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2. Arbeitsplätze, Produktivität und Einkommen in Deutschland

Nach dem auf der OECD-Statistik basierenden Vergleich des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zwischen „ausgewählten Industrieländern" sind lediglich die USA nicht von dem Trend wachsender Arbeitslosigkeit und zurückgehender Beschäftigung erfaßt. In allen anderen Staaten gibt es - mit Ausnahme Italiens - seit 1991 kräftig steigende Arbeitslosenzahlen. Bei der Beschäftigungslage ist die Situation differenzierter, hier haben Belgien, Frankreich und Österreich den Beschäftigungsstand von 1991 gehalten, die Niederlande und Japan verbessern können.

In der Bundesrepublik Deutschland ist das Vollbeschäftigungsziel seit Anfang der 70er Jahre nicht mehr erreicht worden; seit den 70er Jahren hat sich eine Sockelarbeitslosigkeit von Rezession zu Rezession aufgebaut, die auch während der Aufschwungphasen nicht abgebaut wurde. Alle Arbeitsmarktstudien zeigen, daß Langzeitarbeitslosigkeit auch endogen produziert wird, also auch durchaus ein sich selbst verstärkender Effekt ist. In der Ökonomie ist dieser Mechanismus als Hystertsis [Fn. 1: Die Hysteresisdebatte glaubt die Persistenz der Massenarbeitslosigkeit darauf zurückführen zu können, „daß es keine gleichwertige Arbeitslosenquote gibt, die langfristig, nach vorübergehender Störung, wieder erreicht wird, sondern daß die vorherrschende Arbeitslosenquote ihren eigenen langfristigen Gleichgewichtswert beeinflußt. Nach einem adversen Schock mit ansteigender Arbeitslosigkeit kehrt die Arbeitslosenquote nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurück, sondern tendiert zu einem höheren Gleichgewicht hin." Arne Meise: Beschäftigung und Wachstum in der Bundesrepublik 1970 - 1990 - einige Bemerkungen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des DGB (WSI), Diskussionspapier Nr. 2/August 1993, S. 5] bekannt, als die sich selbstverstärkende Arbeitslosigkeit durch Langzeitarbeitslosigkeit. Das Mis-match, wonach Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt immer weniger zueinander passen, stellt hingegen kein gravierendes Problem für den deutschen Arbeitsmarkt dar.

Die offizielle Arbeitslosenquote hat sich 1996 mit rund 4 Millionen Arbeitslosen bei ca. 10 % eingependelt - de facto besteht ein Angebotsüberschuß von etwa 6 Millionen Arbeitssuchenden. Der Zuwachs der Erwerbstätigkeit ist in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in Deutschland und in Europa insgesamt ganz dramatisch hinter dem der USA zurückgeblieben. Er betrug zwischen 1970 und 1992 in den USA 49%, in

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den jetzigen Ländern der Europäischen Union 9%, in Westdeutschland 11%.

Der langfristige Anstieg der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland ist also keineswegs durch einen Rückgang der Erwerbstätigkeit zustande gekommen. Auch Deutschland hat langfristig, jedenfalls in dem genannten Zeitraum, einen Erwerbstätigkeitszuwachs gehabt, wenn auch in Zyklen. Die alte Bundesrepublik erlebte 1992 den Höhepunkt der Erwerbstätigenzahl in der westdeutschen Geschichte mit 29,5 Millionen Erwerbstätigen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland ist also nicht auf langfristig sinkende Erwerbstätigkeit, sondern vor allem auf den Anstieg des Arbeitskräfteangebots zurückzuführen (seit 1973 um 2,7 %), insbesondere durch die höhere Beteiligung von Frauen, aber auch durch Zuwanderungen (Spätaussiedler, Asylbewerber, Familiennachzügler, EU-Inländer im Rahmen der Freizügigkeit), wodurch seit 1983 ein Anstieg von mehr als zwei Millionen Erwerbspersonen entstand. Die Arbeitslosigkeit ist also auch darauf zurückzuführen, daß das Arbeitsplatzangebot mit dem Zuwachs des Arbeitskräfteangebots nicht Schritt gehalten hat, auch wenn es in den 80er Jahren einen Zuwachs von drei Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen und Anfang der 90er Jahre einen weiteren Beschäftigtenzuwachs durch die Sonderkonjunktur Deutsche Einheit bis 1993 gab. Seit 1993 ist jedoch ein stärkerer Rückgang der Erwerbstätigenzahlen zu registrieren, seit dem Herbst 1995 auch in den neuen Bundesländern. Von 1991 bis 1994 gab es in Deutschland einen Rückgang bei den beschäftigten Arbeitnehmern von 33,1 auf 31,4 Millionen bei einem gleichzeitigem Anstieg der Arbeitslosenzahl von 2,6 auf 3,7 Millionen.

Allerdings handelt es sich bei der ostdeutschen Beschäftigungsentwicklung seit 1990 um ein Sonderproblem. Der massive Beschäftigungseinbruch von knapp zehn Millionen Erwerbstätigen auf wenig mehr als sechs Millionen Erwerbstätige in drei Jahren ist einer der massivsten Einbrüche der Erwerbstätigkeit in der Geschichte überhaupt, die auf die schockartige Transformation der ostdeutschen Ökonomie, einschließlich der Währungsunion, zurückzuführen sind.

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Aber trotz der Unvergleichbarkeit der hinter uns liegenden Beschäftigungsentwicklungen in West- und Ostdeutschland muß man, wenn man in die Zukunft blickt, selbstverständlich West- und Ostdeutschland zusammen betrachten. Und die Zukunftsperspektive ist dann, unter Status quo oder Status quo-ähnlichen Bedingungen, wenig ermutigend, wenn man z.B. die Zahlen aus der Prognose der Prognos AG von 1993 zugrunde legt, in der mehrere Szenarien der Wirtschaftsentwicklung dekliniert und für die Arbeitsmarktentwicklung durchgerechnet wurden. Wählt man ein mittleres Szenario, das ausgeht von einem jährlichen realen Wirtschaftswachstum in Westdeutschland von 2% und in Ostdeutschland von knapp 10% sowie geringfügiger Arbeitszeitverkürzung, läßt sich im Jahr 2000 eine Arbeitsplatzlücke erwarten, die kaum geringer als heute ist (sechs bis sieben Millionen fehlende Arbeitsplätze).Verlängert man dieses Szenario bis zum Jahr 2010, wird sich die Arbeitsplatzlücke nur auf vier Millionen reduzieren. Und die registrierte Arbeitslosigkeit wird dann immer noch mehr als 2,5 Millionen betragen. Es kommt erschwerend hinzu, daß die Annahmen dieser mittleren Variante der Prognose sich eigentlich schon jetzt als zu optimistisch erwiesen haben. Im ersten Quartal 1996 hatten wir in Ostdeutschland sogar ein geringeres Wirtschaftswachstum als im Westen gehabt, nämlich gar keines. Und auch schon in den letzten zwei Jahren davor lag die Wirtschaftsentwicklung unter den Prognos-Annahmen.

Allerdings läßt sich feststellen, daß die Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Westdeutschland langfristig positiv verlaufen ist, obwohl das gesamtwirtschaftliche Arbeitszeitvolumen seit den 50er Jahren rückläufig ist. Von 1960 bis 1980 ging z. B. das in der Gesamtwirtschaft in der Erwerbsarbeit verbrachte Zeitvolumen von 56 auf 47 Mrd. Stunden zurück, also um 16%. Trotzdem ist die Zahl der Erwerbstätigen bis 1992 um 2,5 Mio. gewachsen. Wir haben es also zu tun mit sinkender Arbeitszeit je Erwerbstätigem, was auch heißt, ohne Arbeitszeitverkürzung in allen möglichen Formen, inklusive der Ausweitung von Teilzeitarbeit, hätte es keinen Zuwachs der Erwerbstätigkeit gegeben. Oder anders ausgedrückt: Die Produktivität je Erwerbstätigenstunde ist in der Bundesrepublik meist rascher gestiegen als die gesamtwirtschaftliche Leistung, das Bruttoinlandsprodukt. Folglich haben wir eben ein langfristig sinkendes Arbeitszeitvolumen gehabt. Das Wirtschaftswachstum ist also aus-

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schließlich in Produktivitätssteigerung gegangen und hat das Arbeitszeitvolumen gesamtwirtschaftlich nicht erhöht.

Beschäftigungsverluste insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe in Höhe von minus 19 % von 1970 bis 1993 konnten durch Zuwächse in manchen Dienstleistungssektoren (teilweise bis zu 54%) nicht kompensiert werden. Im Jahre 1970 betrug in Deutschland der Anteil der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor 43%, inzwischen liegt er bei knapp über 60%.

Zwischen der Stärke des privaten Dienstleistungssektors und den Lohndifferentialen in der Gesamtwirtschaft gibt es einen engen Zusammenhang, d.h., daß Länder mit geringen Lohndifferentialen einen - in der Regel - schwach entwickelten privaten Dienstleistungssektor haben. In diesen Ländern ist es relativ teuer, sich Dienstleistungen zu kaufen, während in den anderen Ländern, und dafür steht das Modell USA, es eine ganze Reihe von Personen mit hohem Einkommen gibt, die sich relativ billige Dienstleistungen kaufen können. Die Länder mit den geringen Lohndifferentialen und entsprechend schwachem privaten Dienstleistungssektor haben zum Teil dies dadurch zu kompensieren versucht, daß sie die öffentliche Beschäftigung ausgebaut haben, und zwar mit hohen öffentlichen Abgaben, die ihrerseits oft die Lohndifferentiale geschmälert und die Chancen für private Dienstleistungen eingeschränkt haben. Das sind, als Paradebeispiel, dann eher die skandinavischen Länder.

Danach stehen sich sozusagen zwei Dienstleistungsmodelle gegenüber, nämlich das Modell der USA mit großen Lohndifferentialen und einem sehr bedeutungsvollen und rasch expandierenden privaten Dienstleistungssektor, und andererseits, jedenfalls in der längerfristigen Vergangenheit, typischerweise das schwedische Modell mit geringen Lohndifferentialen, hohen öffentlichen Abgaben und hoher öffentlicher Beschäftigung. Die Bundesrepublik gehört in keine der beiden Kategorien. Sie hat niedrige Lohndifferentiale und entsprechend relativ wenige private Dienstleistungen und sie hat hohe öffentliche Abgaben, aber dennoch eine relativ geringe öffentliche Beschäftigung, da der öffentliche Sektor sehr transfer-intensiv ist (öffentliche Ressourcen eher in den Konsum als

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in die Beschäftigung lenkt). Ähnliches gilt zum Beispiel auch für die Niederlande oder für Belgien. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß Deutschland einen beschäftigungspolitisch relativ unbefriedigenden Mittelweg zwischen den Modellen USA und Schweden gegangen ist. Viele Analysen deuten auch darauf hin, daß Dienstleistungen sich nicht unabhängig vom industriellen Sektor entwickeln, daß also die relativ schlechte Entwicklung der Industriebeschäftigung nicht ohne Folgen für den Dienstleistungssektor geblieben ist. Dies zeigt sich am Beispiel der westdeutschen Ballungsregionen. Es gibt einen linearen Zusammenhang, der darauf hindeutet, daß dort, wo der industrielle Sektor noch einigermaßen stabil geblieben ist oder sogar expandiert hat, auch die Dienstleistungen gewachsen sind und umgekehrt, negative Entwicklungen in beiden Sektoren auch zusammenfallen. Die produktionsnahen Dienstleistungen, die auch oft als der Motor der Beschäftigung gelten, machen etwa ein Fünftel des gesamten Dienstleistungssektors aus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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