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1. Sitzung: Demokratieprobleme in der Europäischen Gemeinschaft

Gerhard Schmid:

Ein Ziel der Verhandlungen in Maastricht war es, die Demokratisierung der EG ein Stück weiter voran zu bringen. Dieses Ziel ist zwar - gemessen an den Vorstellungen des Europäischen Parlaments - nicht völlig verfehlt, aber doch nur teilweise erreicht worden. Warum aber brauchen wir überhaupt mehr Demokratie in der EG als in der Vergangenheit? Der Grund hierfür liegt in der Fortentwicklung der EG, die sich zur Zeit irgendwo auf ihrem Weg vom Zollverein zum Staat befindet. Während man anfänglich die Rechtsetzung durch den Ministerrat noch als bloßen Erlaß von Rechtsverordnungen - mit dem EWGV als Gesetz - betrachten konnte, kommt ihr jetzt eine andere Qualität zu. Heute werden zum einen durch europäisches Recht Bereiche geregelt, die weit über den Binnenmarkt hinausgehen (z.B. Umweltschutz). Zum anderen wird der Spielraum bei der Umsetzung von EG-Vorschriften in nationales Recht immer enger; dies geht sogar soweit, daß Bürger Schadenersatzansprüche gegen ihre Regierung wegen Nichtumsetzung von EG-Recht haben können. Vor diesem Hintergrund besteht ein dreifaches Demokratiedefizit in der EG:

(1) Die Rechte des Europäischen Parlaments sind nicht ausreichend. In einigen Bereichen wird das Europäische Parlament nur angehört und kann nur der Herstellung von Öffentlichkeit dienen. In anderen Bereichen hat das Europäische Parlament Mitwirkungsrechte, die man verkürzt als "Vetorecht zusammen mit einer Regierung" bezeichnen kann. Schließlich gibt es aber auch Bereiche, in denen das Europäische Parlament ein "eigenes" Vetorecht hat, d.h. Bereiche mit echter Kodezision. Diese Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments reichen - und dies nicht nur gemessen am deutschen Standard des Parlamentarismus - nicht aus. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß sich die bisherige, schwache Stellung des Europäischen Parlaments teilweise auch mit unterschiedlichen Konzeptionen und Traditionen des Parlamentarismus in den verschiedenen europäischen Ländern erklärt. So entscheidet z.B. das englische Parlament nicht, wie der

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deutsche Bundestag, über Krieg und Frieden. Und nicht die Assemblee Nationale selbst, sondern die Regierung bestimmt die Tagesordnung des Parlaments; französischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments ist schwierig zu erklären, warum das Europäische Parlament mehr Rechte haben sollte als die Assemblee Nationale.

(2) Das Demokratiedefizit in der EG beschränkt sich nicht auf die Stellung des Europäischen Parlaments. Zur Demokratie gehören nicht nur Rechte der Volksvertretung, sondern auch die Information des Volkes über die Aktivitäten der Volksvertretung. Auch im Hinblick auf diesen zweiten Aspekt der Demokratie besteht ein erhebliches Defizit - allerdings aus Gründen, die nicht in der Hand des Europäischen Parlaments liegen.

(3) Mehr Demokratie in der EG würde schließlich auch bedeuten, daß die Verfahren einfacher und klarer und die Verantwortlichkeiten für eine Entscheidung nachvollziehbarer werden. Die gegenwärtig angewandten Verfahren mit ihren unterschiedlichen Einwirkungs-, Mitwirkungs- und Beschlußmöglichkeiten sind zu kompliziert und selbst für gut informierte Außenstehende zu schwierig zu durchschauen.

Das beschriebene Demokratiedefizit hat im Deutschen Bundestag - im Zusammenhang mit der Verfassungsreform - zu Bestrebungen geführt, einen Europa-Ausschuß mit Beschlußkompetenz einzurichten. Der Ansatz, das Verhalten der Bundesregierung im Ministerrat parlamentarisch kontrollieren zu wollen, ist zwar richtig. Das Demokratiedefizit kann dadurch allein aber nicht behoben werden und zwar aus zwei Gründen:

(1) Europäische Politik besteht - genauso wie nationale auch - aus Kompromissen. Ein Teil der parlamentarischen Kontrolle ist damit die Kompromißnotwendigkeits-Kontrolle. Die Einschätzung, ob ein bestimmter europäischer Kompromiß notwendig ist oder nicht, kann ein nationales Parlament nicht vornehmen, denn Voraussetzung dafür ist die ständige Kommunikation mit den am Kompromißprozeß Beteiligten. Das deutsche Parlament kann nicht einschätzen, wie wichtig etwas an einer bestimmten Stelle z.B. für Spanier und Franzosen ist.

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(2) Die vorgesehene Art der parlamentarischen Kontrolle bedeutet nur eine Kontrolle darüber, ob die Regierung sich im gesamtnationalen Interesse richtig verhält. Der regionale Aspekt gerät dabei völlig aus dem Blickfeld. Demokratische Kontrolle hat auch einen regionalen Aspekt. Dieser findet Berücksichtigung nur über gewählte Abgeordnete (des Europäischen Parlaments), nicht aber über einen Ausschuß des nationalen Parlaments.

Eine abschließende Bemerkung: Der Maastricht-Vertrag ist ohne Frage nicht perfekt. Dies gilt, wie aufgezeigt, im Hinblick auf das Demokratiedefizit, aber durchaus auch in anderer Hinsicht. Verfahrensrechtlich wäre es nach dem dänischen Nein unstreitig möglich, einen neuen Maastricht-Vertrag auszuhandeln. Ob dies aber politisch möglich und wahrscheinlich ist, ist eine andere und die entscheidende Frage. Mein "Ja" zum Maastricht-Vertrag ist das Ergebnis einer längeren, komplizierten Güterabwägung, wobei zentral die folgende Überlegung ist: Die EG ist in der Vergangenheit durch zwei Dinge zusammengehalten worden, zum einen durch ihren eigenen ökonomischen Integrationsprozeß und zum anderen durch den Ost-West-Konflikt. Diese zweite Klammer fällt jetzt weg. Was passiert, wenn auch die erste Klammer fehlt, sieht man im ehemaligen Jugoslawien und in der GUS. In der EG haben wir glücklicherweise die erste Klammer; die ökonomische Integration verhindert den automatischen Rückfall in den alten Nationalismus. Es ist jetzt eine - wissenschaftlich nicht zu lösende - Einschätzungsfrage, ob über den Binnenmarkt hinaus noch eine zusätzliche Verklammerung notwendig ist, "damit es hält". Ich gehöre zu denen, die diese Frage bejahen. Aus diesem Grunde habe ich im Europäischen Parlament den Maastricht-Vertrag trotz seiner Schwächen befürwortet, denn bei den heutigen desintegrativen Tendenzen in Europa wird ein ähnlicher Vertrag - wenn denn ein solcher in den nächsten 10 Jahren überhaupt noch einmal zustande kommen sollte - die erreichte Qualität nicht mehr haben.

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Christian Kirchner:

Der Vertrag über die Europäische Union (EDV) überträgt der Gemeinschaft - jetzt also der Europäischen Union (EU) - eine Reihe von Kompetenzen, die weit über die Zielsetzung eines europäischen Binnenmarktes hinausgehen, die vielmehr der Ansatzpunkt für die Bildung einer neuen politischen Einheit mit eigenen - nicht abgeleiteten - Machtbefugnissen sind. Diese Entwicklung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Europäischen Union ist zu begrüßen. Sie eröffnet die Chance, daß sich in Europa ein staatenübergreifendes demokratisches Gemeinwesen bildet, das sozusagen das Dach für das aus den einzelnen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bestehende Gebäude bildet. Dieser Prozeß der Bildung einer neuen politischen Einheit Europa, der seit Abschluß des Montanunion-Vertrages im Jahre 1951 stetig vorangeschritten ist, wirft aber ganz spezifische Probleme der demokratischen Legitimation der neuen Machtstrukturen auf. Diese Probleme einer demokratischen Legitimation bezüglich derjenigen Kompetenzen, die auf Organe der Europäischen Gemeinschaft bisher übertragen worden sind, gewinnen eine neue Qualität durch den Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), da sich nunmehr die Herausbildung einer politischen Union, nicht mehr nur einer Wirtschaftsgemeinschaft, abzeichnet.

Für eine solche politische Union hat eine Gruppe deutscher Hochschullehrer der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Juni letzten Jahres [Fn. 1: "Dieser Vertrag von Maastricht sollte nicht ratifiziert werden", Erklärung folgender Hochschullehrer: Peter Bernholz, Ulrich Immenga, Christian Kirchner, Joachim Rücken, Dieter Schmidtchen, Christian Starck, Manfred E. Streit, Roland Vaubel, Handelsblatt vom 26./27.6.1992, Nr. 121, S. 8. ] gefordert, daß sie an folgenden Zielen auszurichten ist:

  • eine klare und rechtlich wirksam gesicherte Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten;
  • eine verbesserte Kontrolle der Exekutive durch die Mitgliedstaaten und die anderen Institutionen der Gemeinschaft (gesetzgebende und rechtsprechende Organe);
  • ein System des freien Wettbewerbs, das weder durch interventionistische Maßnahmen einer zentralisierten europäischen Bürokratie noch durch

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marktwidrige Aktivitäten der Mitgliedstaaten gefährdet werden darf.

Zwei dieser Ziele betreffen das Demokratieproblem einer europäischen Union.

Betrachtet man das Problem demokratischer Herrschaftsformen in hierarchisch gegliederten Organisationen, so gibt es grundsätzlich zwei Regelungsformen, die am besten an einer zweistufigen Organisation dargestellt werden können. Auf der unteren und der oberen Ebene können Entscheidungsträger tätig werden, die jeweils ihre Legitimation durch Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen - etwa in Form von Wahlen -herleiten. Beide Entscheidungsträger weisen dann voneinander unabhängige Legitimationen auf. Diese Legitimation hängt nun unter anderem davon ab, wie stark sich die jeweils angesprochenen Wähler mit dem Entscheidungsorgan identifizieren, wieweit sie dessen Tätigkeiten kontrollieren und bei Abweichungen dieser Tätigkeiten von ihren Sollvorstellungen in der folgenden Wahl korrigierend eingreifen. Die Legitimation ist also in gewisser Hinsicht abhängig von der Intensität der Kontrolle des Entscheidungsorgans durch die Wähler. Bei einer Verlagerung auf eine höhere Ebene bedeutet dies also konkret die Gefahr, daß die Wähler wegen einer gewissen "Ferne" der Entscheidungen nur sehr schwach auf den betreffenden Entscheidungsträger Einfluß nehmen. Im Rahmen der Agency-Theorie handelt es sich um einen Fall, in dem der Prinzipal dem Agenten nur sehr unvollkommene Ziele vorgibt und folglich auch die Zielrealisierung nur sehr unvollkommen kontrolliert. Dies heißt auf der anderen Seite, daß der Prinzipal über weite unkontrollierte Verhaltensspielräume verfügt.

In der zweiten Regelungsvariante leitet die Entscheidungsinstanz der höheren Ebene ihre Kompetenz vom Entscheidungsorgan der unteren Ebene ab. Die Rückkoppelung zu den Herrschaftsunterworfenen erfolgt nunmehr vermittelt. Diese können nunmehr die höhere Entscheidungsebene nur noch dergestalt kontrollieren, daß sie Einfluß auf die von ihnen direkt Gewählten nehmen. Da diese Wahlakte aber nicht allein das Handeln der Entscheidungsträger der unteren Ebene auf der höheren Ebene betreffen, sondern viele andere Arten von Entscheidungen zugleich, besteht die Gefahr, daß ein Kontrolldefizit bezüglich der höheren Entscheidungsebene auftritt. In der Agency-Theorie ist hier die Rede von einer Verlängerung der Agency-Kette, die zwangsläufig zu

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einer Verdünnung der Kontrollmöglichkeiten des Agenten über den Prinzipal führt.

Beide Organisationsformen weisen also bezüglich einer demokratischen Legitimation von Herrschaftsausübung erhebliche Gefahren auf. In den bisher angestellten Überlegungen war davon ausgegangen worden, daß die Kompetenzabgrenzung zwischen beiden Ebenen von Entscheidungsträgern klar durchgeführt worden ist, daß aber dennoch im Ergebnis Kontrolldefizite bezüglich der Entscheidungen, die auf der höheren Ebene getroffen werden, auftreten können. Das Problem nimmt dann eine neue Dimension an, wenn die Kompetenzabgrenzung als solche nicht klar geregelt ist, sondern die Entscheidungsträger der unteren Ebene es zugleich in der Hand haben, darüber zu befinden, auf welcher Ebene eine bestimmte Entscheidung getroffen wird. Dann können die betreffenden Entscheidungsträger insofern strategisch handeln, als sie jeweils die Entscheidungsebene wählen, auf der sie ein geringeres Maß an Widerstand (Kontrolle) durch die Regelungsadressaten erwarten.

Fazit: Bei Organisationsformen, in denen auf zwei hierarchisch übereinandergelagerten Entscheidungsebenen Herrschaftsbefugnisse ausgeübt werden, tauchen Demokratiedefizite in Form verschlechterter Kontrollmöglichkeiten des Prinzipals durch den Agenten sowohl bei Agency-Ketten als auch bei Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf eine höhere Ebene, auf der die Kontrollrechte faktisch schwächer wahrgenommen werden, auf. Diese Demokratiedefizite werden dann gravierender, wenn es den Entscheidungsträgern auf der unteren Ebene an die Hand gegeben wird, in nicht oder nur schlecht kontrollierter Art und Weise, Entscheidungen entweder auf der unteren oder auf der oberen Ebene anzusiedeln (Verschiebungspotential).

Überträgt man diese Gedanken auf die derzeit vorfindliche Organisationsform der Europäischen Gemeinschaft und auf die im Maastricht-Vertrag anvisierte Organisationsform, so können folgende Eckpunkte ausgemacht werden:

(1) In der Europäischen Gemeinschaft überwiegt bisher die Organisationsform der Agency-Kette dergestalt, daß Entscheidungen des zentralen legislativen Organs (des Ministerrats) getragen werden von den Entscheidungsträgern der

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unteren Ebene und zwar den Regierungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits ihre Legitimation von den nationalen Parlamenten ableiten (bzw. von der Wahl eines Präsidenten, der dann die Regierung ernennt). Die Wähler der nationalen Parlamente bzw. der nationalen Präsidenten entscheiden also simultan über die Art und Weise, wie ihre Agenten von ihren Rechten auf der nächst höheren Ebene Gebrauch machen. Die Agency-Kette ist nun so beschaffen, daß eine Kontrolle dieser Tätigkeiten durch die Adressaten der Herrschaftsausübung nur sehr unvollkommen möglich ist.

(2) Das zweite Organisationsmodell wird insofern verwendet, als das Europäische Parlament an Entscheidungen der Gesetzgebung auf Gemeinschaftsebene beteiligt wird. Der tatsächliche Einfluß ist auf der einen Seite sehr gering; auf der anderen Seite ist die Art der Mitentscheidung so kompliziert, daß jedenfalls für den Wähler eine Kontrolle über diese Art der legislativen Tätigkeit sehr schwer möglich ist. Dies bedeutet, daß die Legitimationsbasis allein über Zustimmungserfordernisse des Europäischen Parlaments kaum merklich verbreitert werden kann, wenn nicht zugleich die Funktion und die tatsächliche Rolle dieses Gremiums erheblich geändert wird.

Fazit: Die Kontrollmöglichkeiten der Herrschaftsunterworfenen bezüglich der Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, sind angesichts der derzeitigen Strukturen und Organisationsformen der Europäischen Gemeinschaft äußerst gering (Demokratiedefizit der EG).

Dieses Demokratiedefizit wurde solange nicht als vorrangiges Problem gesehen, als das Ziel der EG das der Herstellung eines Gemeinsamen Marktes, dann eines Binnenmarktes war. Entscheidungen auf der höheren Ebene waren insofern erforderlich als es galt, die Verkehrsfreiheiten (freier Warenverkehr, freier Personen- und Dienstleistungsverkehr, Niederlassungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) zu realisieren. Dabei konnte es sehr wohl zu Konflikten zwischen nationalen und europäischen Regelungskompetenzen kommen. Die klassische Form, wie den nationalen Regelungsvorbehalten Rechnung getragen wird, ist das Abstellen auf sogenannte zwingende Erfordernisse, die es den Mitgliedstaaten gestatten sollen, selbst in die Warenverkehrsfreiheit einzugreifen. Dieser Gedanke ist indirekt auch in der Einheitlichen Europäischen Akte wieder aufgegriffen worden, die Art. 100a in den EWG-Vertrag eingefügt hat. Die

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Regelungskompetenz der EG wird insofern funktional definiert als sie dort gegeben sein soll, wo es die Herstellung des Binnenmarktes erfordert. Ein betroffener Mitgliedstaat hat dann die Möglichkeit unter bestimmten Voraussetzungen aus der neuen gemeinschaftsrechtlichen Regelung heraus zu optieren.

Neben dieser neuen Kompetenzregelung des Art. 100a EWGV hat das Binnenmarktprogramm der EG, eingeläutet durch das Weißbuch der Kommission aus dem Jahre 1984, aber noch eine andere Art der Lösung eines möglichen Konflikts zwischen der Realisierung des Binnenmarktzieles und der grundsätzlichen mitgliedstaatlichen Regelungsprärogative in allen Gebieten, in denen der EG nicht ausdrücklich die Regelungskompetenz übertragen worden ist (wie etwa im Agrarbereich !) entwickelt: Unabhängig von einer Anpassung der mitgliedstaatlichen Vorschriften wird die entsprechende Verkehrsfreiheit dergestalt erreicht, daß die jeweiligen nationalen Vorschriften als gleichwertig behandelt werden. Dies hat zur Folge, daß zwar unterschiedliche nationale Vorschriften bestehen bleiben können, daß sie aber nicht als Instrument der Segmentierung des Binnenmarktes verwendet werden können. Dies führt zu einem faktischen Druck, die jeweils nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten anzupassen.

Fazit: Der Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher Zielsetzung (Realisierung des Binnenmarktes) und der grundsätzlich anerkannten Souveränität der Mitgliedstaaten in den Bereichen, in denen nicht ausdrücklich Kompetenzen auf die Gemeinschaften übertragen worden sind, ist bisher dergestalt gelöst worden, daß dem Binnenmarktziel Vorrang eingeräumt wird. Die Mitgliedstaaten können sich aber zum einen auf zwingende Erfordernisse zurückziehen; zum anderen wird ein Wettbewerb der jeweils nationalen Regelungen dann eröffnet, wenn zur Durchsetzung des Binnenmarktzieles die jeweiligen nationalen Regelungen aus Sicht des europäischen Rechts als gleichwertig anerkannt werden und dann faktisch in einen Wettbewerb treten.

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Durch den Vertrag über die Europäische Union ergeben sich jetzt weitreichende Veränderungen:

(1) Zunächst zur Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments. Der Art. 189 EGV baut anscheinend das Veto-Recht des Europäischen Parlaments aus und spricht sogar von einer sog. Kodezision. Zu beachten ist aber die Regelung des Art. 189b Abs. 4 EGV. Dort ist das aus dem deutschen Grundgesetz bekannte Modell des Vermittlungsausschusses eingebaut worden. Hiermit wird die Veto-Position von der Mehrheit des Parlaments auf die Mehrheit der Ausschußmitglieder verschoben, d.h. die Agency-Ketten werden verlängert. Im Ergebnis werden damit im Vertrag über die Europäische Union trotz einiger kosmetischer Veränderungen die faktischen Mitbestimmungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments verschlechtert.

(2) Das zentrale Problem aber liegt in der unklaren Abgrenzung der Kompetenzen der Gemeinschaft. Im Vertrag über die Europäische Union werden der Gemeinschaft neue Kompetenzen eingeräumt bzw. schon bisher indirekt in Anspruch genommene Kompetenzen festgeschrieben, die weit über das Ziel der Realisierung des Binnenmarktes hinausgehen. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Umwelt, Bildung und Industriepolitik. Während bisher der EuGH im Hinblick auf die Kompetenzen der Gemeinschaft Sperren einbauen konnte, ist die Kompetenzverteilung nach dem Maastricht-Vertrag ausgesprochen blumig und luftig und nicht mehr justiziabel. Dies führt zum Hauptproblem des Vertrages über die Europäische Union, der Formulierung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 3b [Fn. 2: Es heißt dort: In Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. ] . Dieses aus der katholischen Soziallehre stammende Prinzip ist eigentlich als eine Kontraposition gegen die zunehmende Allmacht des Staates entstanden. Es hat mehr die Qualität eines politischen Programmsatzes, als die eines justiziablen Instrumentes. Dieses Subsidiaritätsprinzip ist jetzt im Maastricht-Vertrag in folgender Form aufgenommen worden: Ausreichend ist jetzt nach Art. 3b EGV für Gemeinschaftsaktivitäten bereits, daß es "zweckmäßiger" ist, eine Aufgabe auf

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Gemeinschaftsebene auszuüben, d.h. daß bei irgendeiner Politik über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus externe Effekte auftauchen. Da mit zunehmender Integration mehr und mehr solcher externen Effekte auftreten, ist Art. 3b EGV in der gegenwärtigen Formulierung keine Abgrenzung gegen die zunehmende Übertragung von Kompetenzen an die Gemeinschaft, sondern de facto eine Ermächtigungsvorschrift.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß im Maastricht-Vertrag eine erhebliche Verschärfung des Demokratiedefizits liegt und zwar in

  • den neugeschaffenen Kompetenzen der Gemeinschaft,
  • der unscharfen Kompetenzabgrenzung,
  • dem Art. 189b Abs. 4 EGV und
  • dem Subsidiaritätsprinzip.

Diese Eingriffe in das Demokratieprinzip sind derartig weitreichend, daß sie insgesamt das System demokratischer Kontrolle in unserem Gemeinwesen aushöhlen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sind kurzfristig folgende Maßnahmen zu ergreifen:

  • Präzisierung der Kompetenzen der Europäischen Union,
  • Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips,
  • Eröffnung zusätzlicher Kooperationsformen zwischen den Mitgliedstaaten und
  • Stärkung des Europäischen Parlaments und zwar nicht nur rechtlich, sondern vor allem auch im Bewußtsein der Bürger.

Diese kurzfristigen, pragmatischen Maßnahmen sind allerdings noch nicht ausreichend, wenn das Ziel einer Europäischen Union langfristig tatsächlich verwirklicht werden soll. Langfristig ist zum einen zu beachten, daß die Gewaltentrennung klarer durchgeführt wird. Akzeptabel ist letztendlich zum anderen nur ein Zweikammersystem - ähnlich wie in den USA - mit einem Europäischen Parlament und einem Senat.

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Diskussion:

Im Verlaufe der Diskussion tauchten immer wieder - bereits von Schmid angesprochen - zwei gegensätzliche Positionen in der grundsätzlichen Beurteilung des Maastricht-Vertrages auf, die sozusagen vor die Klammer zu ziehen sind. Der Maastricht-Vertrag ist nicht perfekt und zwar nicht nur im Hinblick auf das - von allen Seiten festgestellte und beklagte -Demokratiedefizit in der Gemeinschaft. Der schon vor Maastricht durch die Gemeinschaft angestoßene weitreichende Integrationsprozeß ist in den Mitgliedstaaten überhaupt noch nicht verarbeitet bzw. "verdaut" und weder rechtlich noch politisch in seinem ganzen Ausmaß umgesetzt worden. Das dänische Votum gegen den Maastricht-Vertrag könnte der Gemeinschaft jetzt eine Ruhepause verschaffen. Ob eine solche politisch zweckmäßig und möglich ist, wird unterschiedlich beurteilt. Nach einer "Denkschule" ist zunächst einmal die bereits jetzt auf den Weg gebrachte wirtschaftliche Integration zu Ende zu bringen und in ihren Folgewirkungen zu verarbeiten. Die mit dem Maastricht-Vertrag in Richtung auf die Europäische Union unternommenen Schritte erscheinen dieser Ansicht als vorschnell, weil zunächst der erste Schritt zu nehmen und der Binnenmarkt zu bewältigen und zu vollenden sei; gefährdet werde durch das Überstürzen des Integrationsprozesses der gemeinschaftliche Besitzstand, der vielbeschworene "acquis communautaire". Die andere "Denkschule" betont die Notwendigkeit einer europäischen Vision (Bundesstaat) und des Bewahrens der bisherigen Integrationsdynamik. Die Möglichkeit einer Ruhepause besteht nach dieser Ansicht nicht, denn jeder Stillstand - und das wäre ein Scheitern des Maastricht-Vertrages - werde zumindest ein sehr langer Stillstand, wenn nicht gar ein Rückschritt sein und gefährde den "acquis communautaire".

In der Diskussion über die Demokratieprobleme in der Gemeinschaft herrschte grundsätzliches Einvernehmen darüber, daß zur Behebung der Demokratiedefizite die Verbesserung der europäischen Transparenz und die Stärkung des Europäischen Parlaments im Bewußtsein der Bürger entscheidende Bedeutung haben. Begrüßt wurde in diesem Zusammenhang, daß infolge des Maastricht-Vertrages jetzt endlich auch in Deutschland die längst überfällige breite Debatte über die Grundfragen der europäischen Einigung in Gang gekommen ist.

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Die Diskussion orientierte sich an den von Kirchner angesichts der konstatierten Demokratieprobleme vorgeschlagenen kurzfristigen Maßnahmen. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Subsidiaritätsprinzip zuteil. Die Kritik an der Einführung dieses Prinzips und die Forderung nach dessen Präzisierung fand noch einmal vielfache Unterstützung. Hingewiesen wurde zunächst auf den theologischen Ursprung des Subsidiaritätsprinzips (Nell-Breuning ) und dessen durchaus zweifelhafte und unklare Bedeutung bereits in der Theologie. Das Kriterium der Subsidiarität sei völlig injustiziabel und führe zur Politisierung bisher rechtlich geordneter Verfahren. Hierzu wurde folgender Beispielsfall aus der Praxis der EG-Kommission angeführt:

Die Kommission hat jüngst erstmals in der Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik in einem (politisch brisanten) Verfahren über den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung erklärt, sie werde keine Entscheidung treffen, weil das Interesse eines Mitgliedstaates berührt sei; die Begründung für den Verweis der Sache an den Mitgliedstaat lieferte das Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip bringe aber nicht nur, wie in diesem Fall, die Gefahr der Politisierung des für den Binnenmarkt konsitutiven Gemeinschaftsrechts mit sich, sondern gefährde darüber hinaus den bisher erreichten Stand der Integration. Der eigentliche Erfolg der Integration liege in der funktional klar abgegrenzten Kompetenz der Gemeinschaft und dem diesbezüglichen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht im Konfliktfalle. Es sei völlig ungewiß, ob dieser Bereich funktional abgegrenzter Kompetenz mit Vorrang des Gemeinschaftsrechts durch das Subsidiaritätsprinzip berührt ist oder nicht. Wenn dies aber der Fall sein sollte, gefährde der Maastricht-Vertrag den erreichten Stand der Integration.

Gegen die scharfe Kritik am Subsidiaritätsprinzip und an der damit verbundenen unklaren Kompetenzabgrenzung wurde aber auch folgendes zu bedenken gegeben:

(1) Vage formuliere auch das deutsche Grundgesetz in Art. 72 GG das "Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung"; trotzdem sei es durch eine umfangreiche Rechtsprechung zu einer akzeptablen Funktionsteilung gekommen. Zu diesem Gegenargument wurde allerdings vorgebracht, daß das Grundgesetz, anders als die Maastrichter Regelung, einen Kompetenzkatalog enthalte und daher doch konkreter und leichter auslegbar

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sei. Außerdem sei zu beachten, daß selbst die Regelung des Grundgesetzes zu einem schleichenden Verlust der Kompetenzen der Länder geführt habe; das BVerfG habe noch nie nach Art. 72 GG die Kompetenz des Bundes verneint.

(2) Das Subsidiaritätsprinzip erscheine nur nach deutschem Rechtsverständnis von vornherein als zu vage; weniger Sorgen würde es dagegen auf der Grundlage britischen case-law-Verständnisses machen.

(3) Die Befürchtung, der EuGH könne keine Kontrolle über die Kompetenzverteilung mehr ausüben, sei unbegründet. Zwar bringe die Einführung des schwer justiziablen Subsidiaritätsprinzips in der Tat zusätzliche Schwierigkeiten für die Rechtsprechung mit sich, trotzdem bleibe die Kompetenzabgrenzung aber wie bisher eine Aufgabe des EuGH. Im übrigen bestehe schon gegenwärtig die Schwierigkeit der Justiziabilität von Rechtsakten der Gemeinschaft; so sei bereits jetzt kaum durch den EuGH zu überprüfen, ob beispielsweise eine Steuerrechts-Richtlinie der Gemeinschaft durch Art. 100a EWGV gedeckt sei oder nicht. Gegen diesen Gesichtspunkt wurde aber wiederum eingewandt, daß der EuGH mit der funktionalen Begrenzung ( Ist eine Aktivität der Gemeinschaft zur Erreichung des Binnenmarktzieles erforderlich oder nicht ? ) bisher im Vergleich zur neuen Regelung wenigstens ein halbwegs konkretes Kriterium an der Hand gehabt habe.

Erheblichen Bedenken begegnete in der Diskussion über die Demokratieprobleme in der Gemeinschaft der Vorschlag, die Ebene der Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten auszubauen. Die Einführung eines zusätzlichen Verfahrens wurde angesichts der bereits jetzt zu beklagenden Verfahrenskompliziertheit sogar als ein katastrophaler Weg bezeichnet; die Eröffnung zusätzlicher Möglichkeiten mitgliedstaatlicher Einflußnahmen führe letztlich zu völliger Intransparenz der Verfahren. Als negatives Beispiel einer derartigen intergouvernementalen Zusammenarbeit wurde auf Erfahrungen mit der Arbeit beim Europarat verwiesen, die bisher durch weitgehende Bürgerferne gekennzeichnet sei. Gegen die absolute Verwerfung des Vorschlags einer intensiveren Kooperation zwischen einzelnen Mitgliedstaaten wurde folgendes Beispiel aus dem Bereich des Umweltschutzes ins Feld geführt. Angenommen, erforderlich seien

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Maßnahmen zum Schutz der Wasserqualität des Rheines: bedürfte es in diesem Fall wirklich der Aktivitäten der EG-Kommission oder würde nicht vielmehr die Zusammenarbeit der Anrainerstaaten ausreichen?

In der Diskussion stieß schließlich auch der - andererseits jedoch auch unterstützte - Vorschlag einer Stärkung der Stellung des Europäischen Parlaments auf Kritik. Diesem Vorschlag wurde folgende - ökonomisch und soziologisch begründbare - These entgegengestellt: Erhält der Kontrolleur (Europäisches Parlament) mehr Kompetenzen, so wird er dafür sorgen, daß der zu Kontrollierende (EG-Kommission) mehr Macht bekommt, an der er seine Kontrollkompetenz ausprobieren kann. Die Einräumung zusätzlicher Kompetenzen an das Europäische Parlament würde also im Ergebnis zur Stärkung der Zentralisierungstendenzen in der Gemeinschaft führen. In der EG setze sich ganz allgemein eine aus wirtschaftspolitischer Sicht bedenkliche Tendenz zur Zentralisierung durch, die weit über das hinausgehe, was zur Realisierung des Binnenmarktes erforderlich sei. Vor diesem Hintergrund sei große Vorsicht angebracht, wenn es darum gehe, dem Europäischen Parlament zusätzliche Kompetenzen einzuräumen. Als Beleg für die genannte These wurde die Tatsache angeführt, daß das Europäische Parlament den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Delors, das Budget der Gemeinschaft zu erhöhen, sofort begrüßt habe.

Die These, die das Spannungsverhältnis zwischen einer Stärkung der Stellung des Europäischen Parlaments und dem Subsidiaritätsprinzip anspricht, blieb ihrerseits nicht unwidersprochen. Das Europäische Parlament könne der Gemeinschaft keine zusätzlichen Befugnisse übertragen; dies könnten nur die Mitgliedstaaten durch Verträge. Das Problem liege vielmehr darin, daß die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Macht verliehen haben, ohne daß diese in der Ausübung demokratisch kontrolliert ist. Der Sinn einer Stärkung der Stellung des Parlaments sei es, die bereits jetzt bei der Gemeinschaft liegende Macht besser kontrollieren zu können. Mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament bedeuteten nicht mehr Zentralismus in der EG, sondern vor allem mehr Transparenz.

In der Diskussion wurde schließlich noch auf die Bedeutung politischer Parteien als unerläßliche Voraussetzung einer weiteren Demokratisierung in der Gemeinschaft hingewiesen. Die politischen Parteien sind jetzt

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ausdrücklich auch in Art. 138a EGV als wichtiger Faktor der Integration in der Union anerkannt. Wichtig sei es für die Zukunft, über die im Europäischen Parlament bestehenden Fraktionsgemeinschaften hinaus europäische Parteien zu gründen. Erst derartige Parteien könnten als "politische Identifikationspotentiale" einen erheblichen Beitrag zur Legitimation auf der europäischen Ebene erbringen.


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