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TEILDOKUMENT:
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Vermeidbare Geburtsfehler Die europäische Einheitswährung kommt 1997 nun doch noch nicht, haben die EU-Finanzminister beschlossen. Der erste Schritt zum Ausstieg vor dem Einstieg? Gewiß nicht. Der Vertrag von Maastricht, am 31. Dezember 1991 geschlossen, am 1. November 1993 in Kraft getreten, sieht vor, bis spätestens 1999 eine gemeinsame Währung für Europa zu schaffen, vielleicht auch später. Er ist verbindlich, was die Währungsunion angeht. Nach anfänglicher Begeisterung entdecken inzwischen immer mehr auch seinerzeit an Verbreitung und Abschluß des Vertrages unmittelbar Beteiligte Haare in der Suppe von Maastricht. Darunter sind einige, wie Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer und der frühere Finanzstaatssekretär Horst Köhler, die wesentlich dazu beigetragen haben, daß das Ergebnis von Maastricht als deutscher Erfolg gefeiert wurde: eine Währungsunion mit unabhängiger Zentralbank nach deutschem Muster - in Wahrheit autonomer noch - in einer europäischen "Stabilitätsgemeinschaft". Gelegentlich wurde auch schon 1991 beklagt, daß die politische Union zu schwach geraten sei. Damit war wohl auch gemeint: Während die Deutschen in Maastricht die Souveränität über die Mark abtreten, behalten die Partner ihre Souveränität über die Fiskalpolitik schön im eigenen Lande. Das könne aus zwei Gründen wohl nicht gutgehen. Erstens führe eine Kombination zentralistischer Geldpolitik mit einer polyzentrischen Haushalts- und Finanzpolitik nicht zu einem gesamtwirtschaftlichen Optimum. Das ist ohne Frage richtig, aber auch nur zum Teil. Wer ein gesamtwirtschaftliches Optimum erreichen will, muß außerdem die Tarifvertragsparteien in eine Strategie von Wachstum, Beschäftigung und Stabilität einbinden. Hiervon ist nichts zu sehen. Und zweitens hätten die Deutschen ihr bestes Instrument, die Hoheit über ihr eigenes Geld, vergemeinschaftet, während die anderen auf ihren Souveränitätsrechten in der Haushalts- und Fiskalpolitik beharrten. Die Stabilitätskriterien im Maastrichtvertrag wurden zunächst gelobt und werden jetzt gewissenhaft geprüft, ob sie hart genug sind. Außerdem steht im Vertrag "Ecu" als Name für die gemeinsame Währung. Das wollen viele in
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deutschen Landen nicht wahrhaben. Deshalb ist das neue Zahlungsmittel in Deutschland jedenfalls noch namenslos. In Wahrheit aber wird gegen die Bezeichnung Ecu im Vertrag deshalb Dampf produziert, weil mit dem Ecu als bisheriger Verrechnungseinheit in der Europäischen Union auch das Umtauschverhältnis präjudiziert werden könnte. Auch wenn das einige Verhandlungspartner so sehen mögen, bleibt es ein ökonomisches Unding. Warum nur hat dieses mögliche Mißverständnis beim Vertragsabschluß 1991 keiner gemerkt? Üblicherweise gibt man, wenn Vertragstexte lückenhaft oder mißverständlich erscheinen, Interpretationen zu Protokoll, um sich und anderen klarzumachen, wie man den Vertragstext versteht: man testet, ob Einvernehmen herrscht. Wo sind diese Protokollerklärungen von 1991? Die so hoch gelobten Konvergenzkriterien als Eintrittsbedingung in die Stabilitätsgemeinschaft sind alles andere als eindeutig und klar. Beispiele: Das Schuldenkriterium, demzufolge die öffentliche Verschuldung nicht mehr als sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen darf, gilt beileibe nicht ausnahmslos. Nach dem Vertragstext ist auch der Schuldenabbau zu berücksichtigen. Es ist also durchaus als vertragskonform interpretierbar, wenn Irland von 1987 bis 1994 von 110 auf 93 Prozent Verschuldungsgrad zurückgefallen ist, selbst wenn dafür viel Geld aus dem EU-Haushalt benutzt wird. "Selbst das Inflationskriterium ist unklar. Ist mit der Forderung - die Preissteigerungsrate darf um nicht mehr als eineinhalb Prozentpunkte über der der höchsten drei preisstabilsten Länder liegen - der Durchschnitt dieser drei Länder, das preisstabilste oder das drittstabilste Land gemeint?" fragt zu Recht das Hamburger Zentralbankratsmitglied Hans-Jürgen Krupp. Ist der Durchschnitt gemeint, so wäre Eintrittsbedingung gegenwärtig eine Inflationsrate von 3,5 Prozent. In den beiden anderen Fällen läge sie bei 3,4 oder 3,7 Prozent. Das ist hoch, insbesondere vor dem Hintergrund, daß die deutsche Bundesbank bisher zwei Prozent Inflationsrate für die anzustrebende Obergrenze hält. Damit ist klar, daß das Werk von Maastricht in Schlüsselformulierungen besonders stückwerklich, handwerklich mangelhaft geraten ist. Man kann jedoch nicht ohne weiteres erkennen, ob die Formulierungen im Vertrag einfach
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schlecht sind oder ob sich dahinter Differenzen der Vertragspartner verbergen. In jedem Fall sieht man inzwischen, was die Regierungen, jeweils interessengeleitet, aus diesem Vertragstext nun zu machen suchen. Neben der Suppe trüber Formulierungen gibt es im Vertrag unzureichende Regelungen. Ein gravierendes Beispiel: Ein Mitgliedstaat der Währungsunion mit Einheitswährung verstößt gegen die Regel, seine Neuverschuldung nicht über drei Prozent im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt hinauszufahren. Der Vertrag nennt abstrakt dafür das "übermäßige öffentliche Defizit". Kommission und Rat bemerken den unkeuschen Umgang mit Geld nach einiger Zeit. Dann sind im Kern schwächliche Sanktionen gegen den Sünder möglich. Die Strafandrohung im Vertrag gipfelt in "Geldbußen" in angemessener Höhe und in einer unverzinslichen Einlage bei der Gemeinschaft. Diese Sanktionen treten nicht automatisch ein, sondern müssen mit qualifizierter Mehrheit vom Rat der Finanzminister beschlossen werden. Der ehemalige EU-Kommissar Peter M. Schmidhuber, heute Mitglied des Direktoriums der Bundesbank, kommentiert dieses Erfordernis der qualifizierten Mehrheit mit dem - in seiner diplomatischen Gewähltheit - schwer zu überbietenden Hinweis, daß "die Sanktionen ... auch allgemeinen politischen Überlegungen zugänglich sind". Die "allgemeinpolitischen Überlegungen", die Regierungen bei der Abstimmung über Sanktionen der Brüsseler Technokratie leiten können, mögen ganz plump taktisch sein nach dem Motto: Bloß nicht zustimmen, morgen kann es mich treffen. Sie mögen auch hohen verfassungspolitischen Traditionen folgen: Niemand soll der französischen Nationalversammlung, dem Hort der Volkssouveränität seit der Französischen Revolution, oder dem Britischen Unterhaus, der Mutter aller Parlamente, in das Budgetrecht hineinregieren. Hier wird deutlich, daß eine nicht gleichwertig demokratisch legitimierte Europäische Union schwerlich die Macht erwarten kann, einen nationalen Haushalt zu kassieren. Neben vielen anderen meint Schmidhuber, der Sanktionsmechanismus müsse "Zähne bekommen". Aber wer heute den vorgesehenen Mechanismus für noch nicht zwingend genug hält, wie auch Bundesbankpräsident Tietmeyer, weiß natürlich, wovon er redet - ihm ist nicht nur bewußt, daß die Bundesregierung seinerzeit zugestimmt hat, sondern auch, daß der Vertrag, so zahnlos er an dieser Stelle ist, gilt. Er kann von den Beteiligten nur gemeinsam geändert
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werden. An post festum vorgetragenen Einsichten wird die europäische Integration freilich nicht scheitern. Üblicherweise werden dann bei Gelegenheit neue Verhandlungspakete gepackt. In diesem Fall ist absehbar, daß andere EU-Länder mehr Geld aus Deutschland gegen mehr Zähne im Sanktionssystem fordern würden. Der Bonner Finanzminister hat aber gerade ausrechnen lassen, die Deutschen zahlten schon jetzt jährlich fünfzehn Milliarden Mark zuviel in die Europakasse. Ein dickes Problem, aber nicht das dickste. Im Vertrag von Maastricht und in den Diskussionen gibt es rundum weiße oder allenfalls andeutungsweise graue Stellen, die ausgefüllt werden müssen, wenn man die säkularen Chancen der Währungsunion für Europa nicht durch tumbes Tun vor allem in den Anfangsjahren so hart testen will, daß sie im Qualm großer Emotionen oder großer Krisen vernebelt werden. Die möglichen Vorteile der Währungsunion liegen auf der Hand: Es gibt im Endzustand eine einheitliche und angemessene europäische Geld- und Währungspolitik. Die Zeiten widerläufiger nationaler Geldpolitik in der Europäischen Union (dominiert von der Bundesbank), die zu erheblichen Wachstums- und Beschäftigungseinbußen geführt haben, sind vorbei. Wilde Kursausschläge werden obsolet, Effizienz und Ergiebigkeit der europäischen Finanzmärkte steigen. Transaktions- und Kurssicherungskosten in Europa entfallen. Ohne Wechselkurse steigt die Transparenz in den Märkten Europas mit dem Ergebnis höherer Wettbewerbsintensität nach innen und größerer Wettbewerbsfähigkeit nach außen. Und letztens: Eine Europäische Union mit einer Währung kann, dank ihres Gewichtes, viel eher mit Amerika und Japan in der Währungspolitik kooperieren und dabei erfüllbare Verpflichtungen eingehen. Nichtökonomische Vorteile sind besonders wichtig: Die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles in die Politik der Nationalstaaten nach dem Muster von 1870 bis 1945 wird mit gemeinsamem Geld noch kleiner. Will man einer Spielart neoklassischer ökonomischer Theorie folgen, die alles in Geldwert ausdrückt, dann kann man vorrechnen: Die Nationalstaaterei hat von 1870 bis 1945 zu drei Kriegen in Europa geführt. Diese haben die Überlebenden Billionen Mark, Franc und Lira gekostet. Die Vermeidung der Wiederholung erspart den Teilnehmern Billionen durch vermiedene Rüstung, vermiedene Kriege, vermiedene Inflation.
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Human erscheint freilich der Gedanke, Freiheitsbewahrung und Friedensstiftung für einen Wert an sich zu halten, für den der Homo oeconomicus schlicht als Mensch eigentlich auf materielle Vorteile zu verzichten geneigt sein sollte. Um diese ökonomischen und politischen Chancen ergreifen zu können, um Europa in der Welt wettbewerbsfähig zu halten, müssen freilich Geburtsfehler vermieden werden, die die Währungsunion von Anfang an schlimm belasten könnten und im Maastricht-Vertrag angelegt sind. Die schlimmsten Fehler werden am Anfang gemacht. Und unterdrückte Wahrheiten kommen allemal ans Licht, besser jetzt als später. Ein besonders delikates Thema: Wenig spricht dafür, daß die Übertragung der Politik der Frankfurter Währungsbehörde auf die Europäische Union insgesamt unter dem Motto Stabilitätsgemeinschaft zu den besten gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen in der Europäischen Union führt. Das gilt insbesondere in der Anfangsphase. Die Bezeichnung Stabilitätsgemeinschaft klingt zwar in vieler Ohren gut, aber zu Zeiten verschärften internationalen Wettbewerbs und zu Zeiten großer Massenarbeitslosigkeit - der neue französische Präsident hat sie zum Staatsfeind Nummer eins erklärt - genügt eine Stabilitätsgemeinschaft nicht; sie muß zugleich eine Wachstums- und Beschäftigungsgemeinschaft sein. Wenn die Eintrittskriterien von Maastricht ernst genommen werden, entstehen zwei massive Konflikte. Je kleiner der Kern der Teilnehmer ist, um so größer ist die Gefahr, daß die Wechselkurse zwischen der Einheitswährung und den Währungen anderer EU-Mitglieder zum Spielball der Finanzmärkte werden. Die abgeschafften Zölle in der EU, eine wesentliche Voraussetzung für den einheitlichen Binnenmarkt, würden faktisch durch auseinanderdriftende Wechselkurse ersetzt. Im Klartext heißt das: Zeitgleich mit der Einführung der Einheitswährung in einigen Ländern muß ein Wechselkurssicherungssystem mit allen anderen EU-Ländern gefunden werden, das sicherstellt, daß die Wechselkurse sich nicht zu weit auseinanderentwickeln. Sonst würde der einheitliche Binnenmarkt durch Wechselkurse zerschlagen und der Beitritt weiterer EU-Staaten zum Einheitswährungsraum auf lange Sicht außerordentlich erschwert.
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Ein einheitlicher Wirtschafts- und Währungsraum ohne Tarifvertragsparteien, die auch Verantwortung für die Politik auf EU-Ebene übernehmen, wird nicht funktionieren; ein gesamtwirtschaftlicher Wachstumspfad mit hohem Beschäftigungsstand und Preisniveaustabilität bedarf der Kooperation zwischen Währungs-, Geld-, Einkommens- und Fiskalpolitik auf der höchsten Ebene. Niemand kann Arbeitnehmer besser für die Gemeinschaft gewinnen als Gewerkschaften. Bei den Unternehmen genießen die eigenen Organisationen das größte Vertrauen. Es gibt allerdings keinen Grund, jede Art von Steuerregelung im einheitlichen Wirtschafts-, und Währungsraum zu vereinheitlichen. Aber dort, wo nationale Sonderwege den Wettbewerb gravierend beeinträchtigen, können sie nicht weitergegangen werden. Das heißt, spätestens mit Eintritt in die Währungsunion muß in Deutschland die Gewerbekapitalsteuer entfallen. Das heißt auch, daß die luxemburgische Ausnahmeregelung, Kapitaleinkünfte nicht zu besteuern, ein Ende haben muß. Die Gretchenfrage aber wird sein: Wird die bisher namenlose Europawährung so stabil wie die Mark, paßt das deutsche Notenbankwesen für Europa? © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000 |