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TEILDOKUMENT:




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1. Zur Aktualität des Einsatzes von Instrumenten einer aktiven Arbeitsmarktspolitik in den neuen Bundesländern aus der Perspektive der Zentralen Arbeitsverwaltung

Der Arbeitsmarkt in den fünf neuen Bundesländern befindet sich zur Zeit in einer beispiellosen Umbruchsituation. Die tiefen strukturellen Veränderungsprozesse infolge des totalen Infarkts der Wirtschaft der ehemaligen DDR lassen zerklüftete Bruchzonen erkennen, deren sichtbarster Ausdruck die wachsende Zahl von Arbeitslosen ist. Per Stichtag 30.4.1991 waren:

  • 836.900 Arbeitnehmer ohne Beschäftigung. Die Arbeitslosenquote erreichte damit ein Niveau von 9,5 Prozent;

  • ca. 2.005.000 Arbeitnehmer in Kurzarbeit, wobei jeder vierte Kurzarbeiter einen Arbeitsausfall von 75 bis 100 Prozent hatte;

  • überproportional Frauen von Arbeitslosigkeit betroffen, deren Anteil an den Arbeitslosen auf 56 Prozent anstieg.

Neben diesen besorgniserregenden Strukturdaten des Arbeitsmarktes sind aber auch positive Entwicklungen im Berichtsmonat April 1991 zu verzeichnen:

  • so haben 80.775 Personen (ca. 11 Tsd. mehr als im März) eine Beschäftigung aufgenommen, wobei ca. 42 Tsd. Personen von den Arbeitsämtern vermittelt wurden;

  • mit ca. 49 Tsd. Stellenangeboten bei den Arbeitsämtern wurde der höchste Zugang seit Jahresbeginn registriert;

  • ca. 73 Tsd. Personen traten in Fortbildungs-, Umschulungs- und Einarbeitungsmaßnahmen ein, so daß sich die Zahl der Eintritte seit Jahresbeginn auf ca. 211 Tsd. erhöhte;

  • die Zahl der Beschäftigten in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung stieg um ca. 22 Tsd. auf insgesamt 84.900.

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Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Arbeitsmarktdaten wurde von einem Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung das Problemszenario und der Handlungsbedarf einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern entfaltet. Dabei stellte er fest, daß der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß und seine beschäftigungspolitischen Folgen es nicht dulden können, auf neue Handlungserfordernisse mit alten Handlungsmustern zu reagieren, d.h. die Verhältnisse in den alten Bundesländern mit dem juristisch feingestrickten Netz des Arbeitsförderungsgesetzes formal auf die neuen Länder zu übertragen. Vielmehr ist es vordringliche Aufgabe der Arbeitsverwaltungen in den neuen Bundesländern, einen aktiven Beitrag zur Entwicklung von funktionierenden Arbeitsmärkten zu leisten. In diesem Sinne muß jedoch Arbeitsmarktpolitik in die Felder der Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik eingebunden sein, die eine übergeordnete Verantwortung für den Beschäftigungsstand und die Beschäftigungsstrukturen tragen.

Für die Umsetzung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik sind folgende Rahmenbedingungen erforderlich:

  • Verstärkung der Kooperationen zwischen Akteuren der Arbeitsmarktpolitik auf der Ebene der Arbeitsamtsbezirke (z.B. durch Einrichtung von regionalen Arbeitsstäben);

  • Ausschöpfung des rechtlichen Rahmens im AFG in den neuen Bundesländern;

  • Intensivierung von Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung im Kontext der Entwicklung regionaler Strukturkonzepte;

  • Abbau von Vorurteilen gegenüber Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die als zweitklassige und befristete Beschäftigung angesehen werden;

  • stärkere Einbeziehung von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Personen (z.B. Kurzarbeiter-Null-Arbeitnehmer) in ABM-Tätigkeiten;

  • Optimierung des verwaltungstechnischen Beantragungsverfahrens bei ABM durch Vereinfachung der Antragsformalitäten.

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1.1 Aktivitäten im Bereich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

In den Regierungsbeschlüssen zum Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost vom März 1991 wurde festgelegt, die ursprüngliche haushaltspolitische Zielgröße von ca. 130 Tsd. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um rund 150 Tsd. auf insgesamt 280 Tsd. im Jahr 1991 aufzustocken. Mit dieser quantitativen Expansion sind die Arbeitsämter in den neuen Bundesländern vor Aufgaben gestellt, die von den Arbeitsämtern in den alten Bundesländern mit ihren funktionierenden Verwaltungen nie zu bewältigen waren, so der Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung. Wenngleich Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung anfänglich mit vielen Vorbehalten u.a. bei den potentiellen Adressaten versehen waren, so haben in letzter Zeit die enormen Informationsanstrengungen der Arbeitsämter über dieses Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik dazu geführt, daß bestehende Vorbehalte aufgegeben wurden und somit die realistische Chance besteht, die anvisierten Personenzahlen in ABM-Beschäftigungsverhältnissen realisieren zu können. Die Aktivierung von ABM ist jedoch einerseits vom Gestaltungsspielraum im AFG-Rechts-rahmen, andererseits von der gesamtgesellschaftlichen Perspektive insofern abhängig, als sich die Frage stellt, ob durch ABM-Beschäftigungen wesentliche Grundvoraussetzungen für die ökonomischen, ökologischen und sozialen Revitalisierungsprozesse in den neuen Bundesländern eingeleitet werden können. Hierzu wäre es erforderlich, größere ABM-finanzierte Beschäftigungsprojekte wie z.B. im Rahmen von Beschäftigungsgesellschaften in zukunftsträchtige Perspektiven regionaler Wirtschaftsentwicklung einzubinden und die regionalen Akteure in diesem Prozeß zu involvieren.

Praktiziert (unter Beteiligung der Treuhand) werden gegenwärtig Modelle, daß Betriebe Teilflächen an Kommunen übergeben und die Kommunen mit Hilfe von ABM-Kräften (Arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte) diese überstellten Flächen sanieren. Durch in die AB-Maßnahmen integrierte Qualifizierungsanteile, die bis zu 20 Prozent der ABM-Tätigkeit beanspruchen können, würde gleichfalls eine zielgerichtete Qualifizierungsstrategie betrieben. Damit ergäbe sich idealtypisch, so der Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung, eine Handlungskette, die über ABM, Qualifizierung (integriert oder additiv zur ABM) zu einem neuen Arbeitsplatz führen könnte. Derartige Hand-

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lungsketten würden zugleich großflächige Flickschusterei mit kontraproduktivem Mitteleinsatz vermeiden. Der Vorteil einer diesbezüglichen Vorgehensweise liegt u.a. auch darin, die ABM in einem bestimmten Maße den Bedingungen der Beschäftigtenstruktur anzugleichen. Dies würde insbesondere für die Konstruktion von ABM für Frauen gelten, um ihnen am Arbeitsmarkt neue Beschäftigungsperspektiven zu eröffnen. Insgesamt bedarf es bei der Implementierung von ABM der Herstellung eines tragfähigen gesellschaftlichen Konsens, der die ABM-Aktivitäten in ein Struktur- und regionalpolitisches Investitionskonzept als Basis einer zukunftsorientierten wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklungsperspektive einbettet.

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1.2 Zur Umsetzung von Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung

Die Durchführung von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern stellt neben den Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung ein weiteres Aufgabenfeld der Arbeitsmarktpolitik dar. Seit dem 1.1.1991 waren bis zum Stichtag 30.4.1991 ca. 211 Tsd. Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung zu verzeichnen. Für 1991 ist geplant, ein Gesamtvolumen von ca. 550 Tsd. Eintritten von Personen in Bildungsmaßnahmen mit einem Mittelaufwand von ca. 6,7 Mrd. zu realisieren. Das Erreichen dieses Niveaus wird jedoch davon abhängig sein, ob ausreichend kompetente und seriöse Bildungsträger aus den alten und neuen Bundesländern gefunden werden können, so ein Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung. Von Bedeutung wird ferner sein, daß die mit der Treuhand ausgehandelten Vereinbarungen greifen, daß betriebliche Bildungseinrichtungen für Qualifizierungsprogramme der Arbeitsämter genutzt werden können, und zwar unabhängig davon, ob konkrete betriebliche Bedarfssituationen an den bereitgestellten Qualifikationen bestehen.

Als besonders problematisch für die Initiierung von Qualifizierungsmaßnahmen erweist sich nach wie vor die Tatsache, daß sich eindeutige Qualifizierungsziele im Hinblick auf das Erreichen eines konkreten Arbeitsplatzes im Detail gegenwärtig nicht formulieren lassen. In Anbetracht dieser Situation gelten für die Gestaltung der aktiven Arbeitsmarktpolitik aus der Sicht eines Vertreters der Zentralen Arbeitsverwaltung folgende generelle Handlungserfordernisse:

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  1. Eine breit angelegte Qualifizierungspolitik in den neuen Bundesländern muß als Teil einer umfassenden Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik betrieben werden. Die aktive Arbeitsmarktpolitik sollte dabei auch in den Schnittfeldern zur betrieblichen Personalpolitik wirksam werden. Dabei müssen die anvisierten Qualifikationsziele im Sinne von beruflicher Ergänzungs- und Anpassungsfortbildung wie auch der beruflichen Umschulung möglichst eine breite Marktgängigkeit aufweisen.

  2. Davon ausgehend, daß sich die Beschäftigungsstruktur in den neuen Bundesländern in etwa mit der Struktur des Altbundesgebietes im Jahre 1965 vergleichen läßt, liegen in der nahen Zukunft die Expansionsschwerpunkte insbesondere im Dienstleistungsbereich (Handel, Kreditgewerbe, Versicherung, Hotel- und Gaststättengewerbe, Beratungsdienste und sonstige Dienstleistungen), aber auch im warenproduzierenden Gewerbe (Bau- und Ausbaugewerbe, Maschinenbau). Eindeutig von Schrumpfungsprozessen betroffene Wirtschaftszweige sind die Land- und Forstwirtschaft, das Textilgewerbe, die Chemieindustrie, der Bergbau und das Ernährungs- und Bekleidungsgewerbe. Eine vorausschauende Qualifizierungspolitik muß diese Eckdaten ebenfalls berücksichtigen.

  3. Im Prozeß der Umstellung auf neue Strukturen verlieren bei den potentiell Betroffenen die ehemals erworbenen beruflichen Verhaltens- und Orientierungsmuster zunehmend an Bedeutung. Dieser Prozeß ist zugleich verbunden mit der Zunahme an individueller Unsicherheit bezüglich der künftigen Chancen am Arbeitsmarkt. Wenngleich gegenwärtig den Arbeitslosen und den von Arbeitslosigkeit Bedrohten keine unmittelbaren Sicherheiten und Gewißheiten über zukünftige Erwerbschancen und Arbeitsmarktperspektiven gegeben werden können, so bietet dennoch eine berufliche Qualifizierung die beste Möglichkeit, sich den vollziehenden strukturellen Wandlungsprozessen aktiv zu stellen.

Im Rahmen der gegenwärtig laufenden Qualifizierungsoffensive in den neuen Bundesländern arbeiten die 38 Arbeitsämter und 160 Nebenstellen mit mehreren tausend Bildungsträgern zusammen. Trotz aller Bemühungen unterlaufen dabei auch Fehler dergestalt, daß Maßnahmen an unseriöse Bildungsträger vergeben werden, die ihre Auf-

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gaben nicht erfüllen. Dabei handelt es sich zumeist jedoch um Einzelfälle, wenngleich diese Fälle in der Presse zum Anlaß genommen werden, die Qualifizierungspolitik der Bundesanstalt für Arbeit insgesamt in ein kritisches Licht zu rücken. In der Regel sind die Arbeitsämter bemüht und in der Lage, über festgelegte Qualitätsstandards unseriöse Bildungsträger auszusondern. Im Gegensatz zu den Anfängen der Qualifizierungsoffensive stehen mittlerweile auch eine Vielzahl ortsansässiger Bildungsträger zur Verfügung, wobei insbesondere kooperierende Bildungsträger aus Ost und West hervorragende Ergebnisse erzielen, so ein Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung. Der Vertreter einer Bildungseinrichtung unterstrich in der Diskussion diese Einschätzung, jedoch merkte er kritisch an, daß die kooperierenden Bildungsträger zuweilen Schwierigkeiten mit den Arbeitsämtern haben. Diese betreffen insbesondere die Entscheidungsprozesse bei der institutionellen Förderung nach dem AFG, wobei die getroffenen Entscheidungen für die Träger nicht immer transparent und nachvollziehbar seien. Erforderlich wären Informationen über die Vergabekriterien sowie eine bessere Beratung bei der Beantragung institutioneller Förderungsleistungen. Als weiteren kritischen Punkt verwies er auf die Unterschiede in den qualitativen Standards von Bildungsmaßnahmen und regte an, zwischen Bildungsträgern und Arbeitsverwaltungen Qualitätsmaßstäbe zu organisieren. Aus seiner Sicht kann es nicht wünschenswert sein, daß diejenigen Träger bevorzugt werden, die am schnellsten die Anträge ausfüllen würden, ohne daß die Qualität des Trägers und der angebotenen Maßnahmen insgesamt berücksichtigt werden. Letztlich erbrachte die Diskussion, daß die Bildungsträger es für notwendig erachten, daß sie stärker in die Beratungsprozesse von Arbeitslosen eingebunden werden müssen, wobei es denkbar wäre, die Beratungsleistungen zwischen Bildungsträgern und Arbeitsverwaltung besser zu koordinieren.

Neben den zuvor beschriebenen klassischen Arbeitsfeldern der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde vom Vertreter der Zentralen Arbeitsverwaltung noch darauf verwiesen, daß die Arbeitsämter zunehmend auch in ihrem eigentlich angestammten Feld der direkten Arbeitsvermittlung tätig werden. Konnten bereits im 2. Halbjahr 1990 ca. 80 Tsd. Arbeitsvermittlungen vorgenommen werden, so haben sich diese Aktivitäten in den ersten vier Monaten des Jahres 1991 auf bereits 124 Tsd. Vermittlungen erhöht. Wenngleich diese Zahlen nicht überzube-

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werten sind, so können sie doch als erster vorsichtiger Indikator für Konsolidierungstendenzen am Arbeitsmarkt interpretiert werden. Letztlich wird der projektierte Aufbau einer computerunterstützten Arbeitsvermittlung wie auch die Einrichtung von Fachvermittlungsdiensten für akademische Berufe in den neuen Bundesländern die Vermittlungsaktivitäten erhöhen.

Problematisch für die Arbeitsverwaltung stellt sich gegenwärtig die Situation in der Ausbildungsplatzversorgung Jugendlicher dar. Rund 80 Tsd. jugendlichen Bewerbern um einen Ausbildungsplatz stehen gegenwärtig nur ca. 27 Tsd. Vermittlungen in einen betrieblichen Ausbildungsplatz oder in andere Maßnahmen gegenüber. Damit sind die Disparitäten zwischen Nachfrage und Angebot dramatisch angewachsen. Seitens der Zentralen Arbeitsverwaltung geht man jedoch davon aus, daß sich diese Situation mittelfristig durch die abschließende Schulgesetzgebung in den neuen Bundesländern, die beschlossene Subventionierung von Ausbildungsstellen, die Schaffung von neuen Ausbildungsplätzen im öffentlichen Dienst und die Bereitstellung von vollzeitschulischen Ersatzmaßnahmen entschärft.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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