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[Seite der Druckausg.: 12 (Fortsetzung)]



3. Langzeitarbeitslosigkeit im Osten




3.1. Vorbemerkung zur Statistik

Die Arbeitslosigkeit trat in den neuen Bundesländern 1990 erstmalig in Erscheinung und entwickelte sich bekanntlich in dramatischen Größenordnungen. Deshalb ließ sich das im Westen übliche statistische Berichtssystem der Bundesanstalt für Arbeit erst allmählich aufbauen. Die statistischen Möglichkeiten zur Analyse der Struktur der Arbeitslosigkeit und der Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit sind im Rahmen der Arbeitsverwaltung erst seit 1992 gegeben. Genaue Erhebungen über die Bewegungsvorgänge am Arbeitsmarkt sind sogar erst in diesem Jahr durchgeführt worden.

Diese statistischen Probleme wurden vorausgesehen und deshalb 1990 vom IAB der sogenannte Arbeitsmarkt-Monitor eingerichtet. Er ist eine periodische Bevölkerungsbefragung von ca. 10.000 Personen zu allen wesentlichen arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitisch relevanten Sachverhalten. So konnten erste statistische Daten geliefert werden – allerdings mit der Einschränkung, daß tiefere Untergliederungen einzelner

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Gruppen (Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende) wegen zu geringer Fallzahlen nicht weiter analysiert werden konnten. Der Arbeitsmarkt-Monitor wird gegenwärtig letztmals in der achten Welle erhoben und anschließend eingestellt.

Die unterschiedlichen statistischen Phasen – Arbeitsmarkt-Monitor einerseits, Geschäftsstatistik der BA andererseits – sind für den Betrachtungsgegenstand Langzeitarbeitslosigkeit bedeutsam, da unterschiedliche Inhalte ausgedrückt werden.

Für die Geschäftsstatistik der BA gilt, daß Langzeitarbeitslosigkeit eintritt, wenn die Arbeitslosigkeitsmeldung 12 Monate ununterbrochen aufrechterhalten ist. Unterbrechungen von 6 Wochen durch Krankheit oder durch die Teilnahme an Fördermaßnahmen, sowie die Aufnahme einer kurzfristigen Beschäftigung von 18 Wochenstunden beenden die Arbeitslosigkeitsperiode statistisch, ohne daß eine berufliche Eingliederung stattgefunden hat. Außerdem werden Arbeitslose ab 58 Jahren, die nach § 105 c AFG nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen, statistisch gesondert erfaßt. Schließlich fallen Arbeitslose, die keine Leistungen vom Arbeitsamt beziehen, aus der Statistik, wenn sie sich nicht alle 3 Monate aus eigenem Antrieb melden. Das bedeutet, daß die statistisch ausgewiesene Langzeitarbeitslosigkeit als Untergrenze betrachtet werden muß. Das tatsächliche Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit und ihre soziale Dimension werden damit nicht erfaßt.

Der Arbeitsmarkt-Monitor dagegen registriert Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit ohne Rücksicht auf zwischenzeitliche Unterbrechungen durch Krankheit oder Maßnahmen. Wichtig war allein der zu den aufeinanderfolgenden Befragungszeitpunkten erfüllte Status als Arbeitslose/r. 1993 weist der Monitor auf diese Weise 47% als Langzeitarbeitslose aus, die BA-Statistik dagegen nur 31%.

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3.2. Das Problemfeld und seine Struktur

Die relativ starken Arbeitsmarktbewegungen in 1994 haben diese Zahlen weiter steigen lassen. Während die durchschnittliche Dauer einer Arbeitslosigkeitsperiode von 41,3 Wochen im Mai 1994 auf 37,9 Wochen

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im Oktober 1994 gesunken ist, stieg der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen auf 33,8% (September 1994, BA-Statistik).

Wesentliche Strukturmerkmale der Gesamtarbeitslosigkeit prägen die Struktur der Langzeitarbeitslosigkeit vor. So verfestigt sich eindeutig der Frauenanteil (BA-Statistik):



Jahr

Sept. 1992

Sept. 1993

Sept. 1994

Frauenanteil




an den Arbeitslosen

64,7%

65,4%

66,9%

an den Langzeitarbeitslosen

68,9%

74,4%

76,8%



Zum Vergleich: Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen beträgt nur 44%. Arbeitslose Frauen waren zu 39,2% langzeitarbeitslos, während bei den arbeitslosen Männern nur 23,3% langzeitarbeitslos waren (BA-Statistik, September 1994).

Das zweite strukturbestimmende Merkmal ist die Alterszusammensetzung: Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Arbeitslosen der jeweiligen Altersgruppe ist der folgenden Aufstellung zu entnehmen:



Jahr

Sept1992

Sept. 1993

Arbeitslose



unter 25 Jahren

14,8%

14,8%

25 bis unter 45 Jahren

20.9%

27,0%

45 bis unter 65 Jahren

34,0%

41.8%



Die Sonderinstrumente Vorruhestandsgeld und Altersübergangsgeld hatten die Gruppe der 55 - 60jährigen stark ausgedünnt. Nach Auslaufen dieser Instrumente Ende 1992 hat sich in dieser Altersgruppe die Arbeitslosigkeit um 81,9% erhöht. Die starke Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit – 2 Jahre und länger – findet sich deshalb vorwiegend in dieser Altersgruppe, wobei bei Frauen bereits in der Altersgruppe ab 45 Jahren ein drastischer Anstieg zu verzeichnen ist.

Die Langzeitarbeitslosigkeit älterer Jahrgänge hängt – wie übereinstimmend vom Vertreter des IAB und der Direktorin des Arbeitsamtes Gera betont wurde – weniger mit verminderter Leistungsfähigkeit oder Qualifi-

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kation zusammen, sondern vielmehr mit der Einstellungspraxis der Unternehmen und z.T. unbegründeten Vorurteilen gegenüber dieser Altersgruppe.

Im Hinblick auf die Qualifikation ist festzustellen, daß der traditionell hohe Ausbildungsstand der vormaligen DDR auf den rapiden Beschäftigungsabbau nach der Wende keinen Einfluß hatte: 76,8% der Arbeitslosen im September 1993 wiesen eine abgeschlossene Berufsausbildung auf. Ihr Anteil an den Langzeitarbeitslosen war mit 69,6% nur wenig geringer. Im Westen stellte diese Gruppe 48,2% der Langzeitarbeitslosen bei einem Anteil an den Arbeitslosen von 53%.

Abbildung 5:
Anteil von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung an den Langzeitarbeitslosen in West- und Ostdeutschland

Hingegen stellen Arbeitslose ohne formale Qualifikation in den neuen Bundesländern anders als im Westen keine quantitativ besonders bedeutsame Problemgruppe dar. Ihr Anteil an den Arbeitslosen lag im September 1993 bei 23,2%, im Westen hingegen bei 47%. Unter den Langzeitarbeitslosen sind sie mit 30,4% (Westen 51,8%) etwas stärker vertreten als im Arbeitslosenbestand.

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Abbildung 6:
Anteil von Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen an den Langzeitarbeitslosen in West- und Ostdeutschland



Die Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand ist im Osten vergleichsweise weniger deutlich wie im Westen. Dennoch läßt sich anhand der Daten des Arbeitsmarkt-Monitors die subjektive Wahrnehmung des Gesundheitszustandes folgendermaßen beschreiben:
Langzeitarbeitslose ordnen sich überproportional den schlechten, in durchschnittlichem Ausmaß den neutralen, in weit unterdurchschnittlichem Maße dagegen den guten Gesundheitszuständen zu. Damit läßt sich sowohl belegen, daß schlechte Gesundheitszustände vermehrt zu Langzeitarbeitslosigkeit führen, als auch im Umkehrschluß unterstreichen, daß längere Arbeitslosigkeit zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes beiträgt.

Im Hinblick auf die Einkommenssituation ist nach den Daten des Arbeitsmarkt-Monitors für November 1993 festzustellen, daß das persönliche Einkommen Langzeitarbeitsloser gegenüber demjenigen der Erwerbstätigen drastisch reduziert ist. Es beträgt lediglich 44% des Durchschnittseinkommens der Erwerbstätigen. Dieser Abstand schwächt sich auf der Basis von Haushaltseinkommen und Pro-Kopf-Einkommen der Haushaltsmitglieder ab, da die durchschnittliche Haushaltsgröße bei

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Langzeitarbeitslosen (2,8 Personen/Haushalt) kleiner ist als bei den Erwerbstätigen (3,0 Personen/Haushalt). Deshalb erreicht das Pro-Kopf-Einkommen im Langzeitarbeitslosenhaushalt 70% des entsprechenden Wertes bei den Erwerbstätigen. In absoluten Zahlen haben Erwerbstätige an persönlichen Einkünften DM 1.942,- monatlich zur Verfügung, Arbeitslose DM 928,- und Langzeitarbeitslose DM 857,-. Das Haushaltseinkommen des Erwerbstätigenhaushalts beträgt DM 3.309,-, dasjenige des Arbeitslosenhaushalts DM 2.186,-, und dem Langzeitarbeitslosenhaushalt stehen lediglich noch DM 2.056,- zur Verfügung.

Diese Verhältnisse werden sich bei länger andauernder Langzeitarbeitslosigkeit verschärfen, da traditionell der Leistungsbezug mit der Zeitdauer abnimmt. Dies liegt insbesondere daran, daß die im Anschluß an das Arbeitslosengeld gezahlte Arbeitslosenhilfe einer doppelten Beschränkung unterliegt. Sie hat nicht nur niedrigere Leistungssätze, sondern ist darüber hinaus auch an eine relativ umfangreiche Bedürftigkeitsprüfung gebunden. In nicht wenigen Fällen ergibt sich dadurch ergänzender Bedarf nach laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG).

Aus verschiedenen Untersuchungen ist bekannt, in welcher Weise die Langzeitarbeitslosen ihre finanziellen Schwierigkeiten bewältigen, d.h. welche Prioritäten bei den persönlichen Sparmaßnahmen gesetzt werden:

66% der Nennungen betreffen Einschränkungen der persönlichen Ausgaben
52% der Nennungen betreffen Verzicht auf Anschaffungen
42% der Nennungen betreffen Verzicht auf Urlaub

Bei der Wahrnehmung der bedrückenden wirtschaftlichen Situation spielt eine große Rolle, daß die Langzeitarbeitslosen auf Freizeitangebote und die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen verzichten müssen. Sie sind also bereits von ihrer wirtschaftlichen Lage her einer empfindlichen Isolationsgefahr ausgesetzt. Häufig müssen darüber hinaus Ersparnisse aufgebraucht werden. Es kommt vermehrt zu Schulden, insbesondere Mietschulden.

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Die psychosoziale Umgangsweise mit der Langzeitarbeitslosigkeit ist dagegen uneinheitlich. Wie aus verschiedenen Studien bekannt ist, wäre eine mechanische Vorstellung von den Folgen der Arbeitslosigkeit verfehlt. Vielmehr kommt entscheidende Bedeutung der sozialen Verwurzelung der Betroffenen und ihrer Souveränität im Umgang mit ihrer Lage zu. Als psychisch belastend können folgende Faktoren gelten: reduziertes Einkommen, Einschränkung sozialer Kontakte, reduzierte Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten zur Geltung zu bringen, wachsende Ablehnungserfahrung bei Bewerbungen, Zukunftsungewißheit. Entlastende Faktoren sind dagegen: mehr Zeit für die Familie sowie mehr Zeit für Hobbies.

Ein Vergleich der Ergebnisse einer im Westen 1980/81 durchgeführten und mit gleichem Untersuchungs-Design 1992 im Osten wiederholten Befragung liefert hierzu einige Informationen. In beiden Fällen wird deutlich, daß die belastenden Faktoren bei weitem überwiegen. Signifikante Unterschiede sind: Im Osten wird der Kontakt zu den Kollegen stärker vermißt, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden weit weniger bei sich selbst vermutet. Die Ausgrenzungstendenzen werden also weniger wahrgenommen, so daß die Chancen, mit Langzeitarbeitslosigkeit zurecht zu kommen, besser sind als im Westen. Darauf deutet auch hin, daß die entlastenden Faktoren besser angenommen werden als im Westen.

Die noch relativ große Bandbreite an beruflichen Qualifikationen und Herkunftstätigkeiten sowie die persönliche und soziale Stabilität des Personenkreises der Langzeitarbeitslosen ermöglichen deshalb auch, in Langzeitarbeitslosen-Projekten anspruchsvollere Tätigkeitsfelder anzubieten.

Diese Daten dürfen dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Langzeitarbeitslosigkeit längerfristig gravierende Folgen hat Demotivierung, Dequalifizierung, Alkohol- und Drogenprobleme, Obdachlosigkeit, Überschuldung bis hin zu so zersetzenden sozialen Konsequenzen wie Kriminalität und Vertrauensverlust in das politische System. Auch Probleme dieser Art wurden als Integrationshindernisse in den Praxisberichten auf der Tagung artikuliert.

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3.3. Regionale Tendenzen am Arbeitsmarkt in Thüringen

Die regionale Arbeitsmarktsituation in Thüringen bewegte sich – wie die Direktorin des Arbeitsamtes Gera referierte – im Hinblick auf die wesentlichen Eckdaten im Durchschnitt der neuen Bundesländer. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit lag im Oktober 1994 mit 37,8 Wochen im Durchschnitt. Allerdings streuten die lokalen Werte sehr stark. Mit 27,3 Wochen in Jena und 54,2 Wochen in Altenburg wurden die beiden Extremwerte für die neuen Bundesländer insgesamt erreicht.

Das Ausmaß der Bewegungen am Arbeitsmarkt kommt in den Zahlenvergleichen mit den Vorjahren zum Ausdruck. Im Oktober 1994 wurde in Gera erstmals seit November 1991 die Zahl von 20.000 Arbeitslosen unterschritten. Gegenüber der damaligen Situation befanden sich im Oktober 1994 3.600 Personen weniger in ABM, ca. 10.000 weniger in Kurzarbeit, 1.600 weniger in Vorruhestand/Altersübergangsgeld und es waren ca. 19.000 weniger Eintritte in F&U-Maßnahmen zu verzeichnen. Gegenüber dem Vorjahr stieg die Zahl der offenen Stellen 1994 um 3.000 auf 18.000, die Zahl der Vermittlungen um 4.000 auf 15.600.

Diese im Gesamteindruck positive Entwicklung war jedoch auch von einer Verfestigung und weiteren Steigerung der Langzeitarbeitslosigkeit gekennzeichnet, die im gleichen Zeitraum von 6.600 = 28% auf 7.200 = 37% zugenommen hat. Darunter befinden sich 6.000 Frauen und 1.200 Männer, es überwiegt die Altersgruppe ab 45 Jahren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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