FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 9]

III. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Thüringen

Mit der Entscheidung einer sofortigen und umfassenden wirtschaftlichen und politischen Integration der DDR in die Bundesrepublik wurde ein ökonomischer und sozialer Prozeß in Gang gesetzt, der zu einer weitgehenden Auflösung von Produktionsstrukturen in Ostdeutschland geführt hat. Die schlagartige Öffnung der im Vergleich zur westdeutschen Industrie bei weitem weniger effektiven DDR-Industrie gegenüber dem internationalen Wettbewerb und der Aufwertungseffekt der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 (ca. 300%) haben zu einer fortschreitenden Zerstörung der in der DDR über Jahrzehnte entstandenen inneren branchen- und regionalwirtschaftlichen Verflechtung sowie der Einbindung vornehmlich in den osteuropäischen Wirtschaftsraum geführt.

Die De- und teilweise Entindustrialisierung Ostdeutschlands ist nicht mehr nur Gefahr, sondern weitgehend vollzogen. Drei Jahre nach der Öffnung der Grenze sind zwei Drittel der industriellen Kapazitäten stillgelegt, und es gingen in diesem Zeitraum gut 40 Prozent aller Arbeitsplätze verloren. Mitte 1992 waren das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern auf weniger als 60 Prozent und die Industrieproduktion auf weniger als ein Drittel des Niveaus von 1989 gesunken. Ehemals starke Industrieregionen haben kaum noch aus eigener Kraft heraus Entwicklungspotentiale, ländliche Regionen mit zuvor vereinzelten Industriestandorten sind entindustrialisiert. In der Landwirtschaft hat es eine beispiellose Vernichtung von Produktions-, Beschäftigungs- und Einkommenspotentialen gegeben. Die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen ist von 850.000 in 1989 auf knapp 200.000 Ende 1992 zurückgegangen; 600.000 Hektar, das sind mehr als 10 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, wurden bisher brachgelegt. Nach wie vor werden mehr Arbeitsplätze beseitigt als neue geschaffen. Seit 1989 haben bis Ende 1992 von ehemals 8,7 Mio. mehr als drei Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren: 1,1 Mio. Arbeitslose, 840.000 Bezieher von Altersübergangs- und Vorruhestandsgeld, 370.000 ABM-Beschäftigte, knapp 500.000 in Maßnahmen der Umschulung und Weiterbildung und 450.000 Pendler in die alten Bundesländer. Die noch verbliebenen Arbeitsplätze in der Industrie werden zum großen Teil durch Transferzahlungen aus Westdeutschland gestützt (Erhaltungs- und Sanierungssubventionen, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Finanzierung öffentlicher Investitionen). Davon

[Seite der Druckausgabe: 10]

profitieren außer den Unternehmen der Treuhandanstalt (THA) der Bausektor und seine Zulieferungen, verbrauchsnahe Produktions- und Dienstleistungszweige (Handel, Versicherung, Kreditgewerbe) und in engen Grenzen der sog. Mittelstand (auch Handwerk).

Einen beschäftigungsstarken Mittelstand gibt es auch 1992 noch nicht. Von den 670.000 Gewerbeanmeldungen waren nur rund 41 Prozent wirtschaftlich tatsächlich aktiv; von den neugegründeten Unternehmen entfallen 48 Prozent auf den Dienstleistungssektor, 45 Prozent auf den Handel und nur 7 Prozent auf die Industrie. Bei den als "Mittelstand" ausgewiesenen Unternehmen handelt es sich wesentlich um Kleinbetriebe mit einer im Vergleich zu den alten Bundesländern geringen Zahl von Arbeitsplätzen. Die Investitionsbereitschaft beim Mittelstand wird geringer. Das hat wohl damit zu tun, daß Großinvestoren, die in der Regel mittelständische Dienstleistungen oder auch Zulieferungen nach sich ziehen, sich angesichts des hohen Kapazitätsaufbaus in Westdeutschland in den letzten Jahren und angesichts des einsetzenden Konjunkturabschwungs mit Investitionen ihrerseits seit geraumer Zeit sehr zurückhalten.

Die seit der Wirtschafts- und Währungsunion angestoßenen De- und Entindustrialisierungsprozesse in Ostdeutschland haben zu einer inzwischen sehr weitgreifenden Auflösung sektoraler und regionaler Wirtschaftskreisläufe geführt. Es sind auch in Regionen mit guten Voraussetzungen bisher kaum neue wirtschaftliche Verflechtungen entstanden, zu einem investiven Neuaufbau ist es nur in wenigen Fällen gekommen. Die Marktverluste bisheriger, ortsansässiger Produzenten werden durch Produktionskapazitäten der alten Bundesländer ausgeglichen; so ist es zu einer Art "Filialökonomie" in Ostdeutschland gekommen, die gegenüber Konjunkturschwankungen sehr anfällig ist.

Die weitere Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft steht in einem engen Zusammenhang zum künftigen Verlauf der weltwirtschaftlichen Konjunktur, der davon entscheidend mitbeeinflußten rezessiven bzw. Abschwungentwicklung in den alten Bundesländern und den wiederum davon ausgehenden Wirkungen auf die ostdeutsche Wirtschaft. Es gibt durchaus ernstzunehmende, düstere Voraussagen, die die Bundesrepublik vor ihrer schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit sehen.

[Seite der Druckausgabe: 11]

Die gesamtstaatliche Ausrichtung der Produktionsstrukturen Thüringens sah zu DDR-Zeiten als regionale Entwicklungskonzeption Industriezentren vor. Eine der Begründungen war, die Landschaft als Erholungsraum und als (groß-)agrarische Nutzfläche nicht zu zersiedeln. Die forcierte Industrialisierungsstrategie der DDR seit den 70er Jahren konzentrierte die Kapazitäten auf die Bezirks- und Kreisstädte. Zwar ist Thüringen in allen Landesteilen industriell relativ gut erschlossen, doch im Zuge des Ausbaus der industriellen Zentren blieb die Zuführung der Investitionsmittel unausgewogen. Das hatte unter regionalwirtschaftlichen Aspekten zur Folge, daß vor allem größere Standorte mit Investitionsmitteln bevorzugt ausgestattet wurden und mittlere und kleinere Betriebsstätten und -standorte baulich und ausrüstungsmäßig zurückblieben; da außerdem die vertikale Arbeitsteilung in den Kombinaten besonders vorangetrieben wurde, fand eine effektive innere wie äußere Vernetzung der Standorte nicht statt.

So weist zwar die thüringische Industrie zugleich eine vielfältige Struktur wie auch eine relativ geringe standörtliche Konzentration auf; die industriellen städtischen Zentren Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Jena und Gera reihen sich entlang der Autobahn von West nach Ost; zugleich bildete sich aber eine nicht geringe Zahl von potentialschwachen Randregionen und Kreisen heraus (z.B. Nordwesten: Heiligenstadt; Zentralthüringen: Langensalza und Erfurt-Land; Südthüringen: Schleiz, Lobenstein und Meiningen). Die Dominanz der Kombinate hat die flächendeckende Ausrichtung von Klein- und Mittelbetrieben des produktionsnahen Dienstleistungssektors in den thüringischen Kreisregionen verhindert. Industrie und Gewerbe sind monostrukturiert.

Die regionale Einseitigkeit der Branchenstruktur erhöht im Umbruchprozeß zur Marktwirtschaft die akute Krisengefahr für die ökonomisch-soziale Entwicklung ganzer Regionen. Eine der wichtigsten zukünftigen Aufgaben wird darin bestehen, die industriellen und gewerblichen Monostrukturen - soweit sie noch vorhanden sind - in der Region auszugleichen.

Was für die Industriebezirke gilt, trifft auch auf die landwirtschaftlichen Regionen zu: es gibt sowohl Ackerbaustandorte mit guten Erträgen, die sich vornehmlich in Zentralthüringen befinden, wie aber auch Randlagen (z.B. Eichsfeld und der südliche Harzrand), in denen es seit 1990 zu Flächenstillegungen gekommen ist und noch weiterhin kommen wird, und die für eine Vielzahl der dortigen landwirtschaftlichen Betriebe das Ende der Existenz bedeuten. Wie weit es insgesamt gelingt, Beschäftigungsalternativen in anderen Zweigen

[Seite der Druckausgabe: 12]

Dienstleistungssektor, Fremdenverkehr - aufzubauen, muß skeptisch beurteilt werden.

Im Land Thüringen waren am 30.11.1990 insgesamt 1.209.000 Menschen beschäftigt, von denen 63.104 bzw. 5,2 Prozent im Dienstleistungssektor arbeiteten. Im Gastgewerbe waren lediglich 16.782 tätig. Da in der Statistik der Landesämter nur Betriebe mit mehr als neun Beschäftigten erfaßt werden, fehlt der Anteil der in kleinen Betrieben Beschäftigten und derjenigen, die z.B. Privatzimmer im Nebenerwerb vermieten. Dennoch dürfte die Zahl zu gering sein, als daß sich eine von ihr ausgehende Erwartung an den Tourismus als Wirtschaftsfaktor mit "Lokomotivfunktion" absehbar als Zukunftsmusik erweisen dürfte. Seit der Wende 1989 hat die Wirtschaft Thüringens Ein- und Umbrüche erlebt, deren Auswirkungen noch nicht endgültig abzuschätzen sind. Arbeitsplätze - vor allem in der Industrie und Landwirtschaft - gingen in erheblichem Umfang verloren. So wurden in den Bereichen Bergbau und verarbeitendes Gewerbe im Dezember 1990 2237 Mio. DM umgesetzt, im August 1992 waren es nur noch 996 Mio. DM. Das ist ein Rückgang um mehr als 55 Prozent. Mit 26,3 Mrd. DM erbrachte Thüringen 1991 0,9 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung der Bundesrepublik (bei einem Flächenanteil von 4,6 Prozent und einem Bevölkerungsanteil von 3,4%); im Vergleich des Anteils der neuen Länder liegt Thüringen mit 14,4 Prozent an vorletzter Stelle (Sachsen 28,8%, Sachsen-Anhalt 17,9%, Brandenburg 17%). Die Umsatzentwicklung 1992 ähnelt der abwärtsweisenden von 1991, jedoch auf noch niedrigerem Niveau. Extrem niedrig ist der Auftragseingang im Investitionsgüter produzierenden Gewerbe (61,7% der Aufträge des vorhergehenden Jahres). Allein im Baugewerbe hat sich 1991 eine positive Entwicklung vollzogen: von Januar bis Dezember hat sich der Gesamtumsatz von 191 Mio. DM auf 552 Mio. DM fast verdreifacht, die Entwicklung für 1992 zeigt zwar noch immer eine steigende Tendenz, erreicht die Steigerungen von 1991 aber nicht mehr. Bei den Gewerbebetrieben herrschte auch in den ersten Monaten 1992 außerordentlich große Bewegung. Es gab viele An- und Abmeldungen mit einem deutlichen Abwärtstrend: Während zu Beginn des Jahres 1991 auf vier Gewerbeanzeigen eine Abmeldung kam, waren es zum Jahresende 1991 eine Abmeldung auf 2,8 Anzeigen und Ende Mai 1992 eine Abmeldung auf 1,7 Anzeigen. Im Mai 1992 ergab der Saldo von An- und Abmeldungen folgende Struktur: es entstanden Betriebe zu 8 Prozent als Industriebetriebe, 7,7 Prozent im produzierenden Handwerk, 33 Prozent im Handel, 51,5 Prozent son-

[Seite der Druckausgabe: 13]

stiges (Dienstleistungsgewerbe, Gastgewerbe, Verkehrsbetriebe sowie Versicherungsgewerbe). Für den Stellenwert der Gewerbentwicklung für den Arbeitsmarkt ist es wichtig anzumerken, daß 1991/92 ca. 70 Prozent der angemeldeten Gewerbe Einzelunternehmer sind, die nur für sich einen Arbeitsplatz schaffen.

Aus den Zahlen des Thüringer Landesamtes für Statistik lassen sich Auswirkungen auf die soziale Lage in Thüringen ableiten. In den letzten zwei Jahren haben ca. 72.000 Männer und Frauen Thüringen verlassen, davon waren zwei Drittel im Alter zwischen 18 und 40 Jahren. Im Oktober 1992 registrierten die Arbeitsämter 180.100 Arbeitslose, darunter 58.700 Männer und 121.400 Frauen. 51 Prozent der Erwerbslosen sind in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren.

Die Quoten sind in einzelnen Arbeitsamtsbezirken sehr unterschiedlich, sie reichen von Jena mit 11,9 Prozent über Gera mit 12,5 Prozent, Erfurt mit 12,7 Prozent und Weimar mit 11,9 Prozent bis 20,8 Prozent in Altenburg, Nordhausen 16,5 Prozent und Suhl mit 15,1 Prozent. Der Ausweis der Arbeitslosenzahlen allein engt das tatsächliche Problem quantitativ ein und bildet die Wirklichkeit daher nur unvollständig ab. Genauer aufgeschlüsselt ergibt sich im Oktober 1992 folgendes Bild: 723.200 Personen hatten keinen vollwertigen Arbeitsplatz (das sind 54 Prozent der Beschäftigten), darunter



Erwerbslose

180.100

Altersübergang

95.700

Bildung, Umschulung

93.100

Pendler

88.000

AB-Maßnahmen

62.100

Kurzarbeit

46.900

Vorruhestand

44.800

Stille Reserve

112.500

(Quelle: DGB Thüringen 10/92).




Im Jahr 1991 entstand das Bruttosozialprodukt Thüringens zu 34 Prozent aus dem produzierenden Gewerbe, zu 15 Prozent aus Handel und Verkehr, zu 24 Prozent aus dem Dienstleistungsgewerbe, zu 2 Prozent aus der Landwirtschaft und zu 25 Prozent aus Tätigkeiten des Staates, privater Haushalte und Organisationen ohne Erwerbszweck.

[Seite der Druckausgabe: 14]

Thüringen gilt als klassisches Land für den Mittelstand. Siedlungsstruktur und geographische Lage geben diese Struktur nach Ansicht der Landesregierung auch für den Wiederaufbau bzw. Ausbau für die zukünftige Entwicklung vor. Zur Zeit kann sich das Handwerk am besten behaupten, es gibt ca. 25.000 Betriebe, in denen rd. 120.000 Beschäftigte ihr Auskommen finden. Da das Umfeld von industrieller Produktion längst nicht im wünschenswerten Umfang vorhanden ist, nimmt die Weiterentwicklung dieses Wirtschaftszweiges keinen optimalen Verlauf. Abgesehen von den Einschränkungen, die fehlende Industrieaufträge und zu geringe Kaufkraft bilden, ist die Immobilien-Problematik ein Hemmnis. Die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von industriellen Kernen erscheint unverzichtbar. Auf Grund der objektiven Gegebenheiten wie Verkehrsadern (Bundesautobahnen Nord-Süd/Ost-West) und Arbeitskräftepotential (ein hoher Anteil gut ausgebildeter Facharbeiter) sowie traditioneller Industrien könnten sich Wirtschaftsräume bilden, die wie "Leuchttürme" (L. Späth) der wirtschaftlichen Entwicklung wirken und einen "Mitzieheffekt" auf schwächere Regionen ausüben könnten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

Previous Page TOC Next Page