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2. Radioaktivität und ihre möglichen biologischen Wirkungen

Schon während des Silber-, Kupfer- und Bleibergbaus früherer Jahrhunderte war die "Schneeberger Krankheit" unter Bergleuten berüchtigt. Ursache für den so bezeichneten Lungenkrebs waren Belastungen der Atemwege durch eine überdurchschnittlich hohe Radioaktivität in der Atemluft der Erzgruben.

Radioaktiviät, also eine spontane Atomkernumwandlung, tritt vorzugsweise bei chemischen Elementen mit einer großen Zahl von Protonen im Atomkern auf, so zum Beispiel bei Uran, Radium und Radon. Diese Atomkernumwandlungen sind mit einer Freisetzung von Strahlung verbunden, bei der es sich entweder um energiereiche Teilchen handelt - wie bei der Alpha- und Betastrahlung - oder, im Falle der Gammastrahlung, um energiereiche elektromagnetische Wellen.

Als Maßeinheit für die Radioaktivität eines Stoffes dient das Becquerel (Bq). Ein Material weist die Aktivität von einem Bq auf, wenn in diesem Material pro Sekunde eine Atomkernumwandlung stattfindet. Weil zahlreiche chemische Elemente radioaktive Atomkernarten haben, kommt Radioaktivität von Natur aus überall in der Luft, im Wasser und im Boden vor. Auch der Fallout oberirdischer Kernwaffenexplosionen sowie der Unfall in Tschernobyl haben für eine weltweite Verteilung radioaktiver Isotope gesorgt.

In der Bundesrepublik beträgt zum Beispiel die durchschnittliche Radioaktivität in Wohnungen rund 50 Bq pro Kubikmeter Raumluft. Pflanzliche und tierische Nahrungsmittel weisen einen Mittelwert von rund 40 Bq pro Kilogramm auf. Die durchschnittliche Aktivität von Trinkwasser liegt zwischen 0,6 und 4 Bq pro Liter, Milch strahlt von Natur aus mit rund 40 bis 50 Bq pro Kilogramm. Und der Mensch, der mit der Nahrung radioaktive Teilchen zu sich nimmt und zum Teil in den Organen speichert, kann als 20- bis 30jähriger auf über 60 Bq pro Kilogramm Körpermasse kommen. Nach dem Unfall in Tschernobyl traten in der Bundesrepublik besondere Belastungen unter anderem durch das Isotop Cäsium 137 auf. So erreichte allein die durch dieses Isotop bedingte Aktivität von Milch, die aus dem Raum München stammte, im August/September 1986 6-30 Bq pro Kilogramm, während die Aktivität 1983 bei 0,15 Bq lag. Die durch Cäsium 137 verursachte Aktivität von Getreide und Obst stieg von unter 1 Bq pro Kilo 1983 "nach Tschernobyl" auf 5-200 beziehungsweise 5-300 Bq pro Kilogramm. Und Pilze, in denen sich Cäsium 137 besonders gut anreichert, wiesen im August 1986 eine Aktivität von bis zu 16 000

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Bq pro Kilogramm auf. Einige Jahre zuvor hatte man durchschnittliche Aktivitätskonzentrationen von rund 170 Bq pro Kilogramm ermittelt.

Die Aktivität eines Stoffes sagt allerdings noch nichts über dessen biologische Wirkung aus. Weil sich die drei Strahlenarten in ihrer Energie sowie in ihrer sonstigen physikalischen Beschaffenheit voneinander unterscheiden, haben sie eine unterschiedliche Reichweite in Materie. So wird Alphastrahlung schon von wenigen Zentimetern Luft und einigen tausendstel Millimetern Blei abgeschirmt. Im menschlichen Gewebe kommt sie rund 0,1 Millimeter weit. Betastrahlung hat in Luft dagegen eine Reichweite von mehreren Metern, dringt etwa 0,8 Millimeter in Blei und einige Millimeter tief in menschliches Gewebe ein. Und Gammastrahlung legt in Luft weit über 10 Meter zurück, durchstrahlt, ähnlich wie Röntgenstrahlung, den ganzen menschlichen Körper und wird erst von einer mehrere Zentimeter starken Bleischicht abgeschirmt

Das "Abbremsen" der Strahlung ist eine Folge der Energieübertragung von der Strahlung auf Materie. Bei ihrem Weg durch Materie verändert die Strahlung Atome, so daß aus elektrisch neutralen Atomen geladene Ionen werden. Die ionisierende Strahlung verliert dabei Energie, bis sie schließlich absorbiert ist. Besonders wirksam bei der Ionisierung von Atomen ist die Alphastrahlung, die zwar im Vergleich zu den anderen beiden Strahlungsarten nicht weit in Materie eindringt, dafür aber viel Energie überträgt.

Um Aussagen über die biologische Wirksamkeit von Strahlung zu treffen, sind neben der Aktivität des Materials vor allem die Masse des bestrahlten Objekts, die auf das Objekt übertragene Energie, die Art der Strahlung, die Einwirkungsdauer und nicht zuletzt die bestrahlten Körperteile zu berücksichtigen. So ist das Gewebe von Lunge, Leber, Magen und Schilddrüse zum Beispiel strahlenempfindlicher als Muskelgewebe. Um Strahlenbelastungen miteinander vergleichbar zu machen, wird die pro Masse des bestrahlten Körpers absorbierte Energie mit einem sogenannten Qualitätsfaktor gewichtet, der vor allem die unterschiedliche Wirksamkeit der Strahlungsarten berücksichtigt und auf Erfahrungswerten mit der Wirkung von Strahlenbelastungen beruht. So weist zum Beispiel Alphastrahlung gegenüber Gamma- und Betastrahlung einen 20mal höheren Qualitätsfaktor auf.

Als Äquivalentdosis bezeichnet man das Produkt aus der pro Kilogramm Masse übertragenen Energie und dem Qualitätsfaktor. Als Maßeinheit für die Äquivalentdosis ist heute das Sievert (Sv) gebräuchlich. Diese Einheit hat das "rem"

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abgelöst. Zum Vergleich mit einer älteren, in rem ausgedrückten Angabe über die Äquivalentdosis gilt die Umrechung: 1 rem gleich 0,01 Sv.

Die mittlere effektive Strahlendosis, mit der die Bevölkerung der Bundesrepublik lebt, beträgt 3,9 mSv (Millisievert) im Jahr, so ermittelt für das Jahr 1990. Davon werden insgesamt 2,4 mSv von der natürlichen Radioaktivität verursacht, 1,5 mSv beträgt die Belastung durch Anwendung von ionisierenden Strahlen und radioaktiven Stoffen in Medizin, Technik und Wissenschaft. Von der natürlichen Strahlenbelastung sind 0,3 mSv durch kosmische Strahlung bedingt, 0,5 mSv durch die terrestrische Strahlung und 0,3 mSv durch die Aufnahme natürlicher radioaktiver Isotope mit der Nahrung. Hinzu kommen Belastungen durch das überall vorhandene Gas Radon von durchschnittlich 1,3 mSv. Radonbelastungen treten vor allem in Innenräumen auf, wo sich Radon als Zerfallsprodukt der in den Baustoffen enthaltenen natürlichen Radionuklide sammelt. Die zivilisatorisch bedingte durchschnittliche Strahlenbelastung geht vor allem auf die Anwendung ionisierender Strahlung in der Medizin zurück. Belastungen aus dem Betrieb von Kernkraftwerken und anderen technischen Einrichtungen liegen ebenso wie die Belastungen durch den Fallout von Kernwaffenversuchen unter 0,01 mSv. "Tschernobyl" trägt noch einmal rund 0,025 mSv zur jährlichen Durchschnittsbelastung in der Bundesrepublik bei.

Die tatsächlichen Belastungen eines einzelnen Menschen können von diesen Mittelwerten zum Teil erheblich abweichen. Wer in den thüringischen und sächsischen Bergbauregionen wohnt, ist einer größeren Radonbelastung ausgesetzt als anderenorts in der Bundesrepublik. Auch die Belastung durch kosmische Strahlung schwankt. Sie beträgt zum Beispiel im Hamburger Flachland rund 0,3 mSv, erreicht in den einige Hundert Meter höher gelegenen Mittelgebirgsorten über 0,5 mSv und auf der Zugspitze sogar 1 mSv pro Jahr. Je nach Beschaffenheit des geologischen Untergrunds treten auch bei der durchschnittlichen terrestrischen Strahlenbelastung Schwankungen auf, etwa zwischen Schleswig-Holstein, wo man pro Jahr mit rund 0,14 mSv leben muß, und dem Bayerischen Wald mit einer zehnfach höheren Belastung. In den neuen Ländern liegt die jährliche Belastung durch natürliche Radioaktivität zwischen 1,5 und 4,3 mSv, bei einem Mittelwert von 3 mSv.

Biologische Strahlenwirkungen lassen sich im Prinzip in drei Kategorien fassen. Bei hohen Strahlendosen treten akute Schäden wie Übelkeit, Entzündungen, Fieber und Durchfall auf. Diese somalischen Frühschäden können auch zum Tode führen. Bei akuten Belastungen ab 50 Sv stellen sich diese Symptome fast augenblicklich ein, innerhalb einer Woche sterben alle Exponierten. Auch bei Belastungen von 10 Sv ist

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es nicht wahrscheinlich, daß man diese Dosis überlebt. Bei 4 bis 5 Sv leiden alle Verstrahlten am ersten Tag nach der Belastung an Erbrechen und Übelkeit, etwa die Hälfte der Bestrahlten stirbt im ersten Monat nach der Exposition. Noch bei einer akuten Strahlendosis von 1,8 bis 2,6 Sv sind einzelne Todesfälle zu erwarten, ein Viertel der Betroffenen wird an Übelkeit und an anderen Symptomen der Strahlenkrankheit leiden. Unterhalb einer Dosis von 1,3 bis 1,7 Sv ist nicht mehr mit Todesfällen zu rechnen. Bei Belastungen zwischen 0,8 und 1,2 Sv leiden rund 5-10 Prozent der Bestrahlten einen Tag lang an Erbrechen, Übelkeit und Müdigkeit. Strahlendosen von 0,5 Sv bringen als akute Wirkung geringfügige Veränderungen des Blutbildes mit sich.

Neben diesen frühen Wirkungen kann Radioaktivität auch Spätschäden wie Krebserkrankungen als Folge von Veränderungen des Zellwachstums verursachen. Und schließlich können Strahlenbelastungen durch Beeinträchtigung der Erbinformationen Erbschäden bei späteren Generationen hervorrufen.

Da die langfristig möglichen Schadwirkungen niedriger Strahlendosen oft erst Jahrzehnte nach der Exposition wahrnehmbar und zudem nicht eindeutig auf eine Ursache rückführbar sind, lassen sich die Auswirkungen niedriger Strahlenbelastungen nur statistisch fassen. So schätzte zum Beispiel die Internationale Strahlenschutzkommission in den siebziger Jahren, daß jede zusätzliche Belastung mit 10 mSv unter einer Millionen Menschen zu rund 20 zusätzlichen Leukämiefällen führen kann.

Die unter Bergleuten in Sachsen und Thüringen gehäuft aufgetretenen Lungenkrebsbildungen werden vor allem auf die Wirkung des Gases Radon zurückgeführt. Dieses Gas, das sich als Zerfallsprodukt von Uran in der Luft der Bergwerksstollen sammelt und aus Halden sowie Absetzanlagen entweicht, ist selbst wiederum radioaktiv. Eingeatmet in die Lunge zerfällt es dort weiter. Die Zerfallsprodukte, zum Teil sehr kurzlebig und daher stark radioaktiv, können sich in den Lungenbläschen einnisten und dort das Gewebe schädigen.

Nicht nur die Bergleute, auch die Wohnbevölkerung ist in den Erzbergbauregionen höheren Belastungen als anderenorts in der Bundesrepublik ausgesetzt. Die höhere Strahlendosis geht zum einen auf die Beschaffenheit des natürlichen Untergrunds zurück, zum anderen ist sie eine Folge des Bergbaus. So wurde zum Beispiel der Abraum oft als Baugrund und als Baumaterial verwendet, was zu erhöhten Radonbelastungen in Innenräumen führt. Halden und Absetzbecken setzen Radon

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frei, das, vom Wind herbeigeweht, auch bis in die Ortschaften gelangt. Hinzu kommen die Belastungen der dort lebenden Menschen durch radioaktive Teilchen in Wasser und Nahrungsmittel.

Während in den alten Bundesländern die Innenraumaktivität im Mittel bei rund 50 Bq pro Kubikmeter Luft liegt und die deutsche Strahlenschutzkommission als obersten Richtwert 250 Bq pro Kubikmeter Luft für akzeptabel hält, sind in Schneeberger Häusern Aktivitäten bis zu 100 000 Bq pro Kubikmeter Luft ermittelt worden. Diese hohen Belastungen der Luft durch Radon und dessen Folgeprodukte gehen zum einen auf die verwendeten Baustoffe zurück, zum anderen dringt das Gas aus nahe gelegenen Grubenzugängen in die Häuser. Gerade weil die im Erzbergbaugebiet lebenden Menschen mit einer überdurchschnittlich hohen Strahlenbelastung leben müssen, erwarten sie eine rasche und langfristig zuverlässige Sanierung des Wismut-Erbes.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2000

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