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6. Die europäische Perspektive - Ansätze einer gemeinsamen europäischen Beschäftigungspolitik

Abschließend richtete ein Vertreter des Europäischen Parlaments die Aufmerksamkeit auf die beschäftigungspolitischen Implikationen des europäischen Integrationsprozesses.

Der für das Ende des Jahrzehnts in Aussicht genommene einheitliche Wirtschafts- und Währungsraum verlangt von den Mitgliedstaaten einen grundsätzlichen Anpassungsprozeß ihrer nationalen Fiskal- und Wirtschaftspolitiken, um die Erfüllung der Eintrittskriterien in das einheitliche Währungssystem sicherzustellen.

Die Tiefe der zurückliegenden Rezession und die davon ausgegangene erneute Arbeitsmarktkrise haben die Regierungen unter einen schwerwiegenden Rechtfertigungsdruck gesetzt und den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit an die erste Stelle ihrer Agenda gesetzt. Die weiteren Integrationsschritte werden von den Mitgliedstaaten eingehend auf ihre möglichen oder zu befürchtenden Auswirkungen auf die nationale Beschäftigungslage überprüft. Die Angst vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und damit vor dem Verlust von Arbeitsplätzen regiert die nationalen Sozial- und Umweltpolitiken nun auch unter den zusätzlichen europapolitischen Implikationen. Von daher scheinen auch Sozial- und Umweltdumping-Strategien in den schwächeren Ländern der EU aussichtsreich, sich Produktivitätsbereiche und Beschäftigungsstrukturen zu sichern.

Die Integrationsschritte der EU scheinen unter dem Einfluß der Alarmzustände an den Arbeitsmärkten eine gegenläufige Tendenz zu nationalen Egoismen auszulösen. Dem kann nur eine erfolgreiche, aber vor allem gemeinsame Beschäftigungsstrategie auf der Ebene der EU entgegenwirken, die - wie es der jüngste EU-Beschäftigungsbericht für 1995 fordert - den Weg in den einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum flankieren soll.

Die Schritte zu einem sozialen Integrationsprozeß, der die wirtschaftliche Integration mit dem notwendigen breiten Fundament unterfüttern soll, waren vor dem Maastrichter Vertrag dürftig und langwierig. Das Einstimmigkeitserfordernis hatte neben vielen anderen auch die sozialpoliti-

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schen Unterschiede der Mitgliedstaaten deutlich hervortreten lassen. Aus dieser Zeit sind die Widerstände der konservativen Regierung Großbritanniens gegen jegliche europäische Sozialpolitik bekannt, die jahrelang als sozialpolitische Blockade wirkte.

Nach Wegfall des Einstimmigkeitserfordernisses im Maastrichter Vertrag und seinem Protokoll über die Sozialpolitik, konnten diese Hindernisse beseitigt werden, da nun sozialpolitische Entscheidungen unter Ausschluß Großbritanniens möglich sind. Eine ganze Reihe von Maßnahmen kann sogar mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden.

Auch weiterhin lassen sich die Fortschritte zu einem sozialen Integrationsprozess nicht vom Krebsgang der widerstreitenden Interessen lösen. Dies zeigt sich insbesondere am torsohaft gebliebenen Komplex der Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Der Binnenmarkt hatte neben dem Kapital- und Güterverkehr auch das Niederlassungsrecht der EU-Bürger liberalisiert, um die Perspektive eines EU-weiten Arbeitsmarktes zu eröffnen. Dies setzt jedoch die gegenseitige Anerkennung von beruflichen Qualifikationen voraus, von der zur Zeit noch sehr wenig zu erkennen ist. Da die Entscheidungskompetenzen auf diesen Feldern sehr verteilt sind, ist der Abwehr unliebsamer Konkurrenz durch die Betonung der Nichtvergleichbarkeit der Qualifikationsstandards Tür und Tor geöffnet. Dabei grenzen die kulturellen und sprachlichen Barrieren die Mobilität ohnehin ein, so daß auch eine mutigere Anerkennungspraxis in diesem Bereich keine umfangreichen Migrationswellen auslösen würde.

Eine zunehmende Arbeitnehmermobilität hat auch für die Niedriglohn-Länder Nachteile, die sich aus unterschiedlichen Lohn- und Sozialstandards zwischen Hoch- und Niedriglohn-Ländern ergeben. Die Ausdünnung der Arbeitsmärkte der Niedriglohn-Länder kann zu vermehrtem Lohnerhöhungsdruck führen, der einen doppelt negativen Effekt auf ihre Entwicklungschancen hat: Einerseits verteuert er die arbeitsintensiven Produktionsstrukturen und stellt ihre Rentabilität infrage, zum anderen gefährdet nachlassende Qualität den unionsweiten Absatz. In den Hochlohnländern entsteht umgekehrt Druck auf den Arbeitsmarkt und auf die Lohnstrukturen, der die Verhandlungspotentiale der Gewerkschaften einengt und die Sozialsysteme aufweicht. Einer vollen Arbeitskräftemobilität scheint also erst sinnvollerweise ein Anpassungsprozeß der Produktionssysteme und Sozialstandards vorausgehen zu müssen.

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Eine Gefahr ernsten Ausmaßes ist die Entsendung von Arbeitnehmern für Dienstleistungszwecke in andere EU-Staaten geworden. Hier werden nicht Arbeitskräfte, sondern komplette Arbeitsverhältnisse mit ihren Vertrags- und Sozialstandards von einem Mitgliedstaat in einen anderen exportiert, um die billigeren Arbeitskräfte der Niedriglohn-Länder unter nahezu uneingeschränkter Dispositionsfreiheit der Leiharbeit in den Hochlohn-Ländern verfügbar zu machen, und alle wirksamen Mobilitätsbarrieren übersprungen. Die Probleme traten bisher vorwiegend im Baugewerbe auf, da hier eine breite Auffächerung von Projekten in Unter- und Nebenaufträge traditionell ist, und die Spielräume für Preise und Kosten sich verengt haben. Prinzipiell sind sie jedoch auch in EU-weiten Industrien und Konzernen denkbar, die ihre Fertigungstiefe weiter verringern, indem sie Aufträge an Subunternehmer vergeben oder aber selbst ausländische Tochterunternehmen gründen.

Eine diesbezügliche Entsenderichtlinie der EU sollte das Prinzip von "gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" etablieren. Sie ist an den widerstreitenden Interessen der Entsende- und der Zielländer gescheitert. Auch die derzeitige Bundesregierung steht dieser Richtlinie ablehnend gegenüber, weil sie die Ausnutzung sozialer Wettbewerbsvorteile als normalen Bestandteil des Standortwettbewerbs ansieht. Eine Verflechtung der Lohnstrukturen und Sozialsysteme auf diese Art ist jedoch völlig inakzeptabel, da sie nach weitverbreiteter Auffassung zu einem weitreichenden Anpassungsprozeß nach unten führt.

Diesen negativen Konnotationen der Integration lassen sich aber auch positive gegenüberstellen. Mit Verabschiedung der Richtlinie für den Europäischen Betriebsrat 1994 konnte eine 20-jährige Diskussion abgeschlossen werden, mit der in europaweit tätigen Unternehmen ein In-formations- und Konsultationsverfahren für Arbeitnehmervertretungen etabliert werden konnte.

Die Bedeutung dieser Entscheidung erschließt sich weniger durch die Betrachtung der konkreten Rechte und Vorschriften, sondern eher durch die so eröffneten Möglichkeiten der bestehenden Mitbestimmungsorgane, ihre Anregungen und Ideen näher an die europäischen Verhandlungstische zu bringen. Die Bedeutung der Arbeitnehmer-Mitbestimmung wird klar, wenn die Veränderungen der Führungsstrukturen der Unternehmen betrachtet werden. Die Unternehmensführung liegt hauptsächlich in den

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Händen vertraglich bestellter Manager, deren Entscheidungen ohne das Risiko persönlicher Vermögenshaftung erfolgen. Sie nehmen bei Fehlentscheidungen und geschäftlichen Fehlschlägen bestenfalls eine Vertragsauflösung mit mehr oder weniger üppigen Abfindungen in Kauf, keinesfalls aber existenzielle Konsequenzen. Arbeitnehmervertretungen und ihre Belegschaften büßen jedoch in diesen Fällen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes oder gar des ganzen Betriebs. Es liegt deshalb auf der Hand, daß sie am Wohlergehen des Betriebs und des Gesamtunternehmens fundamentale Interessen haben.

Die Möglichkeiten der Richtlinie liegen deshalb darin, nun auch europaweit das Wissenspotential der Arbeitnehmer in die Führungsstrategien der Unternehmen einbringen zu können, und auf diese Weise die in den nationalen Betriebsebenen akkumulierten Kenntnisstände über effiziente Produktionsstrukturen unternehmensweit in neue kreative Prozesse einzubringen. Damit eröffnet sich die Chance, Managemententscheidungen durch größeren argumentativen Druck zu verbessern und Fehlentscheidungen zu minimieren, wie dies auf nationalem Niveau schon lange der Fall ist.

Abschließend betonte der EP-Vertreter die drei aus seiner Sicht wichtigsten Schwerpunkte einer europaweiten Beschäftigungspolitik:

  • Entlastung des Produktionsfaktors Arbeit

    Die Entlastung des Produktionsfaktors Arbeit von Kostenbelastungen soll durch eine stärkere Kostenbelastung des Energieverbrauchs zugunsten der aus den Arbeitnehmereinkommen finanzierten Sozialen Sicherungssysteme erfolgen. Dadurch sollen die Unternehmensbelastungen im Volumen nicht verändert werden, ihre Struktur aber zugunsten des Faktors Arbeit und zu Lasten des Energieverbrauchs verbessert werden. Damit kann ein vorteilhafter Anreiz für den Ausbau personalintensiver Dienstleistungen und niedrigproduktiver Arbeitsplätze gesetzt werden. Diese beschäftigungspolitischen Anreize können durch die Verteuerung des Energieverbrauchs auch ökologische Signale auf der Produktseite auslösen, wo die Absatzchancen neuer und den Energieverbrauch senkender Techniken vergrößert werden.

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  • Verbesserung der Eingliederung Arbeitsloser in die Berufswelt.

    Die erfolgreichen Instrumente der nationalen Arbeitsmarktpolitiken zur Wiedereingliederung Arbeitsloser bzw. zur Verbesserung des Einstiegs in die Berufswelt sollten in europaweite Programme münden. Die jetzt schon in den einschlägigen Gemeinschaftsaktionen LEONARDO, HORIZON, YOUTH START etc. gemachten Anfänge könnten auch auf das erfolgreiche System dualer Berufsausbildung aus Deutschland, oder auch auf die aus Dänemark und Schweden bekannten Programme "Qualifizieren und Einstellen" erweitert werden.

  • Effizientere Verteilung vorhandener Arbeit

    Zum einen muß qualifizierte Teilzeitarbeit ausgebaut werden, da hier die Beschäftigungsintensität der Produktion erhöht und die Produktivität noch gesteigert werden kann. Dabei muß sichergestellt sein, daß eine Rückkehr in Vollzeitarbeit möglich ist, daß Diskriminierung von Teilzeit im Rahmen der Sozialen Sicherungssysteme abgestellt wird, und schließlich die Weiterbildungs- und Aufstiegschancen auch bei Teilzeit gewahrt bleiben.

    Zum anderen gilt es, die KMU, die sich auch europaweit als Hauptträger des Beschäftigungszuwachses erwiesen haben, im Rahmen der Gemeinschaftsprojekte stärker zu unterstützen. Denn die Normierungs- und Standardisierungsprozesse im Binnenmarkt beeinträchtigen ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Dem ließen sich noch weitere europataugliche Ansätze hinzufügen. Entscheidend aber wird sein, daß sich die Mitgliedstaaten auf die gemeinsamen komparativen Wettbewerbsvorteile ihres Humankapitals besinnen, die ihre Entwicklung bisher vorangebracht haben. Diese wertvolle Ressource muß durch gemeinschaftliche Politik weiterentwickelt werden, und darf nicht in Beschäftigungslosigkeit verschwendet werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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