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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 24] 4. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit in der Region Stuttgart Arbeitslosigkeit war in der Region Stuttgart und dem gesamten Bundesland Baden-Württemberg bis zum Beginn der jüngsten Wirtschaftskrise ein Problem von untergeordneter Relevanz. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, die seit vielen Jahren mit einer hohen Zahl von Arbeitslosen konfrontiert sind, war die Zahl der Erwerbslosen in Baden-Würt- [Seite der Druckausgabe: 24] temberg über Jahrzehnte konstant niedrig. Ende 1992 waren in Baden-Württemberg 85.000 Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Danach hat sich dieses Bild grundlegend gewandelt. Kein anderes Bundesland mußte 1993 unter den alten Ländern einen so hohen Verlust an Arbeitsplätzen beklagen wie Baden-Württemberg. In nur 12 Monaten gingen zwischen September 1992 und September 1993 fast 180.000 Arbeitsplätze verloren. Fast jeder vierte Arbeitsplatz, der bundesweit in der Industrie verloren ging, entfiel auf Baden-Württemberg. Ihren vorläufigen Höchststand erreichte die Arbeitslosigkeit im März dieses Jahres mit insgesamt 338.500 offiziell registrierten Arbeitslosen. Danach sank die Zahl wieder um knapp 10.000 Menschen auf 328.510 Erwerbslose. Im kommenden Winter wird sich zeigen, ob dies nur ein temporäres Abstoppen des Arbeitsplatzverlustes aufgrund der üblichen Frühjahrsbelebung war und dauerhaft mit einem weiteren Anstieg der Erbwerbslosenzahlen gerechnet werden muß. Auf die Region Stuttgart wirkte sich der Verlust von Arbeitsplätzen besonders dramatisch aus. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen seit Beginn der Rezession 1992 lag mit 99 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt von 86 Prozent. Im Mai 1994 lag die Arbeitslosenquote in der Region bei 7,1 Prozent, und damit nur noch 0,2 Prozentpunkte unter der durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 7,3 Prozent in Baden-Württemberg. Das gewerkschaftsnahe Institut für Medienforschung und Urbanistik (IMU) in Stuttgart prognostizierte in seiner Anfang Juni vorgelegten Studie über den Industriestandort Stuttgart eine allmähliche Stabilisierung des Arbeitsplatzabbaus. Es müsse jedoch auch in den kommenden Jahren mit einem weiteren Verlust von Arbeitsplätzen gerechnet werden. An dieser Entwicklung werde nach Auffassung der Wissenschaftler auch ein möglicher Wirtschaftsaufschwung nichts ändern, da es in Deutschland zu einer zunehmenden Entkoppelung von Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung gekommen sei. So plane beispielsweise Porsche nach Angaben des IMU bis zum Jahre 1997 eine Verdoppelung seiner Produktion; zusätzliches Personal will das Unternehmen dafür jedoch nicht einstellen. Die renommierte Prognos AG in Basel hat in einem Gutachten prognostiziert, daß sich der Arbeitsplatzabbau im verarbeitenden Gewerbe in den nächsten 15 Jahren drastisch fortsetzen werde. Allein um diesen Verlust zu kompensieren, müßten in anderen Branchen kontinuierlich neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Erschwerend komme in Baden-Württemberg hinzu, daß sich das Arbeitspotential durch Zuwanderung von Arbeitskräften weiter erhöhen wird und damit die Schere zwischen Arbeitssuchenden und offenen Arbeitsplätzen zukünftig noch weiter auseinanderklaffen wird. 4.1 Beschäftigungsstruktur und Beschäftigungsentwicklung in der Region Stuttgart Wo liegen die Gründe für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit seit 1992 in der Region Stuttgart? Welche spezifischen Besonderheiten kennzeichnet die Beschäftigungsstruktur hier, die die Region besonders anfällig für die Wirtschaftskrise hat werden lassen? Vergleicht man zunächst die sektorale Beschäftigungsstruktur in Baden-Württemberg mit der durchschnittlichen Beschäftigungsstruktur in Westdeutschland, dann wird deutlich, daß das Verarbeitende Gewerbe in Baden-Württemberg mit einem Anteil von 44 Prozent deutlich stärker vertreten ist als im Bundesdurchschnitt mit 36 Prozent. Noch gravierender ist der Unterschied im Vergleich des Anteils der Investitionsgüterindustrie an der Gesamtbe- [Seite der Druckausgabe: 25] schäftigung, denn während in Westdeutschland 19 Prozent der Beschäftigten in dieser Branche arbeiten, sind dies in Baden-Württemberg immerhin 27,6 Prozent. Abbildung 2 zeigt die sektorale Beschäftigungsstruktur in der Bundesrepublik (alte Länder) und in Baden-Württemberg im Jahre 1992:
Der relativ hohe Anteil der sehr exportorientierten Investitionsgüterindustrie erklärt die große Abhängigkeit der baden-württembergischen Wirtschaft von internationalen Konjunkturbewegungen. Die vergleichsweise weniger konjunkturabhängigen Dienstleistungsbereiche sind dagegen im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt unterrepräsentiert. In Abbildung 3 wird die Beschäftigungsstruktur in der Region Stuttgart (Mittlerer Neckar) mit dem entsprechendem Profil des übrigen Bundeslandes Baden-Württemberg verglichen. Insgesamt gesehen lassen sich für die Wirtschaftsbereiche Verarbeitendes Gewerbe, Bau, Handel, Verkehr und Nachrichten sowie Dienstleistungen keine signifikanten Unterschiede feststellen. Eine weitergehende Branchendisaggregation zeigt jedoch, daß der Raum Stuttgart deutlich niedrigere Beschäftigtenanteile in der Investionsgüterindustrie und bei den wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen aufweist, während im Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe, der Verbrauchsgüterindustrie sowie bedingt durch den Sitz der Landesregierung bei den gesellschaftsbezogenen Dienstleistungen ein höherer Beschäftigungsanteil vorliegt. [Seite der Druckausgabe: 26]
In Abbildung 4 wird die Beschäftigungsentwicklung in Westdeutschland und in Baden-Württemberg im Zeitraum von 1980 bis 1992 dargestellt. Bei diesem Vergleich ist auffallend, daß Baden-Württemberg mit 3,4 Prozent im sekundären und 32 Prozent im tertiären Sektor gegenüber dem Bund mit -1,7 Prozent bzw. 27,9 Prozent einen stärkeren Zuwachs an Arbeitsplätzen verzeichnet.
[Seite der Druckausgabe: 27] Abbildung 5 illustriert die Beschäftigungsentwicklung in der Region Stuttgart im Vergleich zum übrigen Bundesland Baden-Württemberg:
Bei diesem Vergleich wird deutlich, daß sich für die Region Stuttgart gegenüber dem Rest des Landes keine gravierenden Unterschiede in der schwachen Beschäftigungsentwicklung ergeben. Die Beschäftigungsentwicklung innerhalb der Region Stuttgart entspricht dabei der seit Beginn der 80er Jahre in Deutschland zu beobachtenden Tendenz, daß der stärkste Beschäftigungsanstieg bei den Dienstleistungen in den Umlandregionen der Großstädte stattfindet, gefolgt von den Randregionen. Dagegen verzeichnen die Kernregionen einen Beschäftigungsabbau im Produzierenden Gewerbe und im Vergleich zu Umland- und Randregionen geringe Beschäftigungszuwächse im Dienstleistungsbereich. So nahm die Beschäftigung im Produzierenden Gewerbe zwischen 1980 und 1990 in der Stadt Stuttgart um 4,6 Prozent ab, während die Beschäftigungszahlen im Umland (Kreise Ludwigsburg, Rems-Murr, Esslingen und Böblingen) um 9,2 Prozent stiegen. Die Beschäftigung im Bereich Handel und Verkehr reduzierte sich in Stuttgart um 5,3 Prozent und stieg im Umland um 22,6 Prozent. Und auch bei den sonstigen Dienstleistungen verzeichnete das Umland mit 35,9 Prozent gegenüber 21,1 Prozent einen deutlich höheren Anstieg. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß gemessen an der Beschäftigungsentwicklung innerhalb der Region Stuttgart in den Kernregionen bzw. Städten ein Deindustrialisierungsprozeß stattfindet, der wesentlich weiter vorangeschritten ist als im Umland. Der Mangel an Gewerbeflächen in den Kernregionen und die verbesserte Verkehrsstruktur begünstigen die Entwicklung im Umland und zunehmend auch in den Randregionen. Hinzu kommt, daß die Verbesserung in der Verkehrsanbindung eine leichtere Nutzung der Infrastrukturausstattung der Städte im Kultur- oder Bildungsbereich ermöglicht - Umland- und Randregionen gewinnen als Wohn- und auch als Arbeitsstätte an Attraktivität. [Seite der Druckausgabe: 28] 4.2 Strukturwandel zu kleineren Betriebsgrößen In den letzten 20 Jahren hat in Baden-Württemberg ein wirtschaftlicher Strukturwandel mit einer deutlichen Verlagerung zugunsten der kleineren Unternehmen stattgefunden. Die Betriebsgrößen in der Industrie sind immer kleiner geworden, wofür vor allem an die wachsende Verfügbarkeit flexiblerer Techniken ausschlaggebend gewesen ist. Dieser Strukturwandel war und ist mit einem enormen Arbeitsplatzumschlag verbunden. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beträgt der jährliche Arbeitskräfteumschlag in Baden-Württemberg 7,7 Prozent, d. h. im Durchschnitt wird in 13 Jahren jeder Arbeitsplatz einmal ausgetauscht. Dabei lassen sich erhebliche sektorale Unterschiede feststellen. Spitzenreiter beim Austausch von Arbeitsplätzen ist die Dienstleistungsbranche, in der statistisch bereits innerhalb von sieben Jahren der Bestand an Arbeitsplätzen vollständig umgewälzt wird - ähnliches gilt für den Bereich der Hochtechnologien. Für die Beschäftigungsentwicklung ist natürlich nicht nur die Expansion oder der Abbau von Arbeitsplätzen in bereits bestehenden Unternehmen von großer Bedeutung, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze, die durch Firmenneugründungen entstehen. Die Schaffung von Arbeitsplätzen in neugegründeten Unternehmen bedeutet dabei nicht automatisch, daß damit insgesamt zusätzliche Arbeitsplätze in einem Sektor oder einer Region entstehen. Denn ebenso kann es sich um einen Ersatz oder die Verdrängung vorhandener Arbeitsplätze handeln. Entscheidend ist daher, ob die Neugründungsaktivitäten in stark expandierenden oder eher schrumpfenden Wirtschaftszweigen stattfinden. Wissenschaftler gehen auf der Basis empirischer Studien in verschiedenen Industriestaaten davon aus, daß etwa die Hälfte aller zusätzlichen Arbeitsplätze in einer Region aus dem Saldo von Neugründungen und Schließungen entstehen. Die andere Hälfte setzt sich aus dem Saldo von Expansion und Schrumpfung bestehender Unternehmen zusammen. Zwar scheiden viele Neugründungen bereits nach wenigen Jahren wieder aus dem Markt aus; die hieraus resultierenden erneuten Beschäftigungsverluste werden aber, wie verschiedene in der Bundesrepublik durchgeführte Analysen zeigen, durch das Wachstum der überlebenden Neugründungen in etwa ausgeglichen. 4.3 Gründungsdynamik - Neugründung mittelständischer Unternehmen Für die Beschäftigungsentwicklung ist die Gründungsintensität von großer Bedeutung. Wissenschaftler bemängeln, daß es in Deutschland keine Datenquelle gibt, auf deren Basis die Gesamtzahl neugegründeter Unternehmen zuverlässig und zeitnah abgeleitet werden kann. Insofern ist es auch wenig verwunderlich, daß fundierte empirische Grundlagen über temporäre und regionale Unterschiede im Gründungsgeschehen in Deutschland bislang nur spärlich vorhanden sind. Die nachfolgenden Analysen zum aktuellen Gründungsgeschehen in Baden-Württemberg und der Region Stuttgart basieren auf dem Gründungspanel-West des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). In diesem Datenbestand sind alle vom Verband der Vereine Creditreform (VVC) - einer Kreditauskunftei - erstmals seit 1989 in den alten Bundesländern erfaßten Unternehmen enthalten. Zur Zeit sind hier etwa 307.000 Unternehmen erfaßt. Der VVC führt eine systematische Recherche verschiedenster Informationsquellen durch. Für die Erfassung von Neugründungen sind die wichtigsten Quellen das Handelsregister sowie die Recherchen, die auf Grund von Anfragen zur [Seite der Druckausgabe: 29] Kreditwürdigkeit von neugegründeten Unternehmen ausgelöst wurden. Dabei werden jedoch wegen der gesetzlichen Bestimmungen über die Handelsregistereintragung nicht alle Neugründungen vom VVC erfaßt und tauchen damit auch nicht im Gründungspanel des ZEW auf. Diese Ungenauigkeiten in der Erfassung betreffen in erster Linie die Freien Berufe und Kleinstunternehmen, also die sogenannten Kleingewerbebetriebe. Wissenschaftler des ZEW weisen aber darauf hin, daß im Erfassungsgrad keine regionalen Unterschiede bestehen. So ließen sich auf der Basis des Gründungspanels-West wegen der genannten Erfassungsungenauigkeiten zwar keine Aussagen über die absoluten Gründungszahlen erzielen, es könnten aber unverzerrte regionale und temporäre Vergleiche des Gründungsgeschehens erstellt werden. Außerdem habe das Gründungspanel zwei weitere wichtige Vorteile: Zum einen könnten alle originären Neugründungen von Übernahmen und Ausgründungen differenziert werden und zum anderen enthalte das Panel in seinem Datenbestand keine Scheingründungen. Bei derartigen Scheingründungen handelt es sich um Gründungen, die nicht mit dem Vorsatz erfolgen, eine wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, sondern lediglich der Nutzung von steuerlichen und anderen Vorteilen dienen. Beispielsweise wurde im Rahmen der Münchner Gründerstudie festgestellt, daß es sich bei ca. 20 Prozent der untersuchten Gewerbeanmeldungen um solche Scheingründungen handelte. Für die folgenden Analysen wurden nur originäre Neugründungen im Zeitraum von Januar 1989 bis Juni 1993 berücksichtigt. Außerdem wurden Unternehmen mit 50 oder mehr Beschäftigten ausgeschlossen, da es sich hierbei in der Regel um Zweiggründungen großer Unternehmen handelt. Abbildung 6 zeigt zunächst die sektorale Verteilung der Gründungen in der Bundesrepublik, in Baden-Württemberg und in der Region Stuttgart (Mittlerer Neckar), wie sie sich nach dem Gründungspanel des ZEW ergibt.
[Seite der Druckausgabe: 30] Wegen der erwähnten größenspezifischen Untererfassung sind bei dieser Tabellen weniger die absoluten Zahlen als vielmehr die ermittelten regionalen Unterschiede in der sektoralen Gründungsstruktur von Bedeutung. Dabei ergibt sich ein ähnliches Muster wie bei den sektoralen Beschäftigungsentwicklungen. Im Vergleich zum Bund weist Baden-Württemberg einen höheren Anteil im Verarbeitenden Gewerbe auf, wobei die Region Mittlerer Neckar leicht unter den Werten für Baden-Württemberg liegt. Ansonsten sind größere Unterschiede nur noch für den Wirtschaftszweig Handel festzustellen, bei dem der Raum Mittlerer Neckar signifikant unterhalb dem Bundesdurchschnitt liegt. In Abbildung 7 wird die Gründungsquote - definiert als die Anzahl der Gründungen bezogen auf die Zahl der vorhandenen Arbeitsstätten - in Baden-Württemberg relativ zur derjenigen des gesamten Bundesgebietes dargestellt. Durch die Division dieser beiden Gründungsquoten können nach Branchen differenziert regionale Differenzen in der Gründungsdynamik aufgezeigt werden. Dabei wird deutlich, daß die Gründungsraten in Baden-Württemberg in allen Wirtschaftszweigen unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Besonders eklatant ist diese Tendenz in den Bereichen Banken und Versicherungen sowie im Baugewerbe - letzteres eine ziemliche Überraschung im sprichwörtlichen Land der Häusle-Bauer.
Die zur Berechnung der Gründungsquoten verwendete Bezugsgröße Anzahl der bestehenden Arbeitsstätten hat jedoch den Nachteil, daß regionale Differenzen in der branchenspezifischen Größenverteilung der Arbeitsstätten zu Verzerrungen führen können. Aus diesem Grund haben die Wissenschaftler des ZEW die Gründungsraten ebenfalls mit den Beschäf- [Seite der Druckausgabe: 31] tigten als Bezugsgröße berechnet. Abbildung 8 zeigt wiederum die Quotienten, die sich aus der Division der branchenspezifischen Gründungsraten in Baden-Württemberg durch die entsprechenden Gründungsquoten des gesamten Bundesgebietes ergeben. Baden-Württemberg liegt auch in diesem Fall in der Relation zum Bundesdurchschnitt ungünstiger.
Durch einen Vergleich der in den Abbildungen 7 und 8 dargestellten Gründungszahlen lassen sich nun unmittelbare Rückschlüsse auf die Beschäftigungsstruktur erzielen. Demnach ist die durchschnittliche Arbeitsstättengröße bei den Dienstleistungen, Banken und Versicherungen sowie im Sektor Verkehr/Nachrichten in Baden-Württemberg kleiner als diejenige im Bundesdurchschnitt, während für das Verarbeitende Gewerbe der umgekehrte Zusammenhang gilt. Die Abbildungen 9 und 10 machen deutlich, daß die Region Stuttgart bei einem Vergleich der Gründungsraten mit Baden-Württemberg sowohl in Bezug auf die Arbeitsstätten als auch im Hinblick auf die Beschäftigten in den Bereichen Dienstleistungen und Handel signifikant unter dem Landesdurchschnitt liegt. [Seite der Druckausgabe: 32]
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[Seite der Druckausgabe: 34] Untersucht man die Gründungsdynamik in den Kreisen der Region Stuttgart, dann wird deutlich, daß insbesondere die Stadt Stuttgart eine sehr geringe Gründungsdynamik aufweist, gefolgt von Göppingen. Demgegenüber verzeichnet Böblingen bezogen auf die Anzahl der bestehenden Arbeitsstätten im Vergleich zum Landesdurchschnitt eine deutlich höhere Gründungsaktivität (Abbildung 11). Wie in Abbildung 12 dargestellt ist, ist dieses Ergebnis jedoch auf eine überdurchschnittliche Arbeitsstättengröße in diesem Kreis zurückzuführen. 4.4 Fazit Abschließend läßt sich festhalten, daß in der Region Stuttgart und ganz besonders in der Landeshauptstadt eine vergleichsweise geringe Gründungsdynamik vorliegt. Diese Situation ist im Hinblick auf die Arbeitsmarktproblematik in der Region von großer Bedeutung, da die erheblichen Arbeitsplatzverluste in den Großbetrieben nur durch eine gesteigerte Zahl von Neugründungen kompensiert werden können. Eine fundierte Analyse der Faktoren, die für diese geringe Gründungsdynamik verantwortlich sind, kann auf der Basis der vorliegenden Daten nicht geleistet werden. Hierfür wäre es notwendig, die spezifische Situation in den einzelnen Kreisen der Region genauer zu analysieren, um sie im Hinblick auf die einzelnen Standortfaktoren bewerten zu können. Anhand einer Projektion haben Wissenschaftler des ZEW am Beispiel der Stadt Stuttgart aufgezeigt, welche Bedeutung einigen Standortfaktoren im Hinblick auf die Gründungsintensität zukommen kann.
[Seite der Druckausgabe: 35] Für diese Projektion wurde ein multivariates ökonometrisches Modell erstellt, das auf Kreisebene für die Bundesrepublik (alte Länder) quantitative Informationen über den Einfluß einer Vielzahl von Variablen oder Charakteristika auf das Gründungsgeschehen liefert. Der linke Balken in Abbildung 13 zeigt die tatsächliche Gründungsquote in Stuttgart, die auf den Wert 100 indiziert ist. In den übrigen Balken ist jeweils dargestellt, wie sich die Gründungsraten in der Stadt Stuttgart ändern würden, wenn hier hinsichtlich einer bestimmten Determinante die gleichen Bedingungen vorliegen würden wie im Bodenseekreis, alle anderen Einflußfaktoren aber ihre tatsächlichen Werte behalten. Im Hinblick auf die Wirtschaftsstruktur läßt sich festhalten, daß die Region Stuttgart ebenso wie das Land Baden-Württemberg eine Dominanz des Investitionsgütergewerbes und damit eine besonders hohe Sensitivität gegenüber internationalen Konjunkturbewegungen aufweist. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß ein zunehmender Anteil der Wirtschaftsaktivitäten dieses Bereiches faktisch "Dienstleistungscharakter" hat, so daß die rein statistische Beobachtung sektoraler Beschäftigungsanteile nur im beschränkten Umfang Aussagen über die mit dem Strukturwandel einhergehenden Anforderungen an die Qualifikationsprofile der Arbeitnehmer ermöglicht. Spezifische Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen mit dem Ziel einer aktiven Beschäftigungspolitik setzen jedoch eine genaue Kenntnis derartiger struktureller Merkmale der Qualifikationsanforderungen bzw. Tätigkeitsprofile auf Unternehmensebene unabdingbar voraus. Entsprechende Daten sind bislang aber gar nicht oder nur in einem sehr begrenzten Umfang für wissenschaftliche Analysen verfügbar. Gleiches gilt - von den Städten abgesehen - für die aus regionalplanerischer Sicht wichtigen Daten wie beispielsweise die Zahl bislang nicht genutzter Gewerbeflächen. Die Schließung dieser empirischen Defizite ist nicht nur für eine differenzierte wissenschaftliche Analyse notwendig, sondern ist auch eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. 4.5 Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus Sicht der Gewerkschaften Angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist aus Sicht von Gewerkschaftsvertretern die Beschäftigungskrise das größte Problem für die Region Stuttgart und das Bundesland Baden-Württemberg und die Sicherung der bestehenden sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze die vorrangige Aufgabe der Politik. Gewerkschafter werfen den Politikern vor, die Gefahren für den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren dramatisch unterschätzt zu haben. Dies habe in der Konsequenz dazu geführt, daß das Land und die Region auf die jetzigen Probleme nicht vorbereitet ist. So habe der damalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, Lothar Späth, noch Mitte der 80er Jahre erklärt, Arbeitslosigkeit sei ein Phänomen der 80er Jahre, welches in den 90er Jahren von selbst wieder verschwinden werde. Nun besteht die Gefahr, daß dieser Fehler wiederholt wird. Deshalb dürfe der gegenwärtige Konjunkturanstieg und die minimale Entspannung am Arbeitsmarkt auf keinen Fall als ausreichend erachtet werden und zu einer beschäftigungspolitischen Abstinenz führen. Die Gewerkschaften fordern eine klare politische Prioritätensetzung und die Einleitung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. [Seite der Druckausgabe: 36] Nach Auffassung eines Gewerkschafters ist Vollbeschäftigung im Konstruktionsplan der Marktwirtschaft nicht vorgesehen und deshalb nur durch staatliche Intervention und eine Regulierung der Märkte erreichbar. Hierzu bedürfe es eines wirtschaftspolitischen Wertewandels: Vollbeschäftigung müsse wieder zum zentralen wirtschaftspolitischen Ziel der Politik werden. Es sei bezeichnend für die aktuelle Politik, daß der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Regierungserklärung vom September 1993 zum Thema "Standortsicherung in Baden-Württemberg" kein Wort zur Frage der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung in Baden-Württemberg gesagt hat. Noch deutlicher sei kürzlich der Vorsitzende der CDU-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Günther Oettinger, geworden, der erklärt hatte: "Ich glaube eher, daß Vollbeschäftigung ein Stichwort und eine Gewohnheit der Vergangenheit gewesen ist, und daß auch in Baden-Württemberg Vollbeschäftigung in Gegenwart und Zukunft nicht mehr erreichbar ist". Dieser offenen Abkehr vom politischen Ziel der Vollbeschäftigung müsse aus Sicht der Gewerkschaften energisch entgegengetreten werden. Als ein Schritt auf dem Weg zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung ist aus Sicht der Gewerkschaften eine Verbesserung der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte in den Betrieben und der Region notwendig und wichtig. Gerade in Zeiten massiver Arbeitsplatzverluste sei ein direkter Einfluß der abhängig Beschäftigten auf die Arbeitsplatzentwicklung notwendig. Außerdem würden Betriebsräte schon heute verstärkt die Funktion eines Co-Managements übernehmen. Diese Funktion sollte daher nach Auffassung der Gewerkschaften auch im Mitbestimmungsgesetz juristisch kodifiziert werden. Zur Stärkung der Konjunktur schlagen die Gewerkschaften eine zeitlich befristete Investitionszulage vor; ein Modell, auf das sich auch Gesamtmetall und die IG Metall geeinigt hätten. Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland sei außerdem ein wirksamer Schutz des Beschäftigungssystems gegen internationales Sozial-, Öko- und Wechselkursdumping, ohne daß hierbei zu protektionistischen Maßnahmen gegriffen werden dürfte. Der Welthandel müsse an die Erfüllung eines Grundstandards an Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen gebunden werden - eine Position, die kürzlich von DIHT-Chef Stihl und Politikern der FDP entschieden zurückgewiesen wurde. Stihl hatte erklärt, daß der freie Welthandel nach der GATT-Einigung jetzt nicht durch neue Kriterien wie Umwelt- und Sozialstandards gefährdet werden dürfe. Ein Gewerkschaftsvertreter bezeichnet diese Haltung als verantwortungslos. Es sei unerläßlich, daß alle Formen von Kinderarbeit, Sklaven- und Zwangsarbeit weltwirtschaftlich geächtet werden und ebenso alle Arten der Unterdrückung von Menschen- und Gewerkschaftsrechten sanktioniert würden. Diese Forderung würden nicht nur von deutschen, sondern auch von ausländischen Gewerkschaften erhoben. In einer gemeinsamen Resolution hätten sich Gewerkschaften aus den sogenannten "Motoren-Regionen" im April dieses Jahres in Stuttgart auf diese Prinzipien geeinigt. Zur praktischen Durchsetzung dieser Grundstandards müßten nun operable Konzepte erstellt werden. Denkbar wäre beispielsweise, daß die neu geschaffene Welthandelsorganisation WTO Informationen über Verstöße gegen diese Grundlagen sammelt. Als wirkungsvolle Maßnahmen gegen solche Verstöße wären dann unter anderem Handelssanktionen oder die Verweigerung von Krediten und Darlehen denkbar. [Seite der Druckausgabe: 37] Vom Land und den Kommunen fordern die Gewerkschaften eine Finanz- und Haushaltspolitik, die der Beschäftigungssicherung dient. So würde eine Personal- und Investitionspolitik, die Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor und in der Bauwirtschaft kostet, die Arbeitsmarktproblematik nur vergrößern. Die Politik der öffentlichen Hand ist daher für die Gewerkschaften unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten ausgesprochen widersprüchlich: So ständen den positiven Ansätzen in der Technologie- und Exportförderung in Baden-Württemberg die beschäftigungspolitisch sehr negativen Investitions- und Stellenkürzungen gegenüber. Im Vergleich zur Beschäftigungspolitik der Bundesregierung ständen das Land Baden-Württemberg und die Kommunen in der Region Stuttgart jedoch noch ausgesprochen gut da, denn die Beschäftigungspolitik der Bundesregierung sei gerade im Hinblick auf die restriktiven Einschnitte in die Arbeitsmarktpolitik der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit schlichtweg "desolat". Bei der Kritik an der Bundes- und Landespolitik sei sich die Gewerkschaft der Problematik der angespannten Haushaltslage durchaus bewußt. Leere Kassen könnten jedoch aus Gewerkschaftssicht nicht als Dauerausrede akzeptiert werden, da Arbeitslosigkeit allemal das größere Übel sei. Die Haushaltspolitik müsse daher einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik untergeordnet werden. Schließlich fordern die Gewerkschaften die Unternehmer auf, sich deutlich zu einer Produktivitäts- und Innovationsstrategie zu bekennen und nicht darauf zu spekulieren, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Niedriglöhne anzustreben. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001 |