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[Seite der Druckausgabe: 2]

1. Die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

Mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 wurde die ostdeutsche Wirtschaft schlagartig der Konkurrenz des Weltmarktes ausgesetzt. Dadurch kam es zu dramatischen Produktions- und Beschäftigungseinbußen, die in ihrem Ausmaß die bisherigen Strukturkrisen in den alten Bundesländern bei weitem übertrafen. Infolge der fehlenden nachfrageorientierten Produktionsstruktur sind heimische Absatzmärkte zusammengebrochen. Zugleich ist durch die Umstellung auf konvertible Währungen der Export in die Länder des ehemaligen RGW drastisch zurückgegangen, der 1988 noch eine Quote von 14% der industriellen Warenproduktion bei etwa 1 Mio. Beschäftigte (einschließlich Zulieferbetriebe) ausmachte.

Obgleich die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wegen der konjunkturellen Abschwächung in den westlichen Industrieländern und dem wirtschaftlichen Niedergang in den ehemaligen Ostblockstaaten heute eher zurückhaltend beurteilt werden müssen, mehren sich seit Mitte des Jahres die Anzeichen für eine Stabilisierung von Angebot und Nachfrage, wenn auch auf einem vergleichsweise noch niedrigen Niveau. Insbesondere die Bauwirtschaft und das regional operierende Handwerk verzeichnen in den letzten Monaten deutliche Wachstumsraten und haben bereits Schwierigkeiten, die Produktion den steigenden Auftragseingängen anzupassen. Die Bauwirtschaft als Motor der Volkswirtschaft zieht dabei andere Sektoren nach sich, da sie einerseits Vorprodukte von diesen Sektoren benötigt und andererseits Einkommen schafft, das über den privaten Konsum in anderen Wirtschaftszweigen nachfragewirksam wird.

Weniger optimistisch ist die Lage in Bereichen der konsumnahen Industrie (Textil, Nahrungs- und Genußmittel), im Handel sowie in Branchen, die besonders stark vom Verlust der Exportmärkte betroffen waren und daher - abgesehen von den kurzfristig abgearbeiteten Auftragsbeständen - sehr ungünstige Startbedingungen hatten (Maschinenbau). Dennoch hat sich der Schrumpfungsprozeß in letzter Zeit in diesen Sektoren verlangsamt oder ist sogar zum Stillstand gekommen.

Anzeichen für eine Trendwende in der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands sind also erkennbar. Entscheidend für einen allgemeinen Aufschwung ist nun offenbar, wie rasch es den ostdeutschen Unternehmen auf breiter Front gelingt, wettbewerbsfähig zu werden. Die Hauptschwierigkeiten im Umstrukturierungsprozeß bestehen nach einer Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Sommer 1991 in

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  • Finanzierungsengpässen bei Investitionen,
  • veralteten Produktionstechnologien und fehlender Spezialisierung,
  • unzureichenden Vertriebssystemen und
  • zu hohen Personalbeständen bei gleichzeitig hohen Lohnsteigerungen.

An der Befragung waren nur ostdeutsche Industrieunternehmen beteiligt, die sich in ihrer Mehrzahl noch im Besitz der Treuhandanstalt (THA) befinden. Insbesondere für die bereits privatisierten Betriebe dürfte der Finanzbedarf eine geringere (aber nicht vernachlässigbare) Rolle spielen, da sie im Gegensatz zu den THA-Betrieben umfangreiche Fördermaßnahmen in Anspruch nehmen können. Das Kernproblem im Absatzbereich, nämlich die Entwicklung neuer bzw. die grundlegende Verbesserung bestehender Produkte im Rahmen eines dynamischen Marketingkonzeptes wird von den meisten Betrieben noch unterschätzt.

Obgleich die Mehrzahl der befragten Unternehmen deutliche Umsatzsteigerungen erwartet, wird dem Anstieg der Produktion aufgrund der Lohnentwicklung bei noch geringer Arbeitsproduktivität (derzeit nur 28 % des westdeutschen Leistungsniveaus, bis zum Jahr 2000 erwartet das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung einen Anstieg auf 80 %) ein kräftiger Beschäftigungsabbau gegenüberstehen. Vor allem im Bereich der Werft-, Stahl- und Textilindustrie, im Bergbau, in der Landwirtschaft, im Handel und im Verkehrsgewerbe bestehen beträchtliche Personalüberhänge. Der Abbau von Arbeitskräften insbesondere in der Landwirtschaft und in der Industrie kann dabei nicht, wie anfangs erhofft, durch den Dienstleistungsbereich abgefedert werden. Die ehemalige DDR war mit Dienstleistungen zwar unterversorgt, der Personalbestand allerdings nicht geringer als im Westen. Die Beschäftigungsrelationen (Arbeitsplätze je 1 000 Einwohner) waren 1989 im Landesdurchschnitt nahezu identisch (Ost: 249, West: 248). Der Dienstleistungssektor kann daher insgesamt die Funktion eines Auffangbeckens für die vorgelagerten Sektoren nicht übernehmen; er wird vielmehr mit internen Umsetzungen (Abbau in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Kultur und Verlage, Aufbau von Banken, Versicherungen, Hotels etc.) beschäftigt sein. Das ist ein Ergebnis einer jüngst vorgelegten Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit kann in absehbarer Zeit nur durch den weiteren massiven Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen gedämpft werden. Im Oktober 1991 waren in den neuen Bundesländern ca. 350 000 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) eingesetzt. Die ursprüngliche Zielgröße

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für 1991 von 280 000 ABM-Stellen wurde damit bereits weit übertroffen. Zum Jahresende werden 400 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erwartet. Von den ABM-Stellen entfielen im Oktober auf Thüringen 18,3 %, davon ca. 60 % auf die Regionen Suhl, Gotha und Nordhausen. Außerdem haben in den vergangenen 12 Monaten über 770000 Personen eine berufliche Weiterbildung begonnen, davon
ca. 65 % allein seit Mai 1991. Die Bereitschaft zur Qualifizierung ist also bei den Arbeitnehmern in einem hohen Maße vorhanden.

Insbesondere die zunehmende Ausweitung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wird von der Arbeitgeberseite kritisch beurteilt, da die dauerhafte Konservierung überholter Wirtschaftsstrukturen und eine Behinderung des Aufbaus neuer Unternehmen durch die Konkurrenz der Beschäftigungsgesellschaften um Arbeitskräfte und (insbesondere kommunale) Aufträge befürchtet wird. Außerdem geht die staatliche Unterstützung der Beschäftigungsgesellschaften zu Lasten dringend benötigter öffentlicher Sachinvestitionen. Insofern können Beschäftigungsgesellschaften auch dazu beitragen, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu verhindern.

Das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, das in der alten Bundesrepublik noch auf schwer vermittelbare Randgruppen des Arbeitsmarktes beschränkt war, ist in den neuen Ländern durch die reale Entwicklung zu einem Instrument zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit umfunktioniert worden. Angesichts der sich fortsetzenden Talfahrt auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ist allerdings zu fragen, wie dieses inzwischen etablierte Instrument zukünftig effektiver eingesetzt werden kann, ohne zugleich die Interessen der privaten Wirtschaft zu vernachlässigen. Eine Reform könnte nach Ansicht des Justizministers von Mecklenburg-Vorpommern in der Zeitschrift "Wirtschaftswoche" in

  • einer eindeutigen Regelung der Einsatzfelder für Beschäftigungsgesellschaften,
  • einer Kürzung der staatlichen Subventionen bzw. einer Erhöhung des Eigenanteils des ABM-Trägers evtl. mit zeitlicher Staffelung sowie
  • einer Zulassung von ABM-Stellen im Bereich der privaten Wirtschaft, wenn zugleich Dauerarbeitsplätze geschaffen werden

bestehen. Damit würde nicht nur die Konkurrenz zwischen Beschäftigungsgesellschaften und privaten Anbietern abgebaut, sondern ABM-Kräfte auch an der entscheidenden Stelle beruflich qualifiziert mit der Chance, bei sich bessernder Geschäftslage in ein festes Beschäftigungsverhältnis übernommen zu werden. In die gleiche Richtung, nämlich die konsequente Unterstützung privater

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Betriebe, zielt der Vorschlag der Subventionierung der Lohnnebenkosten für Branchen, die mit ihren Produkten auf dem Weltmarkt konkurrieren, der kürzlich wieder vom ehemaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie aufgegriffen wurde. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die verantwortlichen politischen Entscheidungsträger bereit sind, derartige Vorschläge umzusetzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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