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III. Neue Herausforderungen: Die "Neuen Wirtschaftlichen Fragen"

Seit der konservativen Wende bis heute, Mitte der 90er Jahre, haben sich die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung deutlich verändert. Wir stehen vor neuen ökonomischen, ökologischen, sozialen und internationalen Herausforderungen. Sie erzwingen neue Antworten: Industriepolitik kann heute dabei weniger denn je als Subventions- oder Branchenförderung begriffen werden. Eine moderne "strategische Wettbewerbspolitik" muß vielmehr zum Motor der Innovation werden.

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1. Globalisierung der Märkte

Mit der Aufhebung des Ost-West-Systemgegensatzes haben sich nicht nur die außenpolitischen, sondern auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geändert. Die Globalisierung der Weltwirtschaft relativiert den bisher dominierenden tri-polaren Merkantilismus. Dieser Globalisierungstrend wird durch die neuen Möglichkeiten der Telekommunikation noch beschleunigt. Die modernen Informations- und Kommunikationsmittel machen heute das möglich, was der Sony-Chef Morita einmal die "globale Lokalisierung" genannt hat. Er meinte damit eine dezentrale Produktion bei zentraler Steuerung in quasi transnationalen Unternehmen. In Zukunft ist nicht mehr das Label "Made in Germany" ausschlaggebend, sondern das Label "Made by BMW, by Mercedes, by Bosch oder by Siemens" - egal wo die Produkte dieser Unternehmen auf der Welt hergestellt werden. Aus dem Kampf um Absatzmärkte wird also in der Zukunft mehr und mehr ein Kampf um Standorte. "Wir durchleben eine Transformation, aus der im kommenden Jahrhundert neue Formen von Politik und Wirtschaft hervorgehen. Es wird dann keine nationalen Produkte und Technologien, keine nationalen Wirtschaftsunternehmen, keine nationalen Industrien mehr geben. Es wird keine Volkswirtschaften mehr geben" [ Fn.6: Robert B. Reich: Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Frankfurt 1993] . Die Weltwirtschaft befindet sich also in einem rasenden Globalisierungsprozeß und steuert auf eine quasi grenzenlose Weltwirtschaft zu [ Fn.7: Vgl. Kenichi Ohmae: The Borderless World. Power and Strategy in the Interlinked Economy, New York 1990] . Zugleich setzt eine

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Verlagerung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft in den asiatisch-pazifischen Raum ein. Allein in Asien werden im Jahr 2000 50 % der Menschen leben und es wird dort dann 36 % des Weltsozialprodukts hergestellt. Wenn die Exporte des Exportweltmeisters Deutschland heute aber immer noch zu 71 % nach Europa, aber zu knapp 5 % nach Asien gehen, dann bedeutet das nicht weniger, als daß Deutschland von dem sich vollziehenden Wandel der Weltwirtschaft in exorbitanter Weise betroffen sein wird [ Fn.8: Vgl. Horst Afeldt: Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entläßt ihre Kinder, München 1994] . Zur Erschließung von neuen Märkten benötigt ein Unternehmen Kundennähe und Marktnähe. Die jeweiligen Besonderheiten müssen bekannt sein und berücksichtigt werden. Die Unternehmen müssen "local content"-Auflagen erfüllen und spezifische Vertriebs- und Servicekomplexe bedienen können. Aus diesen veränderten Marktbedingungen ziehen international operierende Unternehmen die Konsequenz, nicht nur den Vertrieb und den Einkauf, sondern auch die Produktion zu internationalisieren, und zwar

  • mit Produktionsstätten innerhalb jedes Teilmarkts der Triade plus China als "4. Standbein",
  • mit einer Neuorganisation der Wertschöpfungskette in jedem Teilmarkt der Triade, wobei dort die Fertigung dem jeweils wirtschaftlich günstigsten Standort zugeschlagen wird.

Begünstigt wird dies dadurch, daß auf dem gegebenen Technisierungsniveau und mit einer insgesamt verbesserten Grundqualifikation insbesondere in den asiatischen Ländern die Mobilität gerade auch von Produktionsstandorten zunimmt. Im Zuge dieser Entwicklung wird sich die heute bekannte internationale Arbeitsteilung geradezu dramatisch verändern, und zwar mit durchaus ambivalenten Tendenzen:

  • Die Produktion kommt zu den Menschen: in dem Maß, wie tatsächlich in den regionalen Teilmärkten produziert wird, kann in weiten Teilen der Welt die Basis für eine eigenständige Entwicklung gelegt werden. Das gilt zumindest für Ostasien (Wachstumsregion Nr. 1) und für Mittel- und Osteuropa (Produktionsstandort für Westeuropa).

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  • Die Umwelt wird entlastet: es bietet sich die Chance, zumindest einen Teil des explodierenden Verkehrsaufkommens zu vermeiden. Schließlich ist es doch nicht sinnvoll, Pkw in der Bundesrepublik zu bauen und dann per Lkw, Zug und Schiff nach China zu transportieren. Die "globale Fabrik" [ Fn.9: Ernst U. von Weizsäcker: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, Darmstadt 1992] ist jedenfalls schon heute ökologisch nicht vertretbar und wird in Zukunft auch ökonomisch keine Vorteile bringen.

  • Der Weltmarkt für Investitionsgüter expandiert: mit der Herausbildung neuer industrialisierter Standorte entwickelt sich eine verstärkte Nachfrage in diesen Ländern insbesondere im Markt für Ausrüstungs- und Investitionsgüter. Gerade hier liegen auch die interessanten Zukunfts-Chancen für Deutschland als Systemanbieter. Gleichzeitig hat diese Tendenz aber auch negative Folgen:

  • Die Exportperspektive wird unsicherer: in dem Maße, in dem die Fertigung "vor Ort" stattfindet, vermindert sich das Fertigungsvolumen in den Ländern, die heute als Exporteure auftreten. Zumindest ist von einer zunehmenden Entkoppelung zwischen dem Wachstum des weltweiten Sozialprodukts und dem Exportvolumen auszugehen. Hiervon ist kein Industrieland so stark betroffen wie die Bundesrepublik: während der Export von Gütern ca. 27 % zum BIP beiträgt, liegen die vergleichbaren Werte für die USA bei 7 % und für Japan bei 10 %. Eine forcierte Internationalisierungsstrategie, z.B. zur Erschließung des ostasiatischen Markts, kann dies zwar in der Startphase kompensieren, nicht jedoch in der mittel- und langfristigen Perspektive.

  • Die Gestaltungsprobleme nehmen zu: nationale Instrumentarien zur Gestaltung dieses Prozesses greifen zunehmend kürzer, im Grunde ist selbst der Begriff "Volkswirtschaft" der Dimension der internationalen Verflechtung nicht mehr angemessen. Betrachtet man die Wirtschaftsordnungen komplexer Zivilisationen, so zeichnen sie sich allesamt durch gemischte Ordnungen aus, in denen das Teilsystem Wirtschaft nicht zur Gänze durch den Markt gesteuert wird. Die erhöhte Komplexität einer

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    globalisierten Weltwirtschaft erfordert ein ihr angemessenes Gestaltungsinstrumentarium. [ Fn.10: Vgl. Siegfried Katterle: Grenzen staatlichen Handelns in der Wirtschafts- und Strukturpolitik, a.a.O.]

  • Die Internationalisierung der Krise: alle Industrieländer leiden gegenwärtig unter einer Überproduktionskrise in den zentralen Industriebereichen (Kfz, Stahl, Elektrotechnik, Maschinenbau). Da auf die entwickelten Volkswirtschaften ca. 85% des Weltsozialprodukts entfallen, so muß man im Grunde von einer Weltwirtschaftskrise sprechen. Auf diesem Hintergrund etabliert sich weltweit ein Typus der Verdrängungskonkurrenz, um in sich verengenden Märkten möglichst große Anteile zu halten. Dieser Konkurrenz kann sich heute kein Land und kein Unternehmen entziehen.

  • Die Gefahr der Block-Polarisierung: kurz- und mittelfristig wächst das Gewicht der regionalen Handelsblöcke. Schon heute wächst der intra-Blockhandel und der intra-Konzernhandel schneller als der Welthandel. Für den realistischen Fall, daß die Konkurrenz um Standorte und damit um Entwicklungsperspektiven und soziale und ökologische Standards sich weiter zuspitzt, gewinnen die klassischen komparativen Kostenvorteile wieder an Bedeutung. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, daß trotz der Abschlüsse von GATT und Maastricht bilaterale Abkommen (z.B. Japan - USA, Japan - EG) in den Vordergrund treten mit all den Risiken bis hin zu Handelskriegen.
  • Die Funktionalisierung von Ländern und Regionen: der Drang der Unternehmen nach dem jeweils regional günstigsten Fertigungsstandort zur Realisierung der "Kostenführerschaft" in Verbindung mit der relativ einfachen Austauschbarkeit von Standorten stellt die Frage, welche realen Entwicklungskompetenzen und -chancen die Länder und Regionen erhalten. So sehen die Unternehmens- und die Politikstrategien für Osteuropa die Funktion eines reinen Fertigungsstandortes vor, der im Produktionsverbund vor allem mit der bundesdeutschen Industrie auf den Weltmarkt hin orientiert ist. [ Fn.11: Bericht der Zukunftskommission (Hrsg.: Landesregierung Baden-Württemberg, Leibinger/Seitz/Riester u.a.), Stuttgart 1993]

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  • Die wachsende Standortkonkurrenz: vor diesem Hintergrund wird die Konkurrenz um Absatzmärkte zunehmend eine Konkurrenz um Standorte, um Arbeitsplätze und auch um Sozialsysteme. Und die Ausgangspunkte liegen weit auseinander. Wir konkurrieren mit Ländern, in denen die frühindustrialisierten Lebensbedingungen eine Verbindung mit der Hochtechnologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts eingegangen sind.

John Maynard Keynes schrieb 1936: "Wenn aber die Nationen lernen können, sich durch ihre Inlandspolitik Vollbeschäftigung zu verschaffen, braucht es keine wichtigen wirtschaftlichen Kräfte zu geben, die bestimmt sind, das Interesse eines Landes demjenigen seiner Nachbarn entgegenzusetzen. Es würde immer noch Raum für internationale Arbeitsteilung und für internationale Anleihen zu geeigneten Bedingungen geben. Aber es gäbe keinen drückenden Beweggrund mehr, warum ein Land seine Waren einem anderen aufzwingen [...] sollte". [ Fn.12: John Maynard Keynes: Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Frankfurt 1936] Die Rahmenbedingungen sind heute sicherlich durch die Globalisierungsprozesse wesentlich komplizierter, eine einfache Nachfragesteuerung durch eine klassische "Deficit-spending-Politik" wäre - zumindest als nationaler Alleingang - zum Scheitern verurteilt. Aber das von ihm thematisierte Problem einer internationalen Arbeitsteilung, welche in Kooperation statt über Konkurrenz verläuft, ist bis heute ungelöst.

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2. Das Innovationsdilemma

Die Erfolgsstory der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist in den letzten 40 Jahren maßgeblich von der hohen Qualität der Produkte und von ihren innovatorischen Fähigkeiten geprägt worden. Das gilt insbesondere für den Fahrzeugbau, den Maschinenbau, die Elektroindustrie und die Chemie. Schon an dieser Aufzählung wird deutlich: die Stellung der Bundesrepublik in der Weltwirtschaft beruht nicht auf natürlichen Ressourcen-Vorteilen, sondern auf dem Know how, den Ideen und der Qualifikation der Menschen sowie auf einem effizienten System, durch welches Innovationen angeregt, ausgelöst, stabilisiert und vermarktet werden können. Wir sind - in der Begrifflichkeit des Harvard-Ökonomen Michael E. Porter - also kein "Ricardo-", sondern ein klassischer

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"Schumpeter-Standort". [ Fn.13: Michael E. Porter: Nationale Wettbewerbsvorteile. Erfolgreich konkurrieren auf dem Weltmarkt, München 1991] Dies muß zum Ausgangspunkt einer modernen Industrie- und Forschungspolitik gemacht werden. Gerade weil dieses Feld der Innovationsfähigkeit der Industrie, der Volkswirtschaft und der Gesellschaft von derart zentraler Bedeutung ist, sollen hier zunächst markante Probleme benannt werden, denen in der Neuformulierung der Politik Rechnung getragen werden muß.

Neben den Problemen des gesunkenen Stellenwerts der Forschungs- und Technologiepolitik ist eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahme der Technologieposition der Bundesrepublik notwendig als Voraussetzung zur Formulierung einer Strategie, mit welcher Zukunftsperspektiven eröffnet werden sollen. Porter kommt im Vergleich der Wettbewerbspositionen der wichtigsten Industrieländer zu dem Ergebnis: "Kein Land der Welt, auch Japan nicht, weist eine derartige Breite und Tiefe an Branchen mit einer starken internationalen Stellung auf. Deutschland besitzt zwar keine marktbeherrschende Position in großen Branchen, aber eine starke Position in sehr, sehr vielen Branchen". [ Fn.14: Michael E. Porter: Nationale Wettbewerbsvorteile. Erfolgreich konkurrieren auf dem Weltmarkt, München 1991] Diese Bewertung korrespondiert mit dem technologischen Spezialisierungsmuster, das zur Besetzung eines breiten Spektrums an höherwertiger Technologie geführt hat. In der aktuellen industriepolitischen Diskussion wird in Abgrenzung hierzu vielfach die schwache Position der BRD auf dem Feld der Spitzentechnik, insbesondere den Bereichen Informationstechnik, Mikroelektronik, Bio- und Gentechnik in den Mittelpunkt gestellt. [ Fn.15: Vgl. Herbert A. Henzler, Lothar Späth: Sind die Deutschen noch zu retten? Von der Krise in den Aufbruch, München 1993] Es kristallisieren sich deutlich zwei unterschiedliche strategische Optionen heraus:

  • entweder sich verstärkt auf den Bereich der Spitzentechnik zu konzentrieren, verbunden mit möglichen Verlusten im Bereich der höherwertigen Technologie und unter Inkaufnahme der Risiken in diesem Be-reich. [ Fn.16: Vgl. Konrad Seitz: Die japanisch-amerikanische Herausforderung. Deutschlands Hochtechnologie-Industrien kämpfen ums Überleben, Stuttgart 1994]

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  • oder sich nur gezielt in denjenigen Spitzentechnikbereichen zu engagieren, die zur langfristigen Stabilisierung der Position im Bereich der höherwertigen Technologie unabweisbar sind. [ Fn.17: Vgl. Frieder Meyer-Krahmer: Strategische Industrien im internationalen Vergleich, in: Werner Fricke (Hrsg.): Jahrbuch Arbeit und Technik 1992, Schwerpunktthema: Industriepolitik - Konzepte und Kontroversen, Bonn 1992]

Um diese Options-Alternativen bewerten zu können, müssen aber folgende Entwicklungstrends beachtet werden:

  • Der Trend zur Globalisierung gilt auch hier: die weltweite Verfügbarkeit von Know how, von technologischen Neuerungen, von Kapital und Fertigungstechnik läßt die klassischen komparativen Kostenvorteile (Lohn, Steuern, Abschreibungen) an Bedeutung gewinnen. Damit verbunden ist ein deutlich verkürztes Innovationstempo: in einigen Segmenten z.B. der Elektrotechnik liegt der Lebenszyklus eines Produkts schon unter 1 Jahr.

  • Dennoch ist in den Segmenten für höherwertige und für Spitzentechnologie ein deutlich wachsender Aufwand für einzelne Innovationen und ihre Umsetzung in Fertigungstechnik zu beobachten. Die notwendigen Investitionen etwa in eine Fabrik zur Produktion von Speicherchips erreichen Größenordnungen, die selbst für finanzstarke Großunternehmen wie z.B. Siemens allein nur schwer realisiert werden können.

  • In wichtigen Teilmärkten, insbesondere in der Elektroindustrie und dem Maschinenbau, kommt es in der Folge von konjunkturellem Einbruch, Innovationswettlauf und dem Kampf um Marktpositionen zu einem beschleunigten Preisverfall. Dies gilt nicht nur für Massengüter, sondern zunehmend auch für höherwertige Produkte, die bislang in relativ stabilen oberen Preissegmenten angesiedelt waren.

  • In den USA spricht man in diesem Zusammenhang zu Recht vom "first-mover-advantage". Das heißt, daß nur der erste, der eine neue Technologie auf den Markt bringt, daran verdienen kann. Im Wettlauf um diese "leader-position" wird das Innovationstempo immer schneller, und die "Verlierer" stehen entweder vor Investitionsruinen oder bedürfen dauerhafter Subventionen.

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  • Hinter diesem Einzelphänomen steckt letztlich, daß insbesondere diejenigen Wachstumsmärkte, welche auf eine ökologische Erneuerung gerichtet sind, sehr stark öffentlichen Charakter haben: man denke etwa an die Bereiche Telekommunikation, Umwelt, Verkehr und Energie. Sie bewegen und entwickeln sich nicht autonom, sondern bedürfen der öffentlichen Mobilisierung, Koordinierung und Regulierung.

  • Zu Recht wird in der aktuellen Standortdiskussion in der Bundesrepublik betont, daß ein Hochkostenland mit einem hohen sozialen und ökologischen Niveau perspektivisch nur Bestand haben kann, wenn es gelingt, auch in der Zukunft innovative Produkt- und Beschäftigungsfelder zu besetzen, die international auch zu hohen Preisen abzusetzen sind. Miegel spricht hiervon "Nestern exklusiver Produktion". [ Fn.18: Meinhard Miegel: Die arbeitslose Republik. Streitgespräch mit Rudolf Hickel, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/1993] Es ist jedoch absehbar, daß der Lebenszyklus eines Fertigungsstandortes mit dem Lebenszyklus des jeweiligen Produkts immer enger verbunden wird: z.B. fertigt IBM in einer Fabrik in der Regel auch nur eine Generation von Speicher- und Anwendungschips. Die Arbeitsteilung erhält so auch über die Technologieentwicklung eine stark labilisierende Komponente, welche die Standortkonkurrenz beschleunigt.

Es bleibt als Resümee: Ohne grundlegende Innovationen wird weder eine ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft noch eine Sicherung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Standards realisierbar sein. Aber ein Erreichen dieser Ziele wird sich nicht im Selbstlauf einstellen. Es bedarf hier einer enormen Industrie- und technologiepolitischen Anstrengung, die technologisch Machbares und gesellschaftlich Wünschenswertes miteinander kombiniert.

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3. Das Beschäftigungsdilemma

Die Unternehmen reagieren auf die oben skizzierten veränderten Umfeldbedingungen mit einer neuartigen Rationalisierungsoffensive. Sie zielt darauf, kurzfristig die in den letzten Jahren zu verzeichnenden Probleme auf der Ko-

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stenseite zu lösen und damit mittelfristig die Position der bundesdeutschen Industrie im weltweiten Konkurrenzkampf zu verbessern. Zielvorgabe hierfür ist im Grunde branchen- und betriebsgrößenübergreifend eine Kostensenkung von 30 % für die nächsten 2 bis 3 Jahre.

Die zentralen Komponenten dieser Rationalisierung, welche von der Wissenschaft als "systematische" oder "ganzheitliche Rationalisierung" bezeichnet wird, sind:

  • Eine gezielte Ausrichtung der Unternehmensaktivitäten auf den Weltmarkt. Als zentrale Parameter dienen dabei die Standortpolitik zur Erschließung von Märkten, die Realisierung von möglichst niedrigen Einkaufspreisen bei gleichzeitiger Reduktion von Währungskrisen und die Realisierung einer Kostenführerschaft im jeweiligen Marktsegment. Unter anderem R. Simons [ Fn.19: Vgl. Rolf Simons: Neue Konkurrenzen und strategische Ausrichtungen, in: Die Mitbestimmung, 1/94] hat überzeugend aufgezeigt, daß insbesondere die Märkte, in denen die bundesdeutsche Industrie ihre Stärken hat, als "reife Märkte" angesehen werden müssen. Reife Märkte sind aber gekennzeichnet durch geringeres Wachstum, stärkeren Wettbewerb um Marktanteile, Konzentration des Wettbewerbs auf Kosten und Service und sinkende Branchengewinne. [ Fn.20: Vgl. auch Michael E. Porter: Nationale Wettbewerbsvorteile, a.a.O.] Statt auf Produktführerschaft zielen die Strategien in solchen Märkten auf Kostenführerschaft.

  • Ein zentraler Hebel zur Umsetzung dieses Ziels besteht im sog. "Bench-marking", einer Methode, über die einzelne Stationen der Produkterstellung und des Vertriebs sowie die einzelnen Standorte nicht nur unternehmensintern, sondern mit den jeweiligen Konkurrenten hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit verglichen werden. Dies korrespondiert mit einer starken Funktionalisierung und Spezialisierung der Standorte, mit einer Fokussierung der gesamten Unternehmensaktivitäten auf wenige Kerngeschäftsfelder und mit einer verstärkten internationalen Kooperation sowohl innerhalb wie auch zwischen Konzernverbünden. Praktische Konsequenz hieraus ist eine Form der Arbeitsteilung, die etwa für die deutschen Zentralen überwiegend "headquarter-Funktionen" wie For-

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    schung, Entwicklung, Logistik u.ä. vorhält, während die Produktion in den neuen mittel-osteuropäischen Marktwirtschaften angesiedelt wird.

  • Ein weiteres Instrument ist in der Neuorganisation von kompletten Wertschöpfungsketten und der Beschaffungspolitik zu sehen: nicht nur das einzelne Unternehmen, sondern die flexible Kombination von Spezialisten werden als Quelle von Rationalisierungspotentialen angesehen. Im Ergebnis wird sich die heutige Zuliefererlandschaft dramatisch verändern: eine kleine Spitze wird als Systemzulieferer seine Position verbessern können, ca. 1/3 wird eine stabile Position als Teilespezialist behalten, aber über die Hälfte der klassischen Zulieferbetriebe sind im Prinzip gefährdet. Dies wird noch durch die Zunahme von Kooperationen im Einkauf z.B. zwischen Mercedes-Benz, BMW und Porsche beschleunigt, wodurch die Teilevielfalt bezogen auf die jeweilige Branche deutlich abnimmt.

  • Wichtig ist auch eine Veränderung der betrieblichen Abläufe und Hierarchien. Es wird immer deutlicher, daß die Methoden des Taylorismus, welche sich ja durch ein tiefes Mißtrauen in die Beschäftigten (Leistungskontrollen, enge Vorgaben etc.), eine extreme Zergliederung von Einzelvorgängen, eine starke Hierarchisierung von Entscheidungsstrukturen und durch eine Unterordnung oder gar den Ersatz des Menschen durch automatisierte Prozesse auszeichnen, nicht in der Lage sind, den heutigen Anforderungen gerecht zu werden. Flexibilität, Qualitätsansprüche, Kleinserien statt Massenproduktion und die Notwendigkeit ständiger Innovation von Produkten und Abläufen erfordern das Know how der Beschäftigten, ihre Qualifikation, ihre Kooperation und Beteiligung zu entwickeln und zu fördern. Es erfordert neue Arbeitsabläufe und - im eher technischen Bereich - eine neue Zusammenarbeit bei der Produktentwicklung. Allerdings gibt es noch eklatante Umsetzungsschwächen der bundesdeutschen Industrie: Während die Begrenztheit des Taylorismus seit den 70er Jahren durch die Gewerkschaften kritisiert wird, seit Anfang der 80er Jahre Kern/Schumanns Buch "Das Ende der Arbeitsteilung" in der industriepolitischen Debatte

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    zum Standard wurde, [ Fn.21: Vgl. Horst Kern, Michael Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisie rung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1986] und seit Ende der 80er Jahre auch die Managementtheorie und -literatur dominiert, zeigt die betriebliche Realität immer noch ein erschreckendes Bild. Erst jetzt beginnen vor allem Unternehmen mit alten, kostenträchtigen Mega-Strukturen den Umbau: Schon heute sind bei diesen Unternehmen durchschlagende Erfolge zu erzielen. Insbesondere die Automobilhersteller Mercedes-Benz und VW scheinen in sehr kurzer Zeit ihre Kostenbelastung grundlegend verringert und die Produktivität stark erhöht zu haben. [ Fn.22: Vgl. Michael Schumann: Trendreport Rationalisierung, Frankfurt 1994]

  • Die Kehrseite dieser Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit besteht in der dramatisch hohen Arbeitslosigkeit. Wir stehen heute vor dem doppelten Paradox, daß wir trotz verbesserter Wettbewerbsfähigkeit und einer leichten Konjunkturerholung mit mehr Arbeitslosigkeit und weiteren Wohlstandsverlusten rechnen müssen. Verschärft wird dieser immense quantitative Einbruch mit all seinen gravierenden Nebenwirkungen z.B. auf die Funktionsweise der sozialen Sicherungssysteme durch die sich immer deutlicher abzeichnenden qualitativen Momente:

    • von Arbeitslosigkeit betroffen sind zunehmend nicht nur die "klassischen" Risikogruppen (ungelernte Arbeiter, Ausländer, Jugendliche etc.), sondern zunehmend auch qualifizierte Beschäftigte. Dies hat seine Ursache zum einen in den Rationalisierungsprozessen gerade in Forschungs-, Entwicklungs- und Leitungsbereichen und zum anderen in der Verlagerung auch qualifizierter Tätigkeiten in "Billiglohnländer". So läßt z.B. Siemens-Nixdorf seine Software zunehmend in Indien entwickeln.

    • der Hoffnungsträger "Dienstleistungen" entwickelt sich selbst krisenhaft. Mit der Reduzierung von Fertigungsfunktionen verlieren eine Reihe "produktionsnaher Dienstleistungen" (z.B. Steuerung, Transport, Logistik) ihren Standortvorteil und folgen der verlagerten Produktion. Viele Unternehmen im Bereich der Finanzdienstlei-

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      stungen befinden sich selbst in einer gravierenden Rationalisierungswelle und bauen Arbeitsplätze ab. Gleiches gilt auch für den gesamten öffentlichen Sektor, der zwar für die Mobilisierung von Zukunftsberufen z.B. im Pflege- oder Umweltbereich eine Schlüsselfunktion hat, diese aber angesichts der Finanzkrise kaum wahrnehmen kann. Außerdem setzt Dienstleistungskonsum ein entsprechend hohes Einkommen voraus. Das gilt sowohl für die Individuen wie auch für die Volkswirtschaft insgesamt. Fourastiés Hoffnung auf den Dienstleistungssektor und Daniel Bells Traum von der Dienstleistungsgesellschaft wird gerade auch durch die Beispiele aus den USA und Großbritannien nicht unterstützt: ein großer Teil der dort neu geschaffenen Arbeitsplätze sind minderqualifizierte Tätigkeiten in prekärer sozialer Stellung mit nur kurzer Dauer. Es entwickelt sich ein neues gesellschaftliches Problem, das der "working poor": Die Arbeit ist dort keine ausreichende Grundlage zur Finanzierung des Lebensunterhalts, weshalb die Menschen entweder in Mehrfachbeschäftigungen gezwungen werden oder abhängig von staatlichen Sozialtransfers bleiben.

Die Folgewirkungen dieser ganzheitlichen Rationalisierung sind beträchtlich und erfordern eine Politik, die darauf abzielt, die betriebliche Rationalisierung mit einer Perspektive gesellschaftlichen Fortschritts zu verbinden. Eine Standortsicherung, die lediglich auf den Bereich der technischen Innovation sowie auf die Senkung der Faktorkosten abzielt, mag zwar dazu beitragen, die Konkurrenzposition der bundesdeutschen Industrie auf den Weltmärkten zu stabilisieren. Die hohe Arbeitslosigkeit verlangt aber zugleich eine aktive ökonomische und soziale Bewältigung des Strukturwandels. Bei über 20 Millionen Arbeitslosen in Europa muß die notwendige "marktwirtschaftliche Beschäfti-gungspolitik" [ Fn.23: Karl Schiller: Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft. Kritische Anmer kungen zur deutschen Vereinigung, Berlin 1994] jetzt auch durch eine aktive staatliche Beschäftigungspolitik ergänzt werden, wenn das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht auch die demokratische Stabilität unserer Gesellschaften gefährden soll.

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4. Das Partizipationsdilemma

Die modernen Rationalisierungs-Konzepte erfordern ein hohes Maß an Mitwirkung und Beteiligung der Mitarbeiter an der Erreichung der Unternehmensziele. Das schließt insbesondere eine kontinuierliche Verbesserung der Produkte und der Produktionsprozesse ein. Traditionell waren aber die Beschäftigten gerade von solchen Fragestellungen abgekoppelt, es muß also die Beteiligungspraxis erst gelernt werden, sowohl von "oben" wie auch von "unten". Hier erschließt sich ein erheblicher Qualifizierungsbedarf vor allem im sozialen und kommunikativen Bereich. In der betrieblichen Praxis ist festzustellen, daß eine Übereinstimmung des einzelnen mit den Unternehmenszielen einfach vorausgesetzt wird. "Lean Production" [ Fn.24: James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos: Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie aus dem Massachusetts Institute of Technology, Frankfurt/M. 1991] darf nicht einfach nur als "schlanke Produktion" übersetzt werden. Die japanischen Erfinder dieser neuen Produktionsweise bei Toyota verstehen darunter durchaus eine Kulturrevolution in der Produktion. Es sollen nämlich damit vier Dogmen gebrochen werden: Das Dogma der formalen Hierarchien, das Dogma der Top-down-Entscheidungen, das Dogma der horizontalen Zergliederung und das Dogma des Taylorismus. Im übertragenen Sinn stellt sich ein ähnliches Problem auf gesellschaftlicher Ebene: die Lösung der komplexen Zukunftsaufgaben (z.B. Verkehr, Energie, Infrastruktur, Ökologisierung) erfordert die Zustimmung und Beteiligung der Bevölkerung an Zieldefinition und Zielerreichung. Sowohl im Betrieb wie auch in der Gesellschaft kann eine bloß formale oder passive Beteiligung schon zu suboptimalen Ergebnissen führen (z.B. im Müll- und Entsorgungsbereich), eine aktive Gegnerschaft kann die Effizienz- und Innovationspotentiale vollends untergraben. Auch für die Rolle der Regionen liegt hier ein Schlüssel. Zwar steigt im Zuge der Globalisierung die relative Funktion von Regionen gegenüber den Nationalstaaten an; im Gegenzug zielen aber die betrieblichen Umstrukturierungsprogramme darauf, die Standortflexibilität zu erhöhen, die Bindungswirkung von Regionen nimmt dementsprechend ab. Regionale Entwicklung wird zur Aufgabe, die durch die regionalen Akteure erst noch gelöst werden muß. Die Realisierung der Innovationspotentiale kann offenkundig nur über eine zunehmende qualifizierte Partizipation erreicht werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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