FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 12(Fortsetzung)]


3. Die Brücke: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Beschäftigungsgesellschaften

Mit der Einrichtung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde für die Arbeitslosen eine Brücke gebaut, die in den ersten Arbeitsmarkt hinüberführen sollte. Die Baupläne dafür, festgelegt im Arbeitsförderungsgesetz, stammten aus dem Westen. Nach ihnen waren schon vorher etliche Brücken, schmalere allerdings, gebaut worden.

Die Brücke wurde von Beginn an sehr breit ausgebaut, so daß besonders viele Menschen sie betreten konnten. Ein festes Terrain, auf dem man den zweiten Brückenkopf hätte errichten können, war dabei nicht in Sicht. Wer die Brücke betrat, konnte von Anfang an keine Garantie mitnehmen, daß er das andere Ufer auch erreichte, und riskierte, irgendwann zurückgeschickt zu werden. Dieser Umstand rührt schon heute an den Sinn des Brückenbaus überhaupt. Eine Brücke ist nun einmal kein Aufenthaltsort.

Während unterschiedlicher Bauphasen kommt der Brückenschlag über den Strom kaum voran. Das Bauwerk erreicht aber rasch beinahe die erforderliche Breite, um die meisten Menschen, die hinüber wollen, aufzunehmen.

Im Jahr 1991 wurden im Osten Deutschlands vom Stand 0 bis zum Jahresende 390 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingerichtet. In Westdeutschland liegt die Zahl der ABM im Durchschnitt bei etwa 150 000. Im ersten Quartal lief die Einrichtung noch schleppend an. Vom Monat April an wurden, anders als im Westen, zusätzlich zu den Lohnkosten auch Sachkosten der Arbeitsbeschaffung von den Beitragszahlern der Bundesanstalt für Arbeit getragen. Im Frühjahr 1992 setzte die Bundesanstalt mit neuen Richtlinien für die Vergabe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Phase der "ABM-Euphorie" ein vorläufiges Ende. Es folgte eine erste "ABM-Rezession".

Von den heute etwa 400 000 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Vermittelten sind etwa 52 000 in Arbeitsförderungs- oder Beschäftigungsgesellschaften tätig. Das sind im

[Seite der Druckausg.: 13]

Durchschnitt der neuen Bundesländer 13,3 Prozent. In Sachsen-Anhalt liegt deren Anteil mit 22,9 Prozent weit über dem Durchschnitt (vgl. Übersicht 3). Auch innerhalb des in Arbeitsförderungsgesellschaften eingesetzten Mix an arbeitsmarktpolitischen Instrumenten kommt den ABM in Sachsen-Anhalt eine besondere Bedeutung zu: 75 Prozent der Teilnehmer in Arbeitsförderungsgesellschaften entfallen auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 5,7 Prozent auf Fortbildung und Umschulung, 17,2 Prozent auf Kurzarbeiter und 1,9 Prozent auf Teilnehmer sonstiger Maßnahmen. In Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern dominiert hingegen die Kurzarbeit (vgl. Übersicht 4).

Page Top

3.1 Ordnungspolitisch motivierte Kritik

Angesichts der enormen Zahlen bedienen sich vor allem die Kritiker solcher gigantischer Arbeitsbeschaffungsprogramme des Bildes von der Brücke, um ihre Bedenken vorzutragen. Hindert nicht gerade der Brückenbau diejenigen, die den Strom zur Not auch durchschwimmen könnten, sich selber zum anderen Ufer durchzuschlagen und dabei Einstellungen und mentale Fertigkeiten zu erlernen, die auch drüben, auf dem hügeligen Terrain des ersten Arbeitsmarktes, gebraucht werden? Verleitet nicht der Bau einer so breiten Brücke dazu, das Ziel aus dem Auge zu verlieren? Wird hier nicht ein künstliches Fundament mitten im Strom geschaffen, das die Erreichung des anderen Ufers mit der Zeit überflüssig erscheinen läßt?

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem letzten Jahresgutachten die ordnungspolitisch motivierte Kritik am Ausufern von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen formuliert. Schließlich stehe etwa eine ABS-Gesellschaft sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch auf dem Markt der angebotenen Güter und Dienstleistungen in Konkurrenz mit privaten Unternehmen. Weil sie von Lohnkosten entlastet seien, könnten sie niedrigere Preise verlangen und ihren Arbeitnehmern höhere Löhne zahlen. Daran ändere im Prinzip auch die Tatsache nichts, daß nach dem Gesetz der Auftragsvergabe an Private der Vorrang zu geben sei: Gebe es erst einmal einen Auftrag, so werde sich auch bald eine Firma finden, die sich für seine Erfüllung qualifizierte. Vernichtungskonkurrenz, so die Logik dieses Einwands, üben die ABS-Gesellschaften also vor allem gegenüber künftigen, noch theoretischen Mitbewerbern aus. Das Kriterium der "Zusätzlichkeit" - nach welchem öffentliche Auftraggeber nur dann ABM-Träger bedenken sollen, wenn der Auftrag anderenfalls ganz unterbliebe - scheint den Sachverständigen ebenfalls nicht sehr überzeugend: Eine Maßnahme müsse schließlich "im öffentlichen Interesse" liegen, wenn sie gefördert werden

[Seite der Druckausg.: 14]

wolle. Sei das aber erst der Fall, so sei sie ja offenbar auch dringend, müsse durchgeführt werden und sei dann eben auch nicht mehr "zusätzlich". Weitere Kritikpunkte gegen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und besonders gegen die großen Gesellschaften für Arbeitsbeschaffung, Beschäftigung und Strukturförderung sind, daß sie den zweiten Arbeitsmarkt verfestigten, daß sie nicht wettbewerbsfähige Arbeitsplätze konservierten und daß nicht der Wettbewerb, sondern die politische Koordination dort den Motor für Innovationen abgeben müsse.

Die Hüter der Ordnungspolitik wurden auf dem "Wirtschaftspolitischen Diskurs" allerdings vorwiegend nur zitiert. Auch Vertreter von Organisationen, denen unter normalen Umständen die Rolle des Ordnungshüters zugefallen wäre, nahmen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sogar in ihrem enormen Umfang in Schutz.

Ein Vertreter einer Industrie- und Handelskammer bejahte sogar ausdrücklich den Umstand, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in diesem Umfang strukturpolitische Effekte nach sich ziehen, und ließ sich auf die Forderungen vor allem aus Beschäftigungsgesellschaften ein, auf den "künstlichen" Arbeitsplätzen rentabel, professionell und mit zeitlicher Absicherung von Aufträgen und Managementfunktionen arbeiten zu können. Es sei "ab und zu passiert", daß vom Arbeitsamt alimentierte "Firmen" in Konkurrenzkonflikte mit dem aufkeimenden Mittelstand geraten seien, aber eben "nicht in spektakulärem Ausmaß". Bei typischen Aufgaben wie kommunaler Begrünung, Vermessung etwa von Friedhöfen oder von Schwimmbädern oder der Sanierung oder Reinigung von Gebäuden sei zwar im Prinzip die Auftragsvergabe an private Firmen möglich, in der Praxis wegen deren Fehlens aber oft nicht. Die befürchtete "Lähmung der Eigeninitiative" durch den Schutz des Arbeitsplatzes sei "kein besonders greifbares Thema". Vielmehr stellte der IHK-Vertreter die für die Wirtschaft positiven Folgen der staatlichen Beschäftigungspolitik heraus, so die Möglichkeit zur Abfederung des notwendigen Personalabbaus in den bestehenden Betrieben und die Absorption vieler potentieller Arbeitsloser als Mittel zum Erhalt des sozialen Friedens.

Sinnvoller jedoch als Beschäftigungsgesellschaften sei, wo immer möglich, die Absicherung von Dauerarbeitsplätzen durch Großaufträge. Volumen und Art der Sanierungsaufgaben wie deren voraussichtliche Dauer rechtfertigten volks- und betriebswirtschaftlich Entstehung und Erhalt von Sanierungsfirmen, die mit Profitrupps abrissen, entgifteten, dekontaminierten. Gelänge eine langfristige Absicherung von Großaufträgen, sei eine Privatisierung der bestehenden Arbeitsförderungs- und Sanierungsgesellschaften schon heute möglich.

[Seite der Druckausg.: 15]

Vorsichtiger, in der Tendenz aber ähnlich äußerte sich ein Vertreter des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Als 1991 die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, denen man im Prinzip positiv gegenüberstehe, stark ausgeweitet wurden, habe beim Handwerk Sorge bestanden, daß ungleiche Konkurrenz von Beschäftigungsgesellschaften die ohnehin schwierige Lage der Handwerksbetriebe weiter erschweren könne. Daraufhin sei mehr Nachdruck auf das Prinzip gelegt worden, daß der privaten Wirtschaft bei kommunalen Aufträgen der Vorrang zu geben sei. Seit dem vergangenen Jahr muß vor der Auftragsvergabe an eine Beschäftigungsgesellschaft oder an einen anderen ABM-Träger eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Handwerkskammer vorliegen, die besagt, daß kein privatem Handwerksunternehmen den Auftrag ausführen könnte. Diese Maßnahme sei zögerlich angelaufen, funktioniere aber inzwischen und habe dem Handwerk die Sorge genommen. Trotzdem plädierte der Vertreter des Handwerks nachdrücklich für eine Strategieänderung in der Arbeitsmarktpolitik. Als die "bessere Möglichkeit" bezeichnete der Verbandsvertreter die direkte, zweckgebundene Zuwendung an eine Kommune.

Offensichtlich entwickelt sich das Handwerk in der vermeintlichen Konkurrenz zu Beschäftigungsgesellschaften und anderen ABM-Trägern gut, und die Perspektiven sind weiter positiv. So wurden 1991 in den neuen Bundesländern im Vergleich zum Vorjahr 51 Prozent oder 28 000 mehr Ausbildungsplätze angeboten; der Bestand lag 1991 bei 67 200. Die Zahl der Handwerksbetriebe stieg im gleichen Zeitraum um 28 Prozent auf 128 000, die Zahl der Beschäftigten stieg um 13 Prozent auf 540 000. Nach den vom Verbandsvertreter zitierten Worten des Präsidenten des Handwerksverbandes liegt die Zielvorgabe für 1992 bei 30 000 neuen Arbeitsplätzen. Um eine solide Entwicklung zu ermöglichen, verzichtet das Handwerk freiwillig auf die Verlängerung einer Subvention des Bundesbildungsministers von 5000 Mark pro Ausbildungsplatz.

Wenn in den neuen Bundesländern irgendwann einmal eine den alten Ländern vergleichbare Wirtschaftsstruktur entsteht, so bedeutet das, daß im Handwerk noch drei- bis vierhunderttausend neue Arbeitsplätze zu den jetzigen hinzukommen. Diese Zielzahl ist allerdings nicht ganz unumstritten, weil sie sich nicht auf die Zahl der Beschäftigten, sondern auf die Bevölkerungszahl bezieht. An der Bevölkerung gemessen, deren Zahl mit der Nachfrage nach Handwerksleistungen ja in einem engen Zusammenhang steht, ist die Schätzung allerdings noch vorsichtig. Bei einem Bevölkerungsverhältnis von eins zu vier zwischen neuen und alten Ländern entspräche den vier Millionen Beschäftigten im Handwerk des Westens eine Million im Osten. Hinzu kommt der große Nachholbedarf im Bauwesen.

[Seite der Druckausg.: 16]

Als Verdeutlichung der Dimension von Angebot und Nachfrage auf dem seines Namens kaum werten Arbeitsmarkt der neuen Bundesländer blieb den Teilnehmern des "Wirtschaftspolitischen Diskurses" vor allem eine Zahl im Gedächtnis: Bei den Arbeitsämtern zwischen Saßnitz und Plauen sind zur Zeit nur 30 000 offene Stellen gemeldet. Die meisten davon sind Stellenangebote für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die aus regionalen Gründen nicht sofort besetzt werden können. Angesichts dieses Umstandes mag potentiellen Kritikern gigantischer Auffangmaßnahmen ein wenig der Mut zum Vortrag gefehlt haben.

Page Top

3.2 Ordnungspolitische Übereinstimmung

Einigkeit herrschte auf dem "Wirtschaftspolitischen Diskurs" nicht nur über die Notwendigkeit des Brückenschlags. Vielmehr wurde auf allen Seiten betont, daß der Brückencharakter der Beschäftigungsgesellschaften bzw. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhalten bleiben müsse. Ziel müsse stets die Schaffung dauerhafter und wirtschaftlicher Arbeitsplätze sein. Sogar der Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes stellte fest, daß Beschäftigungsgesellschaften und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern keine Dauerlösung sein könnten. Schließlich seien sie es im Westen auch nicht geworden, und wer realistisch sei, könne nicht daran vorbei, die Systeme in beiden ehemaligen deutschen Staaten einander anzugleichen. Dennoch wurden mit Emphase immer wieder Probleme diskutiert, die auf einen ungelösten und möglicherweise unlösbaren Zielkonflikt zwischen Personenförderung und Wirtschaftsförderung schließen lassen.

Die Wörter "erster" und "zweiter" Arbeitsmarkt wurden in Frage gestellt, ohne daß sich hinter der Problematisierung ein Dissens über die Begriffe verborgen hätte. "Zweiter Arbeitsmarkt", wurde eingewandt, das klinge diskriminierend. Das Wort werde im Westen gebraucht für "Problemfälle" auf dem Arbeitsmarkt, Menschen, die auf Grund geringer Qualifikation, vorgerückten Alters oder körperlicher oder mentaler Behinderung nicht in der Lage seien, ihre geringe Arbeitskraft auf dem freien, ersten Arbeitsmarkt zu verkaufen. Dahingegen habe man es in den neuen Bundesländern durchweg mit hochqualifizierten und -motivierten Arbeitnehmern zu tun. In der Tat ist die Begrifflichkeit etwas irreführend: Wenn es keinen "ersten" Arbeitsmarkt gibt, kann man auch schlecht von einem "zweiten" sprechen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

Previous Page TOC Next Page