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[Seite der Druckausgabe: 28 = Fortsetzung]

3. Von der Arbeitslosigkeit zur Ghettobildung? Die Folgen sozialer Entmischung in den Großsiedlungen



3.1 Veränderungen der Mieterstruktur durch Wanderungsbewegungen

Ein politisches Ziel der sozialistischen Wohnungspolitik in der DDR war die Auflösung der Klassen und Schichten in der Wohnbevölkerung. Angesichts der nur gering gespreizten Einkommen und der Zuteilung von Wohnraum nach sozialen Kriterien, kam es zu einer sozialen Mischung der Bewohner vor allem in den großen Neubaugebieten. Das Zusammenleben von Schichtarbeiter und Professor, Verkäuferin und Kombinatsdirektor „in der Platte" galt als

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selbstverständlich. In den ersten Jahren nach der Vereinigung änderte sich mangels eines anderen Wohnungsangebots wenig. Dieser Zustand war in der Bevölkerung akzeptiert und führte zu einem Nebeneinander unterschiedlicher soziokultureller Milieus und Lebensstile, die sich in Westberlin und den alten Bundesländern auf unterschiedliche Wohngebiete verteilen. Dieser aus der DDR überkommene Status quo ist mittlerweile durch drei Entwicklungen in Frage gestellt:

  1. Innerhalb der Großsiedlungen kommt es zu einer Ausdifferenzierung bis zur sozialen Entmischung der Bewohner durch die Abwanderung finanzkräftiger Mieterschichten und den Zuzug bzw. die Zuweisung von sozialen Randgruppen: etwa Obdachlose, Sozialhilfeempfänger aus zu großen (d.h. zu teuren) Wohnungen, Aussiedler aus Osteuropa. Dieser Prozeß verläuft noch weitgehend innerhalb der Stadtregion. Das zeigen einige Daten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Der Wanderungssaldo aller ostberliner Außenbezirke ins Umland ist negativ, aber die Abwanderung aus den Großsiedlungen liegt unter dem Durchschnitt von 6.5 % pro Jahr. Der Anteil der Bewohner mit einer Mietdauer von über 4,5 Jahren liegt in den Außenbezirken erheblich über dem in den Großsiedlungen.
  2. Parallel dazu erfolgen in den neuen Bundesländern verschiedene überregionale Wanderungsbewegungen, die den oben beschriebenen Prozeß der Differenzierung verstärken. Unmittelbar nach der Maueröffnung, aber verstärkt seit den ersten großen Entlassungswellen in den Treuhand-Betrieben ab 1990/91, setzte eine Ost-West-Wanderung gerade junger, qualifizierter Arbeitskräfte ein. Diese hatten bei der Familiengründung oft eine Wohnung in den Großsiedlungen am Stadtrand zugewiesen bekommen. Seit Mitte der neunziger Jahre zeichnet sich eine anhaltende Landflucht in Ostdeutschland ab. Arbeitssuchende wandern in die wenigen Wachstumsregionen. Besonders deutlich wird das in Berlin, da in dem Gebiet von der nördlichen Stadtgrenze bis zur Ostseeküste keine größeren Industriebetriebe mehr existieren. Schulabgängern bleibt meist nur die Wahl, in den Ballungsgebieten Lehrstellen und Beschäftigung zu suchen, oder schlecht bezahlte Dienstleistungstätigkeiten zu akzeptieren. Die Region Berlin (Stadtgebiet und engerer Verflechtungsraum in Brandenburg) bildet so für den ganzen Nordosten der Bundesrepublik das Ziel einer solchen Arbeitsmigration. Daraus folgt ein steigender Bedarf nach billigem Wohnraum. Zuwanderer aus den neuen Bundesländern scheinen sich eher in ost- als in westberliner Bezirken niederzulassen. Der Druck auf die unteren Segmente des Wohnungsmarktes wird also eher steigen und vor allem wird sich das Arbeitsangebot weiter ausweiten.

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  1. Aus den ostberliner Innenstadtbezirken wandern Bevölkerungsgruppen ab, vor allem junge Familien mit Kindern und begrenztem Einkommen, die sich von dem großzügigen Kinderbetreuungsangebot in den Großsiedlungen und der Nähe zum Umland angezogen fühlen. Darüber hinaus kommt es zu Wanderungen innerhalb des Wohnungsbestandes der Großsiedlungen: So gehen nur ca. ein Drittel der Fortzüge aus Marzahn ins brandenburger Umland, die anderen zwei Drittel verbleiben in Berlin und ziehen zumeist in die angrenzenden Stadtbezirke. Bestimmte Wohnlagen werden je nach Sanierungsstand und Entwicklung des Umfeldes bevorzugt, so ziehen z.B. Bewohner aus den oberen Etagen der Hochhäuser in freiwerdende Wohnungen im gleichen Gebäude um. Angesichts der gestiegenen Mieten suchen Alleinstehende und kinderlose Ehepaare kleinere Wohnungen.

Diese Wanderungsströme verändern die Bewohnerschaft in den Großsiedlungen, deren Sozialstruktur sich zunehmend vergleichbaren westdeutschen Wohnsiedlungen in Stadtrandlage (z.B. Köln-Chorweiler, München-Perlach) annähert. Ein Unterschied besteht in der ethnischen Zusammensetzung der Bewohner: Der Anteil ausländischer Jugendlicher unter 18 liegt im Durchschnitt der berliner Außenbezirke bei 4,8 %, in den Großsiedlungen ist er so niedrig, daß er statistisch nicht nachgewiesen werden kann; Aussiedler gelten dabei als Deutsche. Zu einem 'Fahrstuhleffekt', d.h. dem rapiden Abstieg einer solchen Großsiedlung zum sozialen Brennpunkt kommt es häufig, wenn ein großes Unternehmen im Einzugsgebiet Beschäftigte entläßt oder die Produktion ganz einstellt. Um die Folgen solcher Wanderungsbewegungen abzufedern, haben die großen ostberliner Wohnungsgesellschaften eine spezielle Vermietungsstrategie entwickelt. Trotz des in den neuen Bundesländern einmaligen Sanierungsstandes - nach Aussage der Senatsbauverwaltung waren Anfang 1998 die Entwicklungsplanung abgeschlossen, 54 Prozent des Wohnungsbestandes in den GS grundsaniert und fast die Hälfte der Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung gemäß den Vorgaben der Mieter durchgeführt - hat auch die sanierte 'Platte' gegenüber dem Sozialen Wohnungsbau bzw. dem Mietwohnungsneubau nach bundesrepublikanischen Normen funktionale Mängel. Der Zuschnitt der Wohnungen und die Trittschalldämmung ließen sich nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand an moderne Standards anpassen. Deshalb sind die Wohnungsgesellschaften in Einzelfällen bereit, anderen Modernisierungsmaßnahmen bei einer Forderung des Mieters zuzustimmen, obwohl sie die Kosten wegen der Mietobergrenzen des Mietspiegels nicht (vollständig) umlegen können. Dies geschieht, um gutverdienende und anspruchsvolle Mieter zu halten,

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Der Schwerpunkt der Bemühungen seitens der Wohnungsgesellschaften liegt aber auf zusätzlichen Serviceangeboten gemäß den Wünschen der Mieter, wie z.B. einer 24-Stunden-Bereitschaft der Hausmeister. Nach Umfragen tragen solche, wenig kapitalaufwendigen Maßnahmen erheblich zur Wohnzufriedenheit bei. Den Mietern das Gefühl zu geben, sie würden mit ihren Wünschen und Beschwerden ernst genommen, scheint für die soziale Stabilisierung der Großsiedlungen ein wichtigerer Faktor zu sein, als bisher vielfach angenommen. Auch wenn sich die Mieterbeteiligung bei Planungsinitiativen und Beratungsgruppen auf wenige Aktive beschränkt, so wird doch das bloße Vorhandensein solcher Kooperationsgremien von den Mietern sehr hoch eingeschätzt. Die „Plattform Marzahn" organisiert den Diskussionsprozeß, der „über eine aktive Beteiligung der Bewohner zu einer transparenten Planung und nachvollziehbaren Entscheidungen führt." Neben dem Gestaltungsbeirat, der alle Entwürfe vor dem eigentlichen Genehmigungsverfahren öffentlich diskutiert, sind eine Reihe sozialer Initiativen entstanden Allerdings ist die Finanzierung der Plattform nur bis 1999 durch die Senatsbauverwaltung gesichert. Es bleibt abzuwarten, welchen Stellenwert die Wohnungsgesellschaften solch einem Gremium zur Bürgerbeteiligung als Ansprechpartner dann einräumen werden.

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3.2 Problemlagen bei einer Konzentration sozialer Randgruppen

Das zentrale Problem der ostdeutschen und damit auch der berliner Stadterneuerung ist weder ein städtebauliches noch ein wohnungspolitisches, sondern ein soziales: die Massenarbeitslosigkeit. Dies gilt bei der immer noch sozial gemischten Wohnbevölkerung flächendeckend sowohl für den Altbaubestand der Innenstadtbezirke, als auch für die Plattenbausiedlungen am Stadtrand. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zu einem abgestimmten Vorgehen verschiedener Behörden und Institutionen zu kommen, wenn man die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen in einem Quartier verbessern will. Die Verantwortlichen dürfen sich nicht mehr darauf zurückziehen, die Kennziffern in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich zu verbessern, sondern müssen ihre Maßnahmen koordinieren. Ein Beispiel: es nützt wenig, das Wohnumfeld mit viel Geld zu verbessern, wenn es durch Vandalismus danach wieder zerstört wird. Notwendig ist der Aufbau lokaler Netzwerke, in denen Entscheidungen frühzeitig zur Diskussion gestellt werden und innerhalb derer eine Art Frühwarnsystem entstehen soll, um auf Veränderungen der Arbeitsmarktes angemessen reagieren zu können, bevor sich das Wohnklima in einem Quartier verschlechtert.

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Das oft entscheidende Hindernis beim Aufbau solcher lokalen Netzwerke von Entscheidungsträgern und Initiativen ist die funktionale Aufsplitterung in der Verwaltung, bei einem gleichzeitigen Kompetenzverlust der kommunalen Entscheidungsebene. Über die Ausgestaltung von Förderprogrammen und Projekten wird zumeist auf Bundes- oder Landesebene entschieden, ohne dabei unterschiedliche lokale Bedingungen zu berücksichtigen. Antrags- und Genehmigungsverfahren sind kompliziert und langsam. Seit Jahren wird über eine informelle Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutiert, was allerdings eine umfassende Reform der Finanzierungsstruktur erfordern würde. Die Beteiligten vor Ort legen die Bestimmungen oft bis an die Grenze des Zulässigen aus, um formalrechtliche Hindernisse zu überwinden, aber die Koordinierung von Maßnahmen ist aufwendig und zeitraubend.

Ein bekanntes Problem bei der Reintegration von sog. Problemgruppen (Langzeitarbeitslose, ältere Arbeitslose über fünfzig, An/Ungelernte, Jugendliche ohne Schulabschluß usw.) in den Ersten Arbeitsmarkt ist die strikte Unterscheidung zwischen dem Anrecht auf Lohnersatzleistungen des Arbeitsamtes und dem nachrangigen Sozialhilfeanspruch gegenüber dem Sozialamt der Kommune. Das Resultat ist eine negative Anreizstruktur: durch die Annahme eines einfach qualifizierten Arbeitsplatzes, der entsprechend niedrig entlohnt wird, erhöht sich das Einkommen eines Sozialhilfeempfängers selbst bei einer Vollzeitstelle nur geringfügig. Dabei ist zu beachten, daß das Lohnniveau in Ostberlin bzw. dem brandenburgischen Umland, bei sich angleichenden Lebenshaltungskosten, weiterhin erheblich unter dem Westdeutschlands liegt. Bruttostundenlöhne von 10-12 DM für Hilfstätigkeiten in der industriellen Produktion oder für einfache Dienstleistungen sind marktüblich. Doch selbst zu diesen Konditionen wären Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger bereit zu arbeiten, wenn es ein ausreichendes Angebot gäbe. Dafür wäre eine Verknüpfung von Wirtschaftsförderung, Gewerbeansiedlung und lokaler Arbeitsmarktpolitik erforderlich.

Die aktuelle soziale Lage in den ostberliner Großsiedlungen soll am Beispiel der größten deutschen Plattenbausiedlung im Stadtbezirk Marzahn beschrieben werden. Die Darstellung stützt sich dabei auf das Referat Drögslers, Arbeitslosenverband Berlin, im Rahmen des Tagungsschwerpunktes „Beschäftigung, Existenzgründung und Infrastruktur". Marzahn erzielte bei einer Sozialerhebung des Statistischen Landesamtes zu den durchschnittlichen Haushaltseinkommen einen beachtlichen fünften Platz unter den Berliner Stadtbezirken. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auf Grund der überproportional vielen Familien mit Kindern die durch-

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schnittliche Haushaltsgröße das Einkommensniveau überzeichnet. Bei einem durchschnittlichen Familieneinkommen von ca. 2900 DM liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei lediglich 1120 DM.

Im Gegensatz zu früheren Einschätzungen hat die Beschäftigungskatastrophe in Ostberlin auch die Großsiedlungen nicht verschont. Anfang 1998 waren in Marzahn mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 160.000 Einwohnern 13.932 Personen arbeitslos, davon 6836 Frauen und 7096 Männer. Dies entspricht einer Arbeitslosenquote von 16,9 %. Diese offene Arbeitslosigkeit ist im Jahresvergleich um über 1100 oder 9% gestiegen. Eine differenzierte Statistik nur für den Stadtbezirk Marzahn liegt nicht vor. Im Arbeitsamtbezirk Marzahn-Hellersdorf-Hohenschönhausen (umfaßt den Großteil der ostberliner Plattenbauten) gab es im Frühjahr 1998 über 33.000 Arbeitslose, denen 532 offene Stellen gegenüberstanden. Oder anders formuliert: auf eine freie Stelle kommen sechzig Arbeitslose. Bei den Ausbildungsplätzen sind es sogar über siebzig Jugendliche pro Lehrstelle. Wenn man die Familienangehörigen dazurechnet, sind ca. 50.000 Personen, d.h. ein Drittel der Gesamtbevölkerung, von Arbeitslosigkeit und zunehmend auch von Armut betroffen. Dabei ist Arbeitslosigkeit nicht die einzige (direkte) Ursache für Verarmung und sozialen Abstieg, aber bei weitem die wichtigste. Besonders erschreckend ist das zunehmende Abrutschen von Haushalten mit Kindern; ca. 3.000 Kinder im Alter bis zu drei Jahren leben von Sozialhilfe. Hier werden Armutskarrieren vorprogrammiert. Zu der psychischen Belastung, die die Arbeitslosigkeit eines Elternteils für die Familien bedeutet, kommt oft eine Ausgrenzung der Kinder in der Schule und im Freundeskreis, da sie an Freizeitaktivitäten nicht teilnehmen können, weil das Familieneinkommen nicht reicht. Alle diese Probleme beschränken sich nicht auf die Bewohner von Großsiedlungen. Aber hier müssen Lösungen gefunden werden, die die besonderen Wohnverhältnisse berücksichtigen.

Durch die hohe und sich verfestigende Arbeitslosigkeit entstehen typische Problemlagen, wie sie auch aus anderen westeuropäischen Ländern (z.B. die französischen banlieus) bekannt sind. Zwar gibt es acht Jahre nach der Vereinigung noch keine „Kultur der Abhängigkeit" über mehrere Generationen hinweg, aber die Ausbildung von sozialen Milieus jenseits des Arbeitsmarktes zeichnen sich ab. Typisch ist die Situation der im Folgenden skizzierten Problemgruppen:

  1. Ältere Arbeitslose mit langjähriger Berufstätigkeit in der DDR leiden bei Verlust ihres Arbeitsplatzes unter dem erlebten Funktionsverlust. Soziale Kontakte, die sich im oder über den Betrieb ergaben, gehen verloren. Die Folge ist verbreitet Resignation und der Rückzug

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    ins Private, bis zur völligen Isolierung. Oft kommt es auch zu Alkoholmißbrauch und vereinzelt zu Gewalt in der Familie.

  1. Jugendliche, die nach dem Schulabschluß keine Lehrstelle erhalten können, erwerben keine marktfähige Berufsqualifikation. Bei einer drastisch sinkenden Zahl von Arbeitsplätzen für Ungelernte stehen sie vor der Alternative, einen schlecht bezahlten Mc-Job ohne jede Aufstiegsperspektive anzunehmen, oder sich für den Einstieg in die Kriminalität zu entscheiden. Jugendtypische Delikte wie Sachbeschädigung, Autodiebstahl, Einbrüche, Bandengewalt steigen in den Großsiedlungen an.
  2. Viele Modernisierungsverlierer in den NBL neigen dazu, als Lösung für ihre Probleme eine Verdrängung von „Ausländern" zu fordern. Gerade die „Wendegeneration" der heute 30-50jährigen ist von den Ergebnissen der Vereinigung vielfach enttäuscht. Das gesellschaftliche und politische System der größeren Bundesrepublik wird als westdominiert wahrgenommen. Der gesammelte Frust über den vermeintlichen Betrug kanalisiert sich gegen Sündenböcke, die von den Medien und der politischen Diskussion angeboten werden: Ausländer im allgemeinen. Asylbewerber im besonderen, aber auch andere Randgruppen. Diese diffuse Xenophobie prägt das Bewußtsein der nachwachsenden Generation und führt zu einer zunehmenden Akzeptanz rechtsextremer und rassistischer Denkmuster. Dabei ist es nicht notwendig, daß der Einzelne persönlich negative Erfahrungen mit Ausländern gemacht hat. Es genügt oft das in den Medien transportierte Vorurteil. Angesichts des sehr geringen ausländischen Bewohneranteils von unter zwei Prozent haben viele Jugendliche noch nie engere Kontakte mit Ausländern gehabt. Die Folge dieser Vorurteile ist eine strikte Ablehnung weiterer ethnischer Durchmischung in den Großsiedlungen, bis zur Forderung nach der Vertreibung von hier lebenden Ausländern (i.d.R. Vietnamesen als ehemalige DDR-Vertragsarbeiter) und bis zu offener Gewalt gegen Ausländer.
  3. Die zunehmende soziale Differenzierung führt zur Ausbildung unterschiedlicher Lebens- und Konsumstile in der Platte. Die Folgen sind Neid auf den Konsum der Erfolgreichen, was zu einer Abgrenzung innerhalb der bis dahin funktionierender Hausgemeinschaften führen kann, bis hin zu der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Nachbarn.
  4. Der Zuzug von bestimmten Mietergruppen, vor allem Aussiedlern aus Osteuropa, aber auch anderen Modernisierungsverlierern über kommunale Belegungsrechte, führt zu sozialen Konflikten entlang einer oft ethnisch definierten Gruppenzugehörigkeit.
  5. Die fortschreitende soziale Entmischung verändert das als „normal" empfundene Verhalten in den Großsiedlungen in Richtung eines proletarischen Lebensstils. Dies kann zu einer ver

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      änderten Fremdwahrnehmung des Quartiers führen, bis hin zur Stigmatisierung als sozialer Brennpunkt.

    Für die Auflösung dieser Problemlagen gibt es kein geschlossenes Programm, das nur abgearbeitet werden müßte. Aus ökonomischem Kalkül wollen die Wohnungsgesellschaften eine soziale Entmischung verhindern/abschwächen und sind begrenzt bereit. Stabilisierungsmaßnahmen zu finanzieren. Die vom Miet- und Zivilrecht gesetzten Grenzen (außerordentliche Kündigung, Räumungsklage), reichen nicht aus, um Konflikte in den Großsiedlungen zu verhindern. Nur durch eine dezentrale Betreuung sind die Wohnungsgesellschaften frühzeitig in der Lage, auf die oben skizzierten Probleme einzugehen. Wie Vertreter der Gesellschaften während der Tagung darstellten, gibt es bereits gute informelle Kontakte zu den Sozialbehörden und Beratungseinrichtungen. Ein solches 'präventives Sozialmanagement' wird in der Zukunft ein zentrales Aufgabengebiet der Wohnungswirtschaft werden. Die Zahlen, die der Geschäftsführer der Hellersdorfer Wohnungsgesellschaft nannte, sprechen für sich: bei ca. 30.000 Mietern sind es jährlich ca. 500 Haushalte, die dauerhaft ihre Miete nicht bezahlen können, von denen die Mehrheit aber sozial stabil ist. Die Wohnungsgesellschaft stellt dann den Kontakt mit den Sozialbehörden her, wenn dieser noch nicht erfolgt ist. Insgesamt kommt es im Jahr zu ca. 200 Räumungen, in der Mehrzahl der Fälle wegen nicht zumutbaren Verhaltens, wie Belästigung anderer Mietparteien bis zu tätlichen Angriffen, oder wiederholte schwere Sachbeschädigung. Diese relativ niedrige Quote spricht für ein funktionierendes Krisenmanagement. Nach eigener Einschätzung werden die Wohnungsgesellschaften ihre Anstrengungen noch verstärken müssen, wenn sie einen sozialen Abstieg der Großsiedlungen verhindern wollen.


    © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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