden zulässig. Diese Möglichkeit ist unbefristet in den Manteltarif aufgenommen. Die Umsetzung erfolgt über freiwillige Betriebsvereinbarungen; sind ganze Betriebe betroffen, müssen die Tarifvertragsparteien zustimmen. Kündigungsschutz bzw. Beschäftigungsförderung ist allerdings keine zwingende Voraussetzung für die Anwendung des Korridors. Einhergehend mit der Einführung des Korridors hat sich auch die Mehrarbeitsphilosophie verändert. Mehrarbeitszuschläge fallen nicht mehr bei Überschreiten der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden an, sondern sind an die betriebliche Definition des Arbeitszeitkorridors angehängt. Die Zuschlagspflicht richtet sich nach der für die jeweiligen Gruppen bzw. Betriebe vereinbarten Arbeitszeit. Die Option des Arbeitszeitkorridors wird von der Möglichkeit einer täglichen Arbeitszeitvariation bis hin zu 10 Stunden und einem Verteilungszeitrahmen von 12 Monaten (bei Projektarbeiten 36 Monaten) flankiert. Nach einem Jahr Praxis existieren über 50 Betriebsvereinbarungen, denen die Tarifparteien zustimmten; eine ungezählte Zahl an Betrieben nutzt die Möglichkeit der differenzierten Arbeitszeit für Gruppen von Arbeitnehmern. [Seite der Druck-Ausgabe: S. 15] Arbeitszeitdifferenzierungen nach unten und oben gibt es in der Papierindustrie, der Kautschukindustrie, der Lederindustrie, der feinkeramischen Industrie sowie in weiteren, kleineren Tarifbereichen (teilweise auf einzelne regionale Tarifgebiete beschränkt). Mit den beschäftigungssichernden Arbeitszeitregelungen wurden mehrfach neue Akzente gesetzt. Arbeitgeber sind von ihrer grundsätzlich ablehnenden Position gegenüber kollektiven Arbeitszeitverkürzungen abgewichen. Arbeitszeitverkürzungen werden als beschäftigungspolitisches Instrument zur Sicherung von Arbeitsplätzen anerkannt und genutzt. Gewerkschaften haben in Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich eingewilligt. Dies ist darauf zurückzuführen - und damit ist ein weiteres neues Element angesprochen -, daß die beschäftigungssichernden Arbeitszeitverkürzungen in ihrem Ausmaß teilweise deutlich über dasjenige der tarifvertraglichen kollektiven Arbeitszeitverkürzungen im letzten Jahrzehnt hinausgehen. Der Verteilungsspielraum (ohne Umverteilungskomponente) reichte bei weitem nicht aus, um einen vollen Lohnausgleich zu gewährleisten.
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 16]
Beispiele für differenzierte und flexible Rahmenregelungen der Arbeitszeiten
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 17]
Beispiele für differenzierte und flexible Rahmenregelungen der Arbeitszeiten
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 18]
Beispiele für differenzierte und flexible Rahmenregelungen der Arbeitszeiten
[Seite der Druck-Ausgabe: S. 19] Die Beschäftigungssicherung ist das wesentliche und innovative Element der Vereinbarungen. Die Verbindlichkeit ist allerdings stark abgestuft. Sie reicht vom tarifvertraglichen Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen im Haustarifvertrag bei VW - im Steinkohlenbergbau hat das den Tarifbereich dominierende Unternehmen eine derartige Zusage außerhalb des Tarifvertrages gemacht - über die Option mit einem festen Rahmen für freiwillige Betriebsvereinbarungen, die wenn sie abgeschlossen werden für den Betrieb natürlich verbindlich sind, bis hin zu unverbindlichen Empfehlungen der Tarifparteien. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2000 |