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[Seite der Druckausgabe: 37]

5. Die Verantwortung der Politik für den Erhalt des Chemiestandortes Ostdeutschland

Kooperationen und Engagements marktwirtschaftlich erfahrener Unternehmen, Erfolge bei den Privatisierungsbemühungen der Treuhandanstalt und vor allem auch die Leistungsbereitschaft und Kreativität der ostdeutschen Arbeitnehmer sind notwendige Voraussetzungen, um dem Chemiestandort Ostdeutschland nach Jahrzehnten realsozialistischer Mißwirtschaft eine Perspektive zu geben. Daneben bedarf es auch eines politischen Umfelds, das den Wandel von schwerfälligen Staatsbetrieben zu dynamischen Unternehmungen unterstützt. Dabei spielt nicht zuletzt auch die Solidarität der westdeutschen Chemiebeschäftigten eine Rolle.

Schon bisher mußten die Konzernbetriebsräte in den alten Bundesländer bei geplanten neuen Investitionen ihres Unternehmens darüber entscheiden, welchen der in Betracht kommenden Standorte sie unterstützen wollen. Strukturpolitische Überlegungen wie die Förderung von Arbeitsplätzen in einer wirtschaftlich schwächeren Region gaben dabei immer gewichtige Argumente ab. Im Prinzip hat sich an dieser Entscheidungslage nichts geändert, nur daß zu dem seit Jahrzehnten gewohnten Planungsgebiet eine Region hinzugekommen ist, die der solidarischen Unterstützung ganz besonders bedarf. Zwar haben die unbekümmerten Aufschwungfanfaren, die aus dem Lager der Regierungsparteien noch im Frühsommer 1990 zu vernehmen waren, das Klima für die Entwicklung von Solidarität mit den Menschen aus den neuen Ländern nicht gerade begünstigt - im Osten wurden falsche Hoffnungen genährt, im Westen hatte man der Bevölkerung die erforderlichen Opfer nicht genügend deutlich gemacht -, aber politische Versäumnisse und taktische Kalküle von Regierungsparteien lassen sich ja durch solidarisches Handeln der Arbeitnehmer korrigieren.

Nicht zuletzt die Erfahrungen der IG Chemie-Papier-Keramik unterstreichen, daß mit beharrlichem Einsatz Perspektiven zu schaffen sind. Als die Gewerkschaft bereits im Frühjahr 1990 für den Erhalt der Chemiestandorte in Sachsen-Anhalt eintrat, vermochten weder Parteien noch Arbeitgeberverbände sich dieser Forderung anzuschließen. Das Drängen vieler Menschen aus den betroffenen Regionen hat schließlich dazu geführt, daß heute Konsens über den Fortbestand des Chemiestandortes besteht und Politik, die betroffenen Unternehmen, Gewerkschaften und Investoren in abgestimmter Zusammenarbeit den wirtschaftlich und sozialpolitisch besten Weg für eine Konsolidierung der Industrie finden und gehen müssen.

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Das braucht Zeit, Ideen und vor allem Engagement. Am wenigsten ist dem erforderlichen Engagement Resignation dienlich. Nur derjenige, der Aussicht auf Erfolg seiner Anstrengungen hat, wird auf Dauer in der Lage sein, engagiert an dem Aufschwung der ostdeutschen Chemieindustrie mitzuarbeiten. Die Aufrechterhaltung und Schaffung von Perspektiven ist daher eine der dringlichsten politischen Aufgaben bei der Sanierung der Chemiestandorte.

Weil betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalküle für das einzelne Unternehmen und volkswirtschaftliche Stabilitätsbemühungen für die jeweiligen Regionen nicht gleichsinnig zu optimieren sind, wird sich ein wirtschaftlich und sozialpolitisch verträglicher Weg nur dann finden, wenn man ohne ideologisch getönte Brille danach sucht. Die zügige Privatisierung ist dabei sicherlich ein wichtiges Etappenziel, um für die weitere Konsolidierung unternehmerisches und technisches Know-how sowie privates Kapital nutzen zu können. Aber wenn private Investoren vorerst ausbleiben sollten, dann muß staatliche Unterstützung den Unternehmen die Chance einräumen, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Das hat weniger mit einer Orientierung an überkommenen Vorstellungen vom Staat als Unternehmer zu tun, sondern eher mit dem Bemühen um Chancengleichheit: Eine über Jahrzehnte anhaltende Mißwirtschaft, mangelnde Erfahrungen im internationalen Wettbewerb und der Zusammenbruch angestammter Märkte im Osten sind besondere Schwierigkeiten, die es nicht gerechtfertigt erscheinen lassen, Unternehmen, die nicht nach kurzer Zeit für private Investoren attraktiv sind, als im Prinzip nicht sanierungsfähig der Liquidation zu überlassen.

So ist es verständlich, wenn an die Treuhand die Forderung gerichtet wird, sich bei der Entscheidung über das Schicksal der ostdeutschen Chemiebetriebe nicht nur an der einfachen Alternative schnelle Privatisierung - Liquidierung zu orientieren, sondern, wenn nötig, Sanierungsaufgaben auch über einen längeren Zeitraum wahrzunehmen, sofern ein Betrieb im Prinzip als sanierungsfähig beurteilt werden kann. Hilfen bei der Optimierung der Betriebsführung, bei Investitionen, Innovationen und Produktverbesserungen müßten dabei ebenso möglich sein wie Unterstützungen bei der Erschließung neuer Märkte.

Wenn ein Betrieb allerdings als nicht sanierungsfähig zu bewerten ist, muß in Zusammenarbeit mit Land, Landkreis, Kommune, Unternehmen und Gewerkschaften unter Berücksichtigung der Bedeutung des Betriebes für den regionalen Arbeitsmarkt darüber beraten werden, wie durch ein regionales Entwicklungskonzept der zeitweilige Arbeitsplatzverlust auszugleichen ist. Dabei kommen die Ausgliederung von

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Wettbewerbs- und sanierungsfähigen Betriebsteilen sowie die Einrichtung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften für die betroffenen Arbeitnehmer ebenso in Betracht wie die Entwicklung und Mitfinanzierung örtlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie die Durchführung regionaler Ausgleichsmaßnahmen, zum Beispiel die Bereitstellung von Grundstücken, Ausbildungskapazitäten und Beratungshilfen.

Solche Maßnahmen sowie vorübergehende staatliche Hilfen für sanierungsfähige aber vorerst nicht privatisierbare Betriebe stellen keinen Rückgriff auf staatsinterventionistische Konzepte für die Wirtschaftspolitik dar. Es geht ja nicht darum, den Staat auf Dauer in Verantwortung für die Unternehmen zu halten; im Gegenteil: Der zeitweilig gewährte "Schutz" dient dazu, das Unternehmen fähig zu machen, aus eigener Kraft in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz zu bestehen.

Gewiß besteht das Risiko, Unternehmen, die sich später als doch nicht sanierungsfähig erweisen, zu lange zu unterstützen. Dem gegenüber steht das Risiko, durch ein zu rasches "Aus" Perspektiven der Beschäftigten, vor allem auch der Jugendlichen, zu zerstören sowie die Entwicklungsmöglichkeiten ganzer Regionen zu behindern. Nicht die Verbreitung ideologischer Überzeugungen, sondern kreative Lösungen werden von der Politik erwartet, um die Gratwanderung zwischen gängelndem und blockierendem Staatsinterventionismus auf der einen Seite und der sozialpolitischen Blindheit des kurzfristigen Rentabilitätsdenkens auf der anderen Seite erfolgreich zu meistern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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