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3. Das Wismut-Erbe: Umweltbelastungen und Berufskrankheiten

Die Folgen des Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen können die Strahlenbelastungen der dort lebenden Menschen auf verschiedene Weise erhöhen:

  • Bei der Entwässerung von Schächten und Tagebauen während des Bergbaubetriebes fallen Schachtwässer an, die Uran, andere Radionuklide sowie chemisch giftig wirkende Stoffe wie Arsen und Sulfat zum Teil in hohen Konzentrationen enthalten. Nach einer Wasseraufbereitung gelangen diese Schadstoffe in Umgebungsgewässer.

  • Da nach Beendigung des Betriebes die Schächte geflutet werden, kann es in dem durch die Bergbautätigkeit aufgelockerten Gestein zu einer Auslaugung von Radionukliden und chemisch giftig wirkenden Stoffen und somit zu einer Belastung des Grundwassers kommen.

  • Die vom Bergbau geschaffenen Hohlräume enthalten hohe Radonkonzentrationen. Aus oberflächennahen Schächten gelangt dieses Gas durch Spalten und Klüfte über Tag.

  • Mit Sickerwässern dringen aus Abraumhalden Radionuklide und chemisch giftig wirkende Stoffe in das Grund- und Oberflächenwasser.

  • In den Schlämmen der Absetzanlagen mit ihren Rückständen aus der Erzaufbereitung befinden sich Radionuklide in hohen Konzentrationen. Die festen Bestandteile der Schlämme bestehen zum Teil aus feingemahlenen Teilchen. Wenn dieses Material nicht von Wasser bedeckt ist, kann der Wind radioaktiven Staub über Ortschaften und Siedlungen tragen. Zudem besteht die Gefahr, daß die Radionuklide sowie chemisch toxische Stoffe aus den Schlammablagerungen Grund- und Oberflächenwasser vergiften.

Radon aus Absetzbecken, Halden, Bergwerken und radioaktiver Staub aus Absetzanlagen belasten vor allem die nähere Umgebung. In größerem Abstand von den Emissionsquellen sind die Konzentrationen geringer, zudem ist wegen der niedrigen Halbwertzeit das Radon zum Teil zerfallen. So wurden in der Umgebung aktiver Wismutanlagen pro Kubikmeter Luft Radonwerte im Freien von 10-40 Bq (Raum Königstein), 50-370 Bq (Aue/Alberoda), 15-140 Bq (Crossen), 45-270 Bq (Ronneburg/Schmirchau) und 30-90 Bq (Seelingstädt) ermittelt. Die angegebenen Spitzenkonzentrationen traten an Meßpunkten nahe der Anlagen auf und waren von örtlichen Gegebenheiten wie Tallagen mit geringer Luftbewegung begünstigt. In Regionen, die gleiche geologische Formationen wie die genannten Meßorte aufwei-

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sen, aber nicht vom Bergbau betroffen sind, wurden Konzentrationen von bis zu 100 Bq pro Kubikmeter Luft ermittelt.

Die in Grund- und Oberflächenwasser dringenden Radioisotope können auch in weiterer Entfernung zu Belastungen führen. Sie gelangen mit dem Trink- und Nutzwasser zum Menschen sowie über die Nahrungskette, zum Beispiel durch den Verzehr von belastetem Fisch und von pflanzlichen Produkten, die mit kontaminiertem Wasser bewässert wurden.

Während über die gesundheitlichen Auswirkungen der Wismut-Tätigkeit auf die Wohnbevölkerung heute noch keine gesicherten Angaben zu machen sind, belegen Personalakten und andere Unterlagen aus Wismut-Archiven, daß die Beschäftigten im Uranbergbau einem höheren Krebsrisiko als die Durchschnittsbevölkerung ausgesetzt waren. Als Archivmaterial stehen zur Verfügung:

  • Ein Zentralarchiv mit rund 360 000 Personal- und Lohnakten in Aue sowie weitere derartige Personalarchive in Ronneburg und Königstein. Diese Akten geben unter anderem darüber Auskunft, welche Mitarbeiter früher "Erzgeld" bekamen, eine Zulage, die für die direkt mit dem Erzabbau Beschäftigten gezahlt wurde. Von den mehr als 500 000 Menschen, die in den vergangenen 45 Jahren für die Wismut tätig waren, sollen rund 400 000 Beschäftigte unter Tage gearbeitet haben.

  • Eine Berufskrankheitendatei in Chemnitz mit rund 44 000 Akten erfaßt alle von Wismut-Mitarbeitern gestellten Anträge auf Anerkennung einer Berufskrankheit Diesen Akten zufolge sind unter den Wismut-Beschäftigten rund 7000 gemeldete Fälle von Lungenkrebs aufgetreten. In 5 200 Fällen wurde anerkannt, daß die Tätigkeit bei der Wismut Auslöser der Krankheit war. Andere Krebserkrankungen wie Darmkrebs oder Leukämie fanden keine Anerkennung als Berufskrankheit. Neben den Krebsfällen erfaßt die Berufskrankheitendatei weitere Gesundheitsschäden wie Lärmschädigungen, Hauterkrankungen und vor allem Silikose, die, als typische Bergarbeiterkrankheit, auch in der Wismut mit 15 000 anerkannten Fällen zu weit mehr Opfern führte als Lungenkrebs. Wie die Akten zeigen, soll die Wismut die Anerkennung einer Silikose als Berufskrankheit großzügig gehandhabt haben.

  • Die ebenfalls in Chemnitz verwahrte Ortsstatistik gibt Auskunft über Belastungsdaten an exponierten Arbeitsplätzen, unter anderem über Belastungen mit Radon, den Folgeprodukten und mit chemischen Giften. Ab 1971 wurden diese Belastungen rechnerisch den an den jeweiligen Orten arbeitenden Personen

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    zugeordnet. Über die Zeit von 1946 bis 1955 liegen keine Daten über Strahlenbelastungen vor.

  • In Niederdorf bei Stollberg befindet sich eine Silikosedatei mit Akten über rund 15.000 anerkannte Silikosefälle sowie mit Unterlagen über mehrere tausend weitere Verdachtsfälle. Außerdem lagern dort eine Schirmbilddatei mit 260 000 Karteikarten, eine 250 000 Dokumentationen umfassende arbeitsmedizinische Tauglichkeits- und Überwachungsdatei mit den Befunden der jährlichen Vorsorgeuntersuchungen, eine Krankenhausfallstatistik sowie eine Kartei über Rehabilitationsmaßnahmen. Ferner verfügt das Bergarbeiterkrankenhaus Stollberg über eine Organprobenbank sowie über Obduktionsunterlagen. Hinzu kommen weitere Akten in Niederdorf, Chemnitz, Bad Berka und Zschadraß mit Befunden über fast alle Todesfälle von Wismut-Beschäftigten.

Während die genannten Aktenbestände vollständig gesichert werden konnten, weisen andere Dateien mit Auskunftsmaterial über den Gesundheitszustand von Wismut-Beschäftigten Lücken auf. Mitarbeitern der Wismut und ihren Angehörigen stand ein eigenes Gesundheitswesen mit 21 Betriebsambulatorien und 7 Betriebspolikliniken zur Verfügung. Dort sammelte sich eine große Zahl von Patientenunterlagen an. Doch nachdem Ärzten und medizinischem Personal zum Ende des Jahres 1990 gekündigt wurde, verschwanden bis zur Schließung der Einrichtungen etliche Akten. Man händigte den Patienten die sie betreffenden Unterlagen aus und verschickte Akten an fachlich interessierte Mediziner. Manche Ärzte nahmen Patientenunterlagen mit, um sich einen ersten Datenbestand für ihre neu zu gründende Privatpraxis zu verschaffen.

Auch Akten aus dem öffentlichen Gesundheitswesen, die Rückschlüsse auf Krankheitsverläufe unter Wismut-Beschäftigten und ihren Angehörigen ermöglichen, konnten nicht vollständig gesichert werden. Zu diesen Akten gehören zum Beispiel Unterlagen aus den poliklinischen Abteilungen für Lungenkrankheiten und Tuberkulose, aus den Beratungsstellen für Geschwulstkranke sowie aus den gynäkologischen Abteilungen der Krankenhäuser.

Obwohl über die Wismut-Beschäftigten eine Fülle von Akten zur Verfügung stehen, sind die Informationen über die Strahlenbelastungen der Mitarbeiter lückenhaft. Über die Belastungen in den ersten Jahren, in denen es so gut wie keine Arbeitsschutzmaßnahmen gegeben hat, stehen überhaupt keine Daten zur Verfügung. Die ab 1955 vorgenommenen Messungen zur Erfassung der Radioaktivität am Arbeitsplatz waren nicht genau, die konkreten Arbeitsbedingungen für die zeitweise

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mehr als 100 000 Wismut-Beschäftigen der früheren Jahre lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren. Schätzungen gehen davon aus, daß vor 1956 die Belastung durch Radon und dessen Folgeprodukte in den Bergwerken zwischen 30 und 300 WLM (Working Level Mark) pro Jahr geschwankt haben dürfte, mit einem Durchschnittswert von 150 WLM. Die im Arbeitsschutz übliche Einheit von einem WLM entspricht etwa einer Belastung von einem rem, also von ungefähr 0,01 Sv. Mitglieder der Strahlenschutzkommission taxieren die durchschnittliche Belastung auf rund 200 WLM, mit Schwankungen zwischen 150 und 240 WLM pro Jahr. Nach 1956 führten bescheidene Arbeitsschutzmaßnahmen wie die Einführung nasser Abbauverfahren und besserer Stollenbewetterungen zu einer Verringerung der Belastungen. So soll die jährliche Dosis der Bergarbeiter von 1956 bis 1960 zwischen 10 und 100 WLM betragen haben.

Erst ab 1964 wurden die Belastungen durch Radon und die Folgeprodukte systematisch ermittelt. Das dabei angewandte Verfahren erlaubte allerdings immer noch keine präzisen Aussagen über die individuelle Dosis. An jedem Meßort wurde nur einmal im Monat gemessen. Das Ergebnis der 5 Meßminuten rechnete man auf den Gesamtmonat hoch. Die tatsächliche individuelle Belastung kann daher von den ermittelten Durchschnittswerten um den Faktor 10 abweichen. Erst ab 1971 wurde für die Beschäftigten anhand der ermittelten Meßwerte und der an den Arbeitsorten individuell verbrachten Zeit die individuelle Dosis berechnet. Diesen Daten zufolge traten Belastungen von 2 bis zu 10 WLM pro Jahr auf, ab 1975 lagen die Belastungen zwischen einem und 4 WLM pro Mann und Jahr.

Neben den Belastungen der Lunge durch Radon und dessen Folgeprodukte waren die Bergleute unter Tage auch der vom Erz ausgehenden Gammastrahlung ausgesetzt, die 0,050 Sv pro Jahr Ganzkörperdosis nicht überschritten haben soll. Zudem sei dieser Wert nur unter der Bedingung erreicht worden, daß der Bergmann seine gesamte tägliche Arbeitszeit unter Tage direkt an der Pechblende verbracht hatte.

Die Bergbau-Berufsgenossenschaft prüft derzeit die Unterlagen von 1 735 ehemaligen Wismut-Beschäftigten, deren Anträge auf Anerkennung eines Lungenkarzinoms als Berufskrankheit früher abgelehnt wurden. Da die damaligen Anerkennungskriterien der Wismut revisionsbedürftig sind, erwartet der Beauftragte der Bundesregierung für die Sicherung der Wismut-Akten, daß rund 70 Prozent der ehedem abgewiesenen Anträge nun positiv entschieden werden. Bis 1970 wurde Lungenkrebs bei Uranbergarbeitern dann als beruflich bedingt angesehen, wenn der Erkrankte mindestens zehn Jahre unter Tage gearbeitet hatte. Zwischen 1970 und

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1990 galt eine kumulierte Radonbelastung von 450 WLM als hinreichend für die Einstufung eines Lungenkarzinoms als Berufskrankheit.

Nach diesen Kriterien hatten Thüringer Bergleute, die an Lungenkrebs erkrankt waren, überhaupt keine Aussicht, als Opfer ihrer Tätigkeit für die Wismut entschädigt zu werden, denn die für die Thüringer Bergarbeiter veranschlagte Dosis der jährlichen Belastung durch Radon lag so niedrig, daß rechnerisch niemand eine kumulierte Dosis von 450 WLM erreichen konnte. Ab 1991 wurden die für den Zeitraum von 1951 bis 1956 zugrunde gelegten Belastungswerte um ein Vielfaches erhöht - von dem gleichen Fachmann, der zuvor die sehr viel niedrigeren Dosisfestlegungen zu verantworten hatte.

Neben der höheren Bewertung der früher erlittenen Strahlenbelastungen werden sich auch die im Vergleich zur Wismut-Praxis günstigeren Anerkennungskriterien der Berufsgenossenschaft zugunsten der noch lebenden Bergarbeiter beziehungsweise ihrer hinterbliebenen Angehörigen auswirken. So erkennt die Bergbau-Berufsgenossenschaft bereits bei einer kumulativen Belastung von 200 WLM Lungenkrebs als Berufskrankheit an. Ein Gutachten des Instituts für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft Feinmechanik/Elektrotechnik empfiehlt, bei der Anerkennung nicht nur die Strahlendosis, sondern unter anderem auch das Alter der Beschäftigten bei der Exposition zu berücksichtigen. Wenn sich dieser Vorschlag durchsetzt, dann sind auch Anerkennungen bei kumulierten Belastungen unterhalb einer Dosis von 100 WLM möglich.

Aufschlüsse über den Gesundheitszustand der Allgemeinbevölkerung in den Erzbergbauregionen sind von einer Auswertung der Unterlagen aus dem Nationalen Krebsregister der DDR, der Todesursachenstatistik und der Einwohnermelderegister sowie von derzeit laufenden epidemiologischen Untersuchungen zu erwarten. So beschäftigt sich eine Studie mit der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen dem Auftreten von Lungenkrebserkrankungen und der Höhe von Radon-Konzentrationen, mit ersten Ergebnissen ist 1994 zu rechnen. Und in einem Forschungsverbund werten verschiedene Institute Erkrankungsstatistiken und Belastungsdateien für eine Pilotstudie aus.

Zuverlässige Daten über die Auswirkungen der Strahlenbelastungen auf die Bevölkerung mögen erst in Zukunft vorliegen, doch sicher ist, daß eine wirksame Sanierung der Wismut-Hinterlassenschaft das Gesundheitsrisiko für die Bürger in den Regionen des ehemaligen Uranbergbaus verringert. Der Umfang der dabei zu lö-

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senden Aufgaben läßt sich erahnen, wenn man die Sanierungsgebiete im einzelnen betrachtet


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