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[Seite der Druckausgabe: 33]

V. Politische Risiken der Wirtschafts- und Währungsunion



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1. Vertiefung und/oder Erweiterung

Nach dem jetzigen Stand der Dinge sieht die Europäische Gemeinschaft sowohl eine stärkere Integration der Mitgliedsstaaten wie auch eine Ausdehnung der Gemeinschaft auf Nord- und Osteuropa vor.

Das Konzept eines "föderativen Bundesstaates" oder zumindest einer auf allen wichtigen Gebieten kooperierenden politischen Union wird dem Konzept überholt geglaubter Formen nationalstaatlicher Bündnispolitik entgegengesetzt. Wenn es funktioniert, könnte es tatsächlich zur Friedenssicherung in Europa beitragen und den Wohlstand in Ost und West fördern.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die gleichzeitige Vertiefung und Erweiterung die Gemeinschaft nicht überfordert. Hierzu einige Argumente:

  1. In den nächsten Jahren ist mit dem EG-Beitritt der EFTA-Länder zu rechnen. Danach werden sich - je nach wirtschaftlicher Lage - die osteuropäischen Länder um Aufnahme in die EG bemühen. Entsprechend den Erfahrungen mit bisherigen EG-Beitritten werden für die Länder voraussichtlich - ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage entsprechend - Übergangsregelungen geschaffen werden müssen.
    Mit Eintreten in die Währungsunion wird auch die weitgehende Übereinstimmung des Status' der jetzigen Mitgliedsländer ein Ende finden. Denn ein Teil von ihnen wird Mitglied der Währungsunion sein, andere nicht.
    Resultat all dieser Entwicklungen wird sein: wir haben in Zukunft nicht nur ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern eines der drei, vier, fünf oder mehr. Es stellt sich die Frage, ob die Europäische Gemeinschaft eine solche Entwicklung institutionell und politisch verkraften wird oder ob nicht zumindest die Gefahr eines Zerfalls aufkäme.
    Wenn z. B. nur eine kleine Minderheit von Ländern die Konvergenzbedingungen zum Beitritt in die Währungsunion erfüllen sollte, führt dies nicht nur zu einem absurden Ergebnis, sondern stellt auch einen Sprengsatz für die Gemeinschaft dar. Die Abhängigkeit von einer Währung, beherrscht von einigen wenigen Ländern, wird wahrscheinlich genausowenig akzeptiert wie heute das "dictat allemand". Außerdem haben die Verträge von Maastricht z. B. nicht geregelt, wie ein Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten organisiert werden soll. Wie z.B. die Wirtschafts- und Währungspolitik den Ländern gegenüber aussieht, die nicht zur ECU-Zone oder vielleicht nicht einmal zum Europäischen Währungssystem gehören.

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  1. Die Erfahrungen mit der deutsch-deutschen Währungsunion haben gezeigt: die einheitliche "(west-) deutsche" Währung hat das Tor zum Osten nicht geöffnet, sondern ziemlich abrupt und brutal zugeschlagen. Osteuropa mußte seine Käufe im Westen nun gegen harte Devisen tätigen und war aufgrund seiner desolaten wirtschaftlichen Lage dazu nur in begrenztem Umfange fähig.
    Kritiker der europäischen Währungsunion befürchten, daß sich Westeuropa - gewollt oder ungewollt - mit einer gemeinsamen Währung ebenfalls gegen Osteuropa einmauern könnte. Eine stärkere Konzentration der Mitgliedstaaten auf den EG-Binnenmarkt würde eventuell ihre Bemühungen unterbinden, sich stärker auf den osteuropäischen Märkten zu engagieren bzw. Waren aus Osteuropa zu beziehen. Darüber hinaus wäre die Schaffung einer Einheitswährung eine zusätzliche Hürde für potentielle EG-Beitrittskandidaten aus Osteuropa. Denn einerseits werden diese Länder wegen der hohen Konvergenzanforderungen relativ stärker "abgehängt", zum anderen werden die Nettofinanziers der Kohäsionspolitik die zu erwartenden Konsequenzen aus einer späteren Gleichbehandlung der osteuropäischen Beitrittsländer mit den südeuropäischen Mitgliedstaaten scheuen.
  2. Das Thema Vertiefung und/oder Erweiterung muß auch unter dem Aspekt der Finanzierung gesehen werden. Im Zuge der europäischen Währungsunion schlägt die EG-Kommission im sogenannten "Delors-II-Paket" eine Steigerung der EG-Gesamtausgaben um knapp ein Drittel vor. Vom Zuwachs entfällt die Hälfte auf die Strukturfonds und den neu einzurichtenden "Kohäsionsfonds". Dieser soll ausschließlich den Ländern Griechenland, Portugal, Irland und Spanien zufließen, die damit auf dem Wege zu der im Rahmen der Währungsunion geforderten wirtschaftlichen Konvergenz unterstützt werden sollen. Für die Nettofinanziers der Gemeinschaft ergeben sich aus den Budgetplanungen der Kommission erhebliche Belastungen. Die Bundesrepublik zum Beispiel müßte ihre jährlichen Überweisungen an die Gemeinschaft von 22 Mrd. auf 67 Mrd. DM erhöhen.
    Vergleicht man die derzeit geleistete sowie die geplante finanzielle Unterstützung der Rückstandsländer innerhalb der Gemeinschaft mit den Hilfen an Osteuropa, so ergibt sich folgendes Bild: die "ärmeren" EG-Länder erhalten aus Brüssel je Einwohner 15 mal so viel finanzielle Hilfe wie die mittel- und osteuropäischen Länder und diese wiederum 8 mal so viel wie die Nachfolgestaaten der UDSSR. Zudem ist das Gros der Hilfe an Osteuropa und die GUS-Länder rückzahlungspflichtig. Mißt man zudem den Bedarf an Hilfe am relativen Entwicklungsstand, müßten (mit Ausnahme der CSFR) die mittel- und osteuropäischen Länder mehr bekommen als die "ärmeren" EG-Länder.
    Eine größere finanzielle Unterstützung Mittel- und Osteuropas, insbesondere der GUS-Länder, wäre nicht nur aus humanitären Gründen notwendig. Nach dem Wegfall der militärischen Bedrohung durch den Osten hätte die gesamte westliche Staatengemein-

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    schaft Grund, wirtschaftliche Hilfe zu leisten. Sie wäre auch nötig, um die jungen, noch ungefestigten Demokratien in Osteuropa zu unterstützen. Darüber hinaus würden sich mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in Mittel- und Osteuropa auch neue Märkte auftun, die die Entwicklungschancen auch der Gemeinschaft erweitern würden. Angesichts einer begrenzten finanziellen Belastbarkeit der "reicheren" EG-Länder, aber auch ihrer beschränkten Bereitschaft, zusätzliche Unterstützungszahlungen an Mittel-, Ost- oder Südeuropa zu leisten, stellt sich die Frage, ob es nicht eher im Interesse der Gemeinschaft läge, die Ökonomien in Mittel- und Osteuropa stärker zu fördern und sich für die Konvergenz der Volkswirtschaften innerhalb der Gemeinschaft etwas mehr Zeit zu lassen. In der Konsequenz würde dies einen Aufschub des Inkrafttretens der dritten Stufe der Währungsunion bedeuten. Dafür würden die Staaten Mittel- und Osteuropas den Anschluß an die Gemeinschaft schneller schaffen.



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2. Ist Europa schon reif für die Maastrichter Beschlüsse?

Bereits mit den Beschlüssen zum "EG-Binnenmarkt '92" wurde der Versuch unternommen, die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft durch ehrgeizige Terminvorgaben voranzutreiben. Aber auch zur Herstellung des Binnenmarktes mußten Voraussetzungen geschaffen werden. Unter anderem war dazu die Verabschiedung von 280 Gesetzgebungsmaßnahmen auf EG-Ebene (siehe Weißbuch von 1985) notwendig. Davon sind fast 100 bis heute nicht entschieden. Außerdem ist die Umsetzung der schon beschlossenen Richtlinien in nationales Recht noch sehr unvollständig.

Angesichts dieser Terminverzüge hätte man sich mit Vereinbarungen zu einer Wirtschafts- und Währungsunion noch etwas Zeit lassen können und sollen. Denn falls nun das Projekt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion entweder aufgrund des Fehlens der wirtschaftlichen Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten oder wegen untragbarer sozialer Auswirkungen für einzelne EG-Länder oder aufgrund der finanziellen Überbelastung der zu Transferleistungen verpflichteten "reicheren" Mitglieder scheitert oder zumindest die Erwartungen nicht in erhofftem Maße erfüllt, könnte auch die Politische Union und ihre mögliche Weiterentwicklung zu einem föderativen Bundesstaat infragegestellt werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion, die mit aller Macht die Festigung und Weiterentwicklung der Gemeinschaft betreiben soll, würde sich dann als Bumerang gegen Europa erweisen.

Aber nicht nur angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsstände der Volkswirtschaften in den EG-Ländern, sondern auch angesichts des Bewußtseinstands der Bürger scheint es mit Europa derzeit etwas zu schnell voranzugehen. Dies zeigt nicht nur die dänische Entscheidung gegen Maastricht. Mit dem Abschluß der Vereinbarungen setzte auch in anderen Ländern eine

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vehemente Diskussion über die Zukunft Europas ein. Kritik wurde vor allem daran geäußert, daß die Beschlüsse von Maastricht hinter verschlossenen Türen und ohne vorherige Diskussion in der Öffentlichkeit gefallen sind.

Das Demokratiedefizit ist in der Tat groß. Weder wurde vor den Vereinbarungen das Europaparlament oder ein nationales Parlament konsultiert, noch hatten die Bürger irgendeines Landes die Gelegenheit zur Mitsprache. Sie wurden denn von den Beschlüssen auch mehr als überrascht, denn bis zum Ende der Verhandlungen war für die Öffentlichkeit nicht absehbar, daß bei der Wirtschafts- und Währungsunion ein "irreversibler Automatismus" beschlossen würde. Auch die Tatsache, daß die Maastrichter Verträge noch von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden müssen, tröstet nur zum Teil. Denn zum einen können sie den Verträgen in der jetzigen Form nur zustimmen oder sie ablehnen, d. h. Änderungen am Vertragstext sind nicht möglich, zum anderen stehen sie natürlich unter einem gewissen Druck, jetzt die in mühsamen Verhandlungen erreichten Kompromisse nicht mit einem Veto vom Tisch zu wischen.

Dort aber, wo nicht Parlamentarier, sondern Bürger die Gelegenheit erhalten über Europa zu entscheiden, muß auch mit einem Nein zu Maastricht gerechnet werden. Das hat das Referendum in Dänemark bewiesen, bei dem eine knappe Mehrheit der Bürger sich gegen die von allen wichtigen gesellschaftlichen Institutionen, seien es Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände oder andere, unterstützten Verträge aussprach. Bei dieser Entscheidung spielten sicher nicht nur die konkreten Vereinbarungen über die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion eine Rolle. Vielmehr schlägt sich darin eine gewisse Europamüdigkeit wider, die zum einen mit der Unzufriedenheit der EG-Politik, z.B. im Bereich Landwirtschaft, begründet werden kann, zum anderen aber auch auf Angst vor dem Verlust regionaler oder nationaler Identität und Selbständigkeit zurückzuführen ist. Die Menschen wollen nicht von einer bürgerfernen Bürokratie in Brüssel regiert werden, sie lehnen zuviel Zentralismus ab. Von einer zu schnellen Weiterentwicklung der Gemeinschaft könnten sie überfordert werden, was leicht in eine totale Ablehnung Europas münden könnte.

Der Bürokratismus/Zentralismus-Kritik versucht man jetzt in der Gemeinschaft durch die Bestimmungen zum Subsidiaritätsprinzip gerecht zu werden. Es ist jedoch noch unklar, ob sich - dem Prinzip gemäß - die europäische Zentralregierung in Zukunft nur noch mit Fragen befaßt, die auf regionaler oder nationaler Ebene nicht entschieden werden können, weil sie einen grenzüberschreitenden Charakter haben - wie z.B. die Außen- und Sicherheitspolitik, die Umweltpolitik oder ähnliches - oder ob das Subsidiaritätsprinzip so ausgelegt wird, daß die Zentralregierung letztlich darüber entscheidet, womit sie sich beschäftigen will und die "subsidiären" Fragen dann nationalen Regierungen überläßt. Zumindest das bisherige Verhalten der Europäischen Kommission läßt den Schluß zu, daß sie der zweiten Interpretation

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zuneigt. Auch die Beschlüsse zur Wirtschafts- und Währungsunion beinhalten ein Ausmaß an Zentralisierung von Befugnissen, wie sie vom Subsidiaritätsprinzip nicht gedeckt ist. Denn ein größeres Maß an Kompetenzen für die Einzelstaaten und Regionen läßt sich mit einer Währungsunion, deren Funktionieren wirtschaftliche Konvergenz, eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie eine Abstimmung der nationalen Tarif- und Sozialpolitik erfordert, nicht vereinbaren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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