FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 2]

II. Zur Genesis der Industrie- und Technologiepolitik in Deutschland

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland finden sich eine Reihe von industriepolitischen Ansätzen und Konzepten, welche sich in fünf "Bilder" der Nachkriegsentwicklung einteilen lassen. Gliederungskriterium sind hierbei die jeweiligen zentralen gesellschaftlichen Entwicklungsschritte der Bundesrepublik Deutschland, die sich in identitätsstiftenden Leitbildern manifestierten und nicht nur in der Retrospektive existieren, sondern auch jeweils eine spezifisch mobilisierende Funktion für die Entwicklung besaßen.

Diese Phasen - als Wiederaufbau, Modernisierung, Demokratisierung, Gegenreform und Umverteilung sowie Besitzstandsgesellschaft und Innovationskrise gekennzeichnet - markieren den Wandel des Verhältnisses zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat, wobei die Übergänge erwartungsgemäß nicht abrupt, sondern fließend verlaufen. Es entsteht eine "Bilderfolge" mit aufstrebender Tendenz, die gleichermaßen die zunehmende Komplexität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen (mit einerseits entsprechend wachsendem und andererseits abnehmendem, auf jeden Fall aber modifiziertem Interventionsbedarf), die zunehmende Emanzipation der Subjekte, aber auch die ökonomischen wie ökologischen Grenzen unserer heutigen modernen Industrie-, Informations- und Konsumgesellschaft verdeutlicht.

1. Bild: Der Wiederaufbau

Die wichtigsten Stichworte sind: Marshall-Plan, Wiederaufbau und Marktwirtschaft. Hauptaufgabe der Politik dieser Zeit war es, die Rekonstruktion der Industriegesellschaft zu betreiben, Produktion und Handel wieder funktionsfähig zu machen, die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern zu beheben, die Arbeitslosigkeit abzubauen sowie die hemmenden Regularien der Kriegs- und Nachkriegszeit zu beseitigen. Die Instrumente der Industriepolitik beschränkten sich im wesentlichen auf die finanziellen Mittel des Marshall-Plans und die Übernahme industriellen Vermögens durch den Bund. Die finanziellen Ressourcen wurden zur Konversion der vorwiegend militärisch ausgerichteten Betriebe hin zu einer Produktion ziviler Güter eingesetzt. Ein wichtiges Instrument staatlicher Investitionslenkung stellte 1952 die Auflage einer Zwangs-Anleihe dar, deren Mittel als Investitionen in Engpaß-Industrien Verwendung fanden.

[Seite der Druckausgabe: 3]

"Die Regierung gab den Zeichnern der Anleihe nicht etwa Staatsanleihen, vielmehr wurden Arrangements getroffen, um den Zeichnern Papiere derjenigen Konzerne zuzuteilen, denen die Mittel zuflössen, wobei sich freilich die Gläubiger ihre Schuldner nicht aussuchen konnten". [ Fn.2: Siegfried Katterle: Grenzen staatlichen Handelns in der Wirtschafts- und Struk turpolitik, in: Harry W. Jablonowski/Rolf Simons (Hrsg.): Strukturpolitik in Ost und West. Zwischen Steuerungsbedarf und ordnungspolitischem Sündenfall, Köln 1993]

Priorität besaßen die Grundstoffindustrie, der Energiesektor und der Wohnungsbau, wo sich ebenfalls eine öffentliche Regulierung vollzog. Der Energiesektor und die Wohnungswirtschaft wurde zumeist auf kommunaler Ebene mit gemeinwirtschaftlichen Strukturen verbunden. Im Bereich der Technologiepolitik existierte in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine differenzierte politische Förderung der technischen Entwicklung, da angesichts der stark wachsenden Nachfrage Produkt- und Verfahrensinnovationen lediglich eine sekundäre Rolle spielten.

Der Aufbau von Forschungskapazitäten in den Universitäten und Forschungseinrichtungen wie die bereits 1948 gegründete Max-Planck-Gesellschaft bildeten den Schwerpunkt erster staatlicher Technologieförderung. Bereits in dieser ersten Stunde der bundesdeutschen Technologiepolitik begann sich das bis heute verbreitete lineare Modell technologischer Innovation zu etablieren. Dieses Modell ging von der Annahme einer linearen Sequenz aus Grundlagen-Forschung, Produkt-Entwicklung und Produkt-Vermarktung aus.

Ab Mitte der 50er Jahre bildete sich die Förderung technologischer Großprojekte in den Bereichen der Kernforschung sowie der Luft- und Raumfahrt heraus. Vor allem in der Förderung der Nukleartechnologie zeigte sich eine völlig neue Dimension in der Interessen-Verknüpfung von Wirtschaft, Wissenschaft und Staat, wobei hier der Staat die eindeutig dominierende Position besetzte. Die politische Zielrichtung der Nuklearforschung ergab sich zunächst keineswegs nur aus ökonomischen Notwendigkeiten, sondern auch aus außenpolitischem Kalkül, sich mit Hilfe einer ausgebauten zivilen Nuklearindustrie eine machtpolitische Option offenzuhalten. Allerdings war zur damaligen Zeit auch ein großer, unkritischer Glaube an die technische Machbarkeit der Zukunft nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften weit verbreitet. So findet sich zum Beispiel in dem geistes-

[Seite der Druckausgabe: 4]

wissenschaftlichen Standardwerk von Ernst Bloch "Prinzip Hoffnung" folgende Vision: "Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft Atomenergie in der blauen Atmosphäre des Friedens aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln". [ Fn.3: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Tübingen 1989] Dieser naive Fortschrittsglaube beherrschte damals die Technikdebatte.

Die sozialen Auswirkungen der beginnenden Konzentrationsprozesse in der Landwirtschaft und im Bergbau, wo sich gegen Ende der 50er Jahre eine starke Technisierung und Rationalisierung vollzieht, können noch über anhaltend hohe Wachstumsraten abgefangen werden. Industrie- und technologiepolitisch bleiben diese ersten strukturellen Krisenerscheinungen weitgehend unbeachtet.

2. Bild: Die Modernisierung

Die Stichworte für diese von Anfang der 60er bis Anfang der 70er Jahre dauernde Dekade sind "Wohlstand für alle", "Soziale Symmetrie", aber auch der Ost-West-Konflikt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wurde zunehmend vom Welthandel und der internationalen Arbeitsteilung abhängig. Ein diesen Internationalisierungstendenzen entsprechender Gestaltungsbedarf wurde damals vor allem von Ludwig Erhard noch verneint. Erhards Politik des völligen Planungsverzichts und der Beschränkung auf einzelne Maßnahmen mußte in der ersten großen Nachkriegsrezession Mitte der 60er Jahre dann auch scheitern.

Den aufbrechenden Strukturproblemen versuchte die Große Koalition dann mit einer aktiven staatlichen Konjunkturpolitik und dem wirtschaftlichen Konzept der "Globalsteuerung" von Karl Schiller, durch sektorale Stabilisierung und Subventionsprogramme sowie über Reformen im institutionellen Bereich zu begegnen. Im Rahmen dieser Modernisierung des staatlichen Interventionsinstrumentariums definierte sich das Ziel einer ausgebauten Industrie- und

[Seite der Druckausgabe: 5]

Technologiepolitik, mit der die langfristige Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Industrie erreicht werden sollte. Dies legitimierte die Ausweitung der Förderung auf den Mittelstand sowie verstärkte Maßnahmen zur regional ausgewogenen Verteilung von Produktion und Einkommen.

Es begann eine Verlagerung von der Förderung einzelner großtechnologischer Anlagen hin zur institutionellen Förderung der für die zukünftige industrielle Entwicklung als relevant erkannten Technologiefelder wie im Bereich der Querschnittstechnologien (z.B. Werkstoffe), Schlüsseltechnologien (z.B. Mikroelektronik) und technischen Systeme (z.B. Verkehr).

3. Bild: Die Demokratisierung

Für die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung begannen die 70er Jahre mit einer teilweise euphorischen Hoffnung auf eine demokratischere, emanzipierte Gesellschaft. Und mit der Hoffnung auf eine gerechte und friedfertige Welt: Ein besseres Leben für alle. Für die Alten mit einer besseren Ruhestandsabsicherung, für die Jugendlichen, die unabhängig von der finanziellen oder sozialen Situation im Elternhaus gleiche Chancen auf Bildung und Aufstieg erhalten sollen, und für die Frauen durch eine entdiskriminierte Arbeits- und Lebenswelt. Auf den Punkt gebracht wurden diese an die SPD herangetragenen Hoffnungen mit Willy Brandts Motto "Mehr Demokratie wagen".

Mitte der 70er Jahre wurde vom ersten Kabinett Helmut Schmidts in der sozial-liberalen Koalition der Versuch unternommen, die Industrie- und Technologiepolitik zu einem "Instrument der aktiven Strukturpolitik" (Hauff) weiterzuentwickeln. Industriepolitik wurde somit ein wesentlicher Ansatzpunkt für das Bestreben, eine umfassende Modernisierung nicht nur im technischen Sinne, sondern im Sinne einer fortschreitenden Demokratisierung und Partizipation auf allen Ebenen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Flankiert wurden diese industriepolitischen Modernisierungsbemühungen vor allem durch Initiativen in den Bereichen Bildungs-, Wissenschafts- und Sozialpolitik. Geprägt von dem Versuch, ein Modernisierungskartell aus Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften zu schaffen, rückte neben der Technologiepolitik die Arbeitsmarktpolitik als ein Reflex auf erste - für die Beschäftigung negative - Ra-

[Seite der Druckausgabe: 6]

tionalisierungseffekte in das Zentrum der Industriepolitik. Den tariflichen Rationalisierungsschutzabkommen von 1973 folgte ein Jahr später auf politischer Ebene das Forschungs- und Förderprogramm "Humanisierung des Arbeitslebens" (HdA) der sozial-liberalen Koalition. Neben den bereits bestehenden Aktivitäten zur Förderung im Bereich Entwicklung wurde die Einführung und Verbreitung neuer Technologien als neue Aufgabe erkannt. Die Innovationsförderung wie auch der Technologietransfer wurden zunehmend mit regionalen und sektoralen Industriepolitiken verknüpft [ Fn.4: Vgl. Gerhard Bräunling: Ansätze, Konzepte und Instrumente einer staatlichen Technologiepolitik, in: Hans-Hermann Hartwich (Hrsg.): Politik und die Macht der Technik, Opladen 1986] . Dank der staatlichen Innovationsförderung in Klein- und Mittelbetrieben wurde jetzt auch die rasche und breite Anwendung neuer Produkte oder Verfahren forciert. Die umfassenden industriepolitischen Modernisierungsbestrebungen werden jedoch schon bald durch die negativen Auswirkungen ökonomischer Krisenerscheinungen (Ölkrise als Synonym eines ungesteuerten Wachstums) sowie die sich ausprägenden fundamentalen Wandlungsprozesse und Brüche im Normen- und Wertesystem in breiten Teilen der Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt. So wird die Gleichsetzung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt zunehmend kritisch hinterfragt. Neue soziale Bewegungen wenden sich gegen Teile der Großtechnologie wie Atomkraftwerke oder Waffensysteme gleichermaßen. Die sich daraus immer weiter verbreitende Technik-Skepsis richtete sich dann auch gegen die Anwendung der Kommunikations- und Informationstechnologien auf ordnungspolitischer Ebene. Der notwendige Persönlichkeitsschutz sollte mit Hilfe eines neuen Bundesdatenschutzgesetzes gesichert werden. Der sich anbahnende Prozeß des Normen- und Wertewandels und die zunehmend kritische Einstellung der Menschen zu technologischen Entwicklungen, als erste Symptome eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, erhöhte den Legitimationsdruck für die damalige Industrie- und Technologiepolitik. Verstärkt wird die Legitimationskrise durch die restriktiven Bedingungen und die fiskalischen Auswirkungen der beiden Wirtschaftskrisen, die den verschärften Widerspruch zwischen ökonomischen Krisenprozessen und den mangelhaften bzw. fehlenden nationalen und internationalen Regulierungsmechanismen offenbart.

[Seite der Druckausgabe: 7]

4. Bild: Gegenreform und Umverteilung

Der gesellschaftliche Disput um Regulierung versus Deregulierung spiegelt die Konfliktlinien innerhalb des bestehenden konsensorientierten korporatistischen Modells von Staat, Kapital und Arbeit wider und markiert die sich verändernde Ausgangssituation dieses "Modernisierungskartells". Blieben in der sozial-liberalen Dekade positive Initiativen einer gesteuerten industriellen, technischen und volkswirtschaftlichen Entwicklung in den Ansätzen stecken, so war diese Reform-Blockade im wesentlichen das Resultat kontroverser Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen strukturpolitischen Konzepte zur Bewältigung der ökonomischen Krisenerscheinungen zwischen dem SPD-geführten Bundesforschungsministerium und dem von der FDP geführten Wirtschaftsministerium, nicht aber ein Bruch in den Entwicklungslinien staatlicher Industrie- und Technologiepolitik als Instrumente einer vorausschauenden Strukturpolitik. Der Bruch mit dieser auf gesellschaftlichen Ausgleich orientierten Industrie- und Technologiepolitik vollzog sich erst 1982 mit dem Beginn der konservativ-liberalen Regierungskoalition. Während das Wirtschaftswunder-Land 1980 noch als "Modell Deutschland" weltweites Ansehen genoß, entbrannten in den Folgejahren heftige Verteilungskämpfe. Gleichzeitig stieg die Staatsverschuldung. Die dringend notwendigen fiskalischen Konsolidierungsanstrengungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt und seines Finanzministers Hans Matthöfer trafen in der SPD auf Kritik und bei den Gewerkschaften sogar auf "Widerstand". Der damit verbundene Verlust an Handlungsfähigkeit der Regierung wurde vom damaligen Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff zum Anlaß genommen, die sozial-liberale Koalition zu verlassen. Allerdings war dieses nur ein Grund für den Regierungswechsel der FDP. Aufgrund der in der SPD und in der Öffentlichkeit kontrovers geführten Nachrüstungsdebatte hatte der damalige FDP-Vorsitzende und Außenminister Genscher seine schon länger bestehenden Kontakte zum Oppositionsführer Kohl intensiviert und systematisch auf einen Regierungswechsel hingearbeitet. Die Regierung Kohl/Genscher hat dann 1983 zunächst die Nachrüstungs- und die Haushaltskonsolidierungs-Entscheidungen getroffen. Sie hatte aber nicht - wie die sozial-liberale Koalition zu Beginn ihrer Regierungszeit - ein "Zukunfts-Programm für Deutschland". Als sich dann schon 1983/84 die konjunkturelle Lage in Deutschland deutlich verbesserte, wurde nicht mehr regiert, sondern nur noch verteilt. Deutschland hat in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch und sozial über seine Verhält-

[Seite der Druckausgabe: 8]

nisse gelebt. Die unbescheidene Selbstgefälligkeit setzte sich auch noch fort, als es mit der deutschen Wiedervereinigung um das größte Aufbauprojekt der Nachkriegsgeschichte ging: Die "blühenden Landschaften" in Ostdeutschland sollten aus der Westentasche der Westdeutschen bezahlt werden. Und damit die Wahlen in Ostdeutschland gewonnen werden konnten, wurde die Währung im Verhältnis 1 :1 umgetauscht. Das heißt, eine ganze sozial-ökonomische Entwicklungsgeschichte wurde im Zeitraffer vollzogen.

5. Bild: Besitzstandsgesellschaft und Innovationskrise

Jetzt erlebt das wirtschaftliche Erfolgsmodell Deutschland Überraschungen: Die englische Regierung wirbt mit Anzeigen in deutschen Wirtschaftsmagazinen für den Standort Großbritannien. Ein japanischer Automobilhersteller wirbt mit dem Slogan "Made for Germany". Und erst als die Entscheidung von Texas Instruments kurz bevorsteht, in Dresden eine Chip- und Asic-Fabrik zu bauen, entschließt sich auch Siemens dazu, die für eine solche Forschungs- und Fertigungsstätte vorgesehenen enormen Fördermittel der EU, der Bundes- und der Landesregierung selber in Anspruch zu nehmen. Solche und andere Beispiele machen deutlich, daß Deutschlands Nimbus als "Wirtschafts-Wunderland" nach dem Krieg und als "Modell Deutschland" 1980 heute verblaßt ist. Deutschland hat in den letzten Jahren ökonomische und technologische Vorsprünge und damit Anteile an den Innovationsmärkten von morgen verloren. Daß Deutschland nach der Wiedervereinigung von Platz 5 der Weltliga des Bruttosozialprodukts pro Einwohner auf Platz 16 hinter Italien und Österreich zurückgefallen ist, hängt natürlich in dieser numerischen Dramatik mit der Addition zweier völlig unterschiedlicher Volkswirtschaften zusammen. Und dennoch stimmt Biedenkopfs These, daß Deutschland auch ohne die Wiedervereinigung vor ähnlichen wirtschaftlichen Problemen stehen würde. Die deutsche Vereinigung hat zunächst nur die Hochkonjunktur durch die ostdeutsche Nachfrage nach Westwaren stabilisiert. Damit wurde sozusagen die Inkubationszeit der Krise nur verlängert. In Deutschland hat in den letzten Jahren so etwas wie ein "Gesetz des bremsenden Vorsprungs" gewirkt: Wir hatten eine Spitzenstellung und sind zurückgefallen, weil wir uns zu sicher fühlten. Die "Weiter so Deutschland"-Mentalität hat zu einer struktur-konservativen Haltung geführt, die jeder Veränderung und damit auch jeder Innovation skeptisch gegenübersteht. In Deutschland hat sich deshalb in den letzten

[Seite der Druckausgabe: 9]

Jahren ein Besitzstands- und Anspruchsdenken ausgebreitet, das eine egoistische Selbstverwirklichungshaltung prägt und Gemeinwohlinteressen ignoriert. "Wirklich neu in den sog. kapitalistischen Ländern ist das Phänomen, daß die Zufriedenheit und die sich daraus ergebende Überzeugung heute die Haltung der Mehrheit und nicht die einer Minderheit widerspiegelt". Dies führt dazu, daß wichtige Zukunftsprojekte kaum noch eine Chance haben, "weil eben die sofort anfallenden Kosten und Steuern genau zu beziffern sind, niemand aber genau zu sagen vermag, wem genau entsprechende Maßnahmen in der Zukunft nützen werden. Die Generation, die investiert, ist nicht die, die profitiert. Warum sollte man für Leute, die man gar nicht kennt, bezahlen? Diese Form aus Zufriedenheit geborener Ignoranz gewinnt zunehmend Einfluß auf unser soziales Leben" [ Fn.5: John K. Galbraith: The Culture of Contentment, London 1992] . Hier liegt auch eine der entscheidenden Ursachen dafür, daß Deutschland auch in der Forschungs- und Technologiepolitik zurückgefallen und deshalb auf dem Feld der Innovationspolitik zu einer "lame duck" geworden ist. Es herrscht tiefes Unverständnis in Wirtschaft und Wissenschaft über den geringen Stellenwert, den die Forschungs- und Technologiepolitik für die jetzige Bundesregierung hat. Der Anteil des Forschungsetats am Gesamthaushalt wurde allein in den letzten sieben Jahren um real fast 30% gesenkt, sein Anteil beträgt heute gerade noch 1,9%. Investitionen für den Hochschulbau, die Finanzierung der Max-Planck- und Fraunhofer-lnstitute, die Hochschulausbildung wie auch das Berufsausbildungssystem werden zurückgestellt. Deutschland wird nicht systematisch auf die Industrien, Infrastrukturen und Technologien des 21. Jahrhunderts vorbereitet. Dieses wiederum hat dazu geführt, daß in Deutschland heute 6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze fehlen, daß 4 Millionen Arbeitslose registriert sind und es inzwischen in Deutschland 3 Millionen Sozialhilfeempfänger und fast 1 Million Obdachlose gibt. Diese Krisenauswirkungen überfordern die Sozialversicherungssysteme. Die hausgemachte Krise fesselt Deutschland ausgerechnet in einer Zeit des fundamentalen Wandels der Weltwirtschaft. Diese Entwicklungsgeschichte der Industrie- und Technologiepolitik in Deutschland bildet den ordnungspolitischen Hintergrund für die in einer völlig veränderten Weltwirtschaft jetzt notwendige "strategische Wettbewerbspolitik".


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

Previous Page TOC Next Page