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[Seite der Druckausg.: 15]


3. Die Anpassungskrise in der Landwirtschaft

Die zutiefst krisenhaften Zustände in der Landwirtschaft der ehemaligen DDR sind ein Problemfeld, das alle in diesem Land Tätigen seit Juni des Jahres in Atem hält. Der schnelle Weg zur politischen und wirtschaftlichen deutschen Einheit hat sich als wenig glücklich erwiesen - ein anderer, langsamerer ist allerdings nur noch gedanklich zugänglich.

Die Vorkehrungen für die Wirtschafts- und Währungsunion sind hastig getroffen worden. Sie haben sich als halbherzig und unzulänglich erwiesen oder wurden von dem immer schnelleren politischen und ökonomischen Prozeß überholt. Der Verfall der Wirtschaft hat eine Eigendynamik, die dazu zwingt, politische Zielsetzungen und Entscheidungen beinahe in wöchentlichen Abständen zu überprüfen.

Der unmittelbare Zusammenprall zweier unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Systeme muß fast unweigerlich zu einer Katastrophe führen. Klar ist dabei von vornherein, welcher Teil allein der unterlegene sein kann.

Tatsächlich hat sich unter den Bedingungen der über die neuen Bundesländer hereinbrechenden Marktwirtschaft in allen wirtschaftlichen Bereichen, zuerst und am deutlichsten jedoch in der Landwirtschaft gezeigt:

  1. die Betriebe sind fast durchweg nicht wettbewerbsfähig,
  2. sie produzieren zumeist nicht marktgerecht und insgesamt zu viel; man fragt sich, wo das alles bislang abgesetzt worden ist.

Die derzeitige Krise ist eine akute und existentielle Krise. Im unmittelbaren Vorfeld der deutschen Einheit müssen gegen bestehende Widerstände die Voraussetzungen für eine Gesundung bzw. marktwirtschaftliche Umstrukturierung des Agrarbereichs durchgesetzt werden; das kann nur durch Aufklärung der Öffentlichkeit und durch den Druck der öffentlichen Meinung gelingen. Der Agrarbereich kann sich nämlich nur anpassen, so lange er noch lebt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen werden die Betriebe statt dessen zerstört. Bauern und Betriebe sind gegenwärtig chancenlos. Dieses Gefühl haben Hunderte von Telegrammen und Briefen an das Landwirtschaftsministerium zum Ausdruck gebracht. Es könne doch gar nicht anders sein, es deute alles unmißverständlich darauf hin: die Landwirtschaft soll zerstört werden.

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Eine aktive Anpassung setzt Chancengleichheit der Produzenten voraus, mit denen in der Bundesrepublik wie denen in der Europäischen Gemeinschaft. Chancengleichheit herzustellen heißt aber: die Bauern der ehemaligen DDR stärker zu fördern als dies in der gut geförderten Landwirtschaft in der EG sonst der Fall ist.

Drei Felder stehen dabei im Mittelpunkt: der Markt, Verschuldung und Finanzierung, und schließlich die Rahmenbedingungen.

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3.1 Der Markt

Probleme des Absatzes und der Preise betreffen alle Produktionsbereiche, alle Verarbeitungsstufen und alle Produkte. Die ehemalige DDR ist auf das Niveau eines Rohstofflandes gesunken, dessen Rohprodukte nicht absetzbar sind und deren Erlöse die Kosten nicht decken. Das wird besonders deutlich bei tierischen Produkten:

  • die Preise für Schweinefleisch sind dramatisch und vielerorts unter DM 1,- pro kg abgesunken, es herrscht ein völliger Preisverfall;
  • Schlachtrinder sind kaum mehr abzusetzen;
  • der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch ist zugleich rückläufig.

Der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse lag im Juli 1990 erheblich niedriger als im Vormonat bzw. Vorjahr. Besonders betroffen waren Schlachtschweine: der Absatz ging um 44.000 t zurück, das waren 32,3 % weniger als im Vorjahr, bei Schlachtrindern um 24.000 t, das waren 41,7 % weniger als im Juli 1989.

Die in der ehemaligen DDR erzielten Preise erreichten nicht das Niveau in der Bundesrepublik. Bei Inlandsverkäufen erzielten die Produzenten durchschnittlich DM 2.000,- pro Tonne, das sind 72 % des Vergleichspreises. Die Exporterlöse lagen teilweise noch niedriger. Bei Milch wurde ein Durchschnittspreis von 545,- DM/t (90,1 %) und bei Getreide von 300 DM/t (92,3 %) ermittelt.

Infolge des Absatzrückganges bei verarbeiteten Erzeugnissen, verstärkt durch Liquiditätsprobleme in den Verarbeitungsbetrieben und verlängerte Zahlungsziele, wurden teilweise im Juli gelieferte Erzeugnisse nicht bezahlt. Das betrifft

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insbesondere Milch (Zahlungsrückstand für 387,7 kt = 56 % der Anlieferung) und Getreide (296,6 kt = 22,9 %).

Beim Getreide verfielen die Preise nicht, weil der Staat interveniert. Die Kartoffelernte dagegen wird eine Katastrophe. Ca. fünf Millionen Tonnen werden zuviel produziert. Sie werden sich nicht absetzen lassen. Der Export dieser Kartoffeln wird nahezu unmöglich sein, obwohl die Russen viele Kartoffeln haben möchten. Ein großer Teil der Kartoffeln wird im Boden bleiben oder untergepflügt werden müssen. Die Flurschäden sind vorhersehbar.

Die Molkereien sind wenig effektiv und arbeiten zu wenig rentabel. Sie wälzen ihr ungünstiges Kosten-Erlös-Verhältnis nach unten ab. Kaum ein Betrieb erzielt gegenwärtig mehr als DM 0,50 oder 0,60 pro Liter. Jüngste Berechnungen zeigen aber: unter den gegenwärtigen Bedingungen müssen die Betriebe mindestens DM 0,84 erzielen, um aus den roten Zahlen herauszukommen.

In Anpassung an BRD- und EG-Recht soll die Milchproduktion auf die Höhe des Pro-Kopf-Verbrauches der BRD zurückgeführt werden. Das entspricht einer abzuliefernden Marktproduktion von 6.275.000 Tonnen pro Jahr. Ein solcher Einschnitt läßt sich nur mittelfristig bewältigen.

Inzwischen heißt es, das Milchaufkommen soll bereits im Jahr 1990 um 20 % (gegenüber 1989) - bzw. gegenüber dem IST 1990 um fast 22 % - gedrosselt werden, und zwar in dem Zeitraum zwischen dem März 1991 und dem April 1991. Um das Milchaufkommen im vorgesehenen Umfang zu vermindern, muß man den Bestand an Kühen um rd. 600.000 Stück abbauen. So viele Kühe lassen sich hier innerhalb eines Zeitraums nicht schlachten - auch bei Schweinen sollen zugleich Bestände abgebaut werden. Beim Export bedeutet dies einen Preisverfall in der EG sowie im gesamten europäischen Raum. Das ist zum Nachteil unserer Bauern wie auch der BRD.

Die Verminderung der Milchproduktion um gut 20 % vermindert die Einnahmen der ostdeutschen Landwirtschaft um rd. 1,1 Mrd. DM. Das kann bei weitem nicht abgefangen werden. Eine Umstrukturierung kann diesem Tempo nicht folgen, sie bedeutet das Aus für viele Landwirtschaftsbetriebe. Die Forderung, das Milchaufkommen innerhalb eines Jahres um mehr als 20 % zu verringern, erscheint unseriös. Die Bundesrepublik selbst hat in den ersten zwei Jahren nach Einführung der Milchquotenregelung die Produktion um 6 % zurückgenommen.

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Insgesamt bedeutet diese Forderung eine weitere erhebliche Benachteiligung der Bauern gegenüber denen in der Bundesrepublik. Gegenwärtig zahlen Viehhändler aus der Bundesrepublik je kg Milch 10 Pfennige und je Schlachtrind etwa 50 % weniger als dort.

In der Summe belaufen sich die mit vorstehenden Faktoren verbundenen Erlösausfälle in den Landwirtschaftsbetrieben auf 1,4 Mrd. DM. Das sind 52 % der bei gleichen Preisen und fortlaufendem Absatz vorauskalkulierten Erlöse von 2,7 Mrd. DM.

Diese krisenhafte Situation kann sich nicht entspannen, wenn im zweiten Halbjahr 1990 nicht mindestens 400.000 t Lebendvieh durch den Export des Fleischs in Länder außerhalb der EG aus dem Markt genommen werden. Das kann nur in Drittländer sein, vorzugsweise in die Sowjetunion.

Die Erlösausfälle verschärften den Bruch per 1.7.1990 und führten in Verbindung mit höheren Kosten, z.B. für die verlängerte Haltung von Schlachttieren, zu drastischen Liquiditätsengpässen in den Betrieben der Land- und Forstwirtschaft die bereitgestellten Anpassungshilfen von DM 800 Mio. (davon DM 500 Mio. zunächst als Kredit) reichten auch in Verbindung mit der vorübergehenden Aussetzung von Zins und Tilgung nicht aus.

Die Betriebsabläufe und die Prozesse der Umstrukturierung der geordneten Anpassung an die Marktbedingungen wurden gestört, eine Reihe von Genossenschaften beschloß, sich aufzulösen und beantragte, das Konkursverfahren zu eröffnen, ohne daß Vorstellungen und Grundlagen für die nachfolgende Bewirtschaftung bestehen. Das betraf auch leistungs- und sanierungsfähige Betriebe.

Die im Einvernehmen und mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Stabilisierung des Marktes, der Preise und der Liquidität im Juli ergriffenen Maßnähmen rührten in der ersten Dekade August zu Entlastungen auf Teilgebieten, zeigten aber keine durchgreifende Wirkung.

a) Probleme bestehen vor allem fort in der Sicherung des Absatzes überschüssiger Mengen bei Rindfleisch, Schafen und Färsen. Exportausschreibungen brachten bislang nur geringe Ergebnisse. Weil Lösungen für die Schlachtung

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bzw. Verbringung von Kühen fehlen, läßt sich die Milchproduktion nicht im notwendigen Maße verringern. Kritisch wird die Lage, sobald die Kühe nicht mehr weiden können.

b) Die Abnahme von Schlachtschweinen und Sauen ist bei geringen Erlösen insbesondere für den Schweine-Export schleppend.

c) Die erwarteten Erntemengen an Kartoffeln, Gemüse, Obst sowie Saat- und Pflanzgut werden sich nach der Haupterntesaison nicht absetzen lassen.

d) Die Verarbeitungsbetriebe können im Inland wenig absetzen, weil sie sich dem Markt noch unzureichend angepaßt haben und nicht kostengünstig arbeiten; sie haben deshalb anhaltende Abnahme- und Zahlungsschwierigkeiten.

e) Eine Reihe von Landwirtschaftsbetrieben geht angesichts dieser Überschüsse, der schwierigen Marktlage und wegen ihres akuten Geldmangels auf unseriöse Niedrigstpreisangebote im Rahmen der Liberalisierung des Handels ein. Diese Faktoren haben in der ersten Hälfte des Monats August zu anhaltenden Absatzstockungen und partiell weiter sinkenden Preisen geführt. Eine schnelle Veränderung der Lage und damit Aufholung der im Juli entstandenen Erlösausfälle ist im August nicht eingetreten.

Tabelle 2: Verfall der Erträge im Juli 1990


Mio. DM.

Erlösausfälle mangels Absatz

390

Preisverfall

250

Abgesetzte Produkte nicht bezahlt

400

Sonstige Ausfälle

400

Erlösausfälle insgesamt

1.440



Eingeplante Erlöse insgesamt

2.700

Folge davon sind für die Betriebe nicht lösbare Liquiditätsprobleme.

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3.2 Überschuldung und Finanzierung

Der Mangel an Liquidität und der Mangel an Haushaltsmitteln, um die Liquidität der Betriebe, samt und sonders kollektivierte Betriebe, verschärft durch den Absatzrückgang bei gleichzeitigem Preisverfall, ist die Ursache des entstandenen Chaos und der raschen wirtschaftlichen Talfahrt der Landwirtschaft.
Dieses Chaos, von dem viele Betriebe meinen, es sei von der Bundesregierung

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bewußt herbeigeführt worden, und dafür sprechen auch viele Anzeichen, ist auf unkalkulierbare Weise treurer als ein geordneter, also auch durchfinanzierter Übergang zu neuen Agrarstrukturen. Die Landwirtschaft braucht eine Atempause. Sie böte sich nach dem saisonalen Rhythmus nach Abschluß der Ernte an. Bis dahin lägen auch die ersten Erfahrungen mit der Marktwirtschaft und den kunstvollen Regelwerken der EG vor. Erst wenn man sich mit ihnen vertraut gemacht hat, wenn auch die bislang ungewohnten steuerlichen Überlegungen mit einfließen können, lassen sich sinnvolle Sanierungskonzepte erarbeiten.
Die für diese Atempause notwendigen Bluttransformationen und Finanzspritzen sind der Preis der deutschen Einheit.

Vielen Betrieben mangelt es akut an Umlaufkapital und an der notwendigen Liquidität, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Sie brauchen dringend Kredite, um die entstehenden Engpässe zu überwinden. Teils fehlt es ihnen an Sicherheiten, teils den Banken an Mitteln, um die benötigten Kredite zu finanzieren. Das bisherige System basierte nämlich auf der Finanzierung von Umlaufkapital. Nun hat sich das Bankwesen plötzlich umgestellt und beleiht nur noch Bestände und Anlagen.

Die Banken zögern, überhaupt Kredit zu vergeben. Sie zeigen größere Bereitschaft, wo der Staat interveniert, also bei Getreide- und Butterbeständen, die der Staat aufkauft. Viehbestände und Anlagen (etwa zur Tierproduktion) wollen sie nicht beleihen, weil sie zweifeln, ob diese sich wirtschaftlich tragen werden. Grund und Boden lassen sich nicht beleihen, solange die Eigentumsfrage ungeklärt ist. Den Betrieben fehlen Kredite, von denen der Verarbeitung bis hin zu den Primärproduzenten. Die wenigen gewährten sind solche, für die die Treuhand bürgt. Sie sind teuer und mit ihnen lassen sich Liquiditätsprobleme nicht beheben. Die Betriebe bringen sich auf diese Weise um.

Hier muß über Staatsbürgschaften, Treuhandbürgschaften und Kreditverbilligungen nachgedacht werden; sonst können die Schlachthöfe kein Vieh kaufen, sie haben ja keine Guthaben; sonst können die Milchverarbeitungsbetriebe keine Milch aufkaufen und bleiben den Primärproduzenten die Zahlung schuldig.

Ein besonderes Problem sind in diesem Zusammenhang die Altschulden:

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Tabelle 3: Kredite der Genossenschaften in derLandwirtschaft der DDR



Mio. DM.

Langfristige Grundmittelkredite


4.226

Kurzfristige Umlaufmittelkredite


3.432

Insgesamt


7.658

Stand: 30.6.1990

Die durchschnittliche Belastung der landwirtschaftlichen Genossenschaften in der DDR ist mit DM 1.424,- pro Hektar im Grunde sehr niedrig, zumal die Genossenschaften zugleich DM 803,- pro Hektar an Guthaben auswiesen (zusammen DM 4.321 Mio.).

Tabelle 4: Verschuldung der landwirtschaftlichen Genossenschaft in der DDR

Verschuldungsgrad*

Grundmittelkredite

Umlaufmittelkredite


Anzahl der Betriebe

Anteil der Betriebe

Anzahl der Betriebe

Anteil der Betriebe

ohne

1.469

35 %

2.517

61 %

0 bis 20 %

1.384

33 %

1.051

25 %

20 bis 40 %

943

22 %

472

11 %

40 bis 60 %

343

8%

18

0%

60 % und mehr

65

2%

18

0%






Insgesamt

4.204

100 %

4.204

100 %

*) gemessen als Anteil des Kredits am Anlage- bzw. Umlaufvermögen
Quelle: Analyse JAB 89 Hochschule Bernburg, Stand 31.12.89.

Das Problem liegt jedoch in zwei Faktoren:

a) in der außerordentlich unterschiedlichen Verteilung der Kredite:

Gefährdet sind die 408 Betriebe mit über 40 % Kredit des Nettowertes der Grundmittel sowie die 164 Betriebe mit über 40 % Umlaufmittelkreditierung. Sie sind mit Vorliegen der DM-Eröffnungsbilanz überschuldet. Im Fall ihres Konkurses wäre es jedoch nicht möglich, die Gläubiger (Bank) abzufinden, da die Genossenschaftsmitglieder nicht haften.

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b) in der mangelnden Wirtschaftlichkeit der Investitionen:

Ein Teil der Grundmittelkredite wurde Betrieben für Inventarobjekte administrativ aufgezwungen, die unter den neuen Bedingungen nicht mehr oder nur eingeschränkt nutzungsfähig sind, etwa:

  • Großanlagen der Tierproduktion,
  • Gewächshausanlagen,
  • großflächige Meliorationssysteme, insbesondere Beregnung,
  • Braunkohleheizhäuser,
  • Wirtschaftsstraßen,
  • Kartoffellagerhäuser.

Die Betriebe sind nicht bereit und in der Lage, für diese Kredite zu haften und sie zu tilgen.

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3.3 Die Rahmenbedingungen

In der gegenwärtigen Phase geht es darum, die Landwirtschaft am Leben zu halten, bis gegen Ende dieses oder zu Beginn des kommenden Jahres sinnvolle Prozesse der Umstrukturierung eingeleitet werden. Sie können wohlgemerkt dann erst beginnen, da die Bedingungen dazu erst geschaffen werden müssen.

Das Kardinalproblem ist die endgültige Klärung der spezifischen Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, im offiziellen Polit-Sprachgebrauch die "Klärung offener Vermögensfragen". Gemeint sind vor allem die Enteignungen im Zeitraum bis 1949 (die Bodenreform also), die für die SPD zu den Kriegsfolgen zählen, bei denen der Status quo respektiert werden muß. Eine frühzeitige und eindeutige Klärung dieses aus der Sicht der Bundesrepublik besonders gewichtigen politischen Problems läge im Interesse der fünf neuen Mitgliedsländer der Bundesrepbulik. Eine solche Klärung hätte auf der politischen wie auf der betrieblichen Ebene längst Ansätze zu konzeptioneller Arbeit ermöglicht, die gar nicht denkbar sind, solange den Betrieben jede Perspektive fehlt.

Bisher ist dieses Problem aber von einer Verhandlungsetappe beider Regierungen bis zur nächsten verschoben worden. Bemühungen der SPD-Fraktion in

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der Volkskammer und von Vertretern anderer Fraktionen im Parlament verfangen sich ständig in Fußangeln. In der Praxis besteht eine ungeheure Verunsicherung im Zusammenhang mit den zunehmenden Ansprüchen und dem Druck von seiten bundesdeutscher und anderswo ansässiger Alteigentümer, von denen viele völlig berechtigt sind, und Bodeninteressen verschiedenster Art. Im Thüringer Wald werden in bestimmten Gegenden die LPG-Bauern mit Anschreiben von Kapitalgruppen überschwemmt, die sie auffordern, Boden zu verpachten oder zu verkaufen.

In Anbetracht des unentwickelten Bodenmarktes scheint es für einzelne lukrativ zu sein, in der Bundesrepublik Flächen stillzulegen und zugleich Flächen in der ehemaligen DDR zu pachten. Die Stillegungsprämien dort liegen höher als die Pachten hier. Es gibt ungezählte Anschreiben früherer Großgrundbesitzer an Bürgermeister auf dem Lande, die das Interesse an Flächen zum Ausdruck bringen. Es gibt das Begehren einer großen britischen Gruppe, 30.000 ha Fläche in Erbpacht zu nehmen, um darauf großräumig und vermutlich sehr effektiv Landwirtschaft zu betreiben. Es besteht, kurzum, ein großer Druck auf Grund und Boden und das ist in Mitteleuropa ja auch mehr als verständlich. Auf diesem Markt sind die Bewohner der neuen Bundesländer chancenlos, wenn sie nicht geschützt werden: sie sind kapitalschwach. Sie wären allzu leicht bereit zu verpachten oder zu verkaufen.

Die großen Probleme:

1. Die LPGen nutzen derzeit das ihnen zur Verfügung stehende Bodenreformland von 1,4 Millionen ha Ausdehnung unentgeltlich. Das muß sich ändern; der Boden muß wieder einen Wert, muß wieder einen Preis bekommen. In der Erklärung beider deutscher Regierungen, die im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag verabschiedet wurde, hat die Bundesregierung das zur Kenntnis genommen. Die Erklärung enthält daneben den Hinweis, eventuelle 'Ausgleichsleistungen' werde ein gesamtdeutsches Parlament regeln. Diese Erklärung schafft keine Sicherheit. Unter Ausgleichsleistungen läßt sich auch die Naturalrestitution subsumieren.

2. In der Bevölkerung besteht große Unsicherheit darüber, ob die das Eigentum an Grund und Boden betreffenden Gesetze der Volkskammer weiterhin gelten werden:

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a) Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz regelt, daß gebietsansässige Personen bei Pacht und Erwerb von Boden begünstigt werden (während eines Übergangszeitraums).

b) Ein anderes Gesetz sieht vor, die bisherigen volkseigenen Güter in das Eigentum der Länder zu übertragen. Die Absicht dieses Gesetzes war es nicht, die Privatisierung zu vermeiden, sondern den Ländern Eigentum zu verschaffen, die dann soviel davon privatisieren sollten, wie wirklich im Interesse der öffentlichen Hand liegt.

c) Es gibt ein Gesetz über die Übertragung, Verkauf oder Verpachtung volkseigener Flächen an Genossenschaften, Genossenschaftler und andere Bürger. Dieses Gesetz sieht vor, Landräte zu ermächtigen, Land zu verpachten oder Vorverträge über den Verkauf von Land abzuschließen, damit die Betriebe zum Zuge kommen, bis die 'Treuhandgesellschaft Land- und Forstwirtschaft' funktioniert.

d) Das Treuhandgesetz enthält nicht ohne Kampf im § 1 einen besonderen Absatz: Land- und forstwirtschaftlicher Grund und Boden sind treuhänderisch so zu behandeln, wie es den eigentumsrechtlichen, ökologischen und ökonomischen Besonderheiten dieser Objekte entspricht. Die Grundlage dafür sollte eine gesonderte, nach gemeinnützigen Prinzipien funktionierende 'Treuhandgesellschaft Land- und Forstwirtschaft' legen, die den bislang volkseigenen Boden langfristig privatisieren oder anderweitig vergeben, Kreditbürgschaften übernehmen und dabei regionalen und territorialen Besonderheiten Rechnung tragen sollte.

Das sind die Rechtsgrundlagen, die eine vernünftige Ausgangsbasis böten, wenn nicht die Bundesregierung und der Regierungschef der DDR deutlich erkennen ließen, daß sie wesentliche Teile mit dem Einigungsvertrag außer Kraft setzen wollen. Das betrifft den vorübergehenden Schutz der Gebietsansässigen ebenso wie das Übertragungsgesetz für volkseigene Güter.

3) Der Regierungschef der ehemaligen DDR hat alle Bemühungen scheitern lassen, die treuhänderische Vertretung bislang volkseigenen Grundvermögen so zu gestalten, daß sie den Anforderungen des § 1 Absatz 6 des Treuhandgesetzes hätte entsprechen können. Alle Anzeichen deuten vielmehr darauf hin, daß die Bundesregierung und die Führungsspitze der ehemaligen DDR beabsichtigten,

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Grund und Boden aus der Bodenreform zu verwerten, um aus den Erlösen

  • nicht vorrangig die Strukturanpassung in der Landwirtschaft, sondern den Staatshaushalt zu finanzieren,
  • über den horizontalen Finanzausgleich die gewerbliche Wirtschaft auch außerhalb der mit Land- und Forstwirtschaft verbundenen Bereiche zu sanieren,
  • sehr wenig an die Länder abzuführen, sondern fast alles zentral zu verwerten.

Damit wird es schließlich gelingen, die Ergebnisse der Bodenreform rückgängig zu machen.

Es ist völlig gleichgültig, ob im Einigungsvertrag die Worthülse steht, die Bodenreform werde anerkannt, wenn auf der anderen Seite das Treuhandvermögen dafür verwandt wird, die alten Besitzverhältnisse wieder herzustellen; und das ist ja bei der Kapitalschwäche der einen und der Kapitalstärke der anderen Seite kein Problem.

4. Das Privatisierungsgebot ist zu achten, aber die Privatisierung ist so zu verwirklichen, daß sich die Landwirtschaft auf dem Gebiet der bisherigen DDR und sich die neu entstehenden Länder gesund entwickeln können. Die Menschen müssen auch etwas davon haben.

Dazu müßte es gelingen, sehr schnell die seit langem bewährten Landesgesellschaften zu etablieren. Sie haben sich in Deutschland seit mehr als 80 Jahren bewährt. Sie bestehen in fast jedem Land der Bundesrepublik. Sie stehen unter öffentlich-rechtlicher Kontrolle. Sie haben in der Verwertung von landwirtschaftlichem Grund und Boden große Erfahrung. Ihnen sollte der zu privatisierende Grund und Boden für eine langfristige Arbeit übertragen werden.

Die Treuhandgesellschaft soll ja möglichst schnell (innerhalb von zwei Jahren soll die Arbeit abgeschlossen sein) das volkseigene Vermögen privatisieren. Beim Aufbau einer bäuerlich begründeten Landwirtschaft im weiteren Sinne handelt es sich jedoch keineswegs um einen Prozeß, der in zwei Jahren abgeschlossen ist, sondern eher um einen, der mindestens zehn Jahre dauern wird. Auch Bodenpreise bilden sich erst über einen längeren Zeitraum heraus. Es wäre deshalb eine politische Übeltat, solche Objekte innerhalb kürzester Zeit

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zu verscherbeln. Zugleich führte das mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Verfall der Bodenpreise, würde also die Entstehung eines vernünftigen Bodenmarktes nachgerade verhindern.

5. Eine wesentliche Ursache für die Krise der Landwirtschaft ist die schon erwähnte Belastung mit Altkrediten. Im Vergleich zur Bundesrepublik ist diese Belastung zwar vergleichsweise gering, die Kredite lassen sich jedoch nicht auf den Boden umlegen. In Mecklenburg haben wir es in erheblichem Umfang mit Bodenreformland zu tun. Bei manchen LPGen macht es 70 % der Fläche und mehr aus. Es ist müßig, Kredite darauf aufnehmen oder umlegen zu wollen, solange es nicht eine Holding-Gesellschaft gibt, die solche Kredite absichert. Diese Verschuldung ist ein wesentlicher Grund dafür, warum die Betriebe keine Perspektive sehen oder warum sie keine Kredite aufnehmen können.

Die Kreditlast ist zudem ungleichmäßig verteilt. Betriebe können nicht die politischen Altlasten solcher Objekte tragen, die der Staatssozialismus verschuldet hat. Viele dieser aus heutiger Sicht verfehlten Investitionen werden überhaupt nicht zu betreiben sein und können den Betrieben nicht angelastet werden. Zwingt man sie, diese Last zu tragen, dann können sie sich nicht umstrukturieren, dann gehen sie in die Knie. Diese Frage ist nicht buchhalterisch, sondern wiederum politisch zu klären. Verträgliche Regelungen zur Streichung oder Tilgung dieser Kredite müssen her, um damit die Voraussetzung für die Überwindung dieses Problems zu schaffen.

6. Allen Ländern, die sich der EG angeschlossen haben, hat man einen Anpassungszeitraum zugebilligt. Bei den Verhandlungen über den ersten Staatsvertrag wollte die DDR den verhältnismäßig langen Anpassungszeitraum von zehn Jahren durchsetzen; später ging es um fünf Jahre und schließlich, nachdem alle anderen Vorschläge vom Tisch gewischt worden waren, um wenigstens zwei Jahre. Übrig blieb nur eine Übergangsperiode.

Tatsächlich ist ein Anpassungszeitraum von mindestens fünf Jahren notwendig. Wird diese Übergangsperiode nicht gewährleistet, werden die Betriebe in einigen Bereichen keine Chance zum Überleben haben.

7. Die Marktwirtschaft ist über Nacht auf die neuen Bundesländer zugekommen. Die für das Funktionieren notwendigen Bedingungen sind nicht am nächsten Tage zu schaffen. Eine der Hauptursachen für die Wettbewerbsschwäche

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ist der Überbesatz mit Arbeitskräften (durchschnittlich 14,5 ständige Berufstätige auf 100 ha). Das ist im Vergleich zum EG-Raum unvertretbar. Dieses Verhältnis kann nur in einem mehrjährigen Prozeß ökonomisch und sozial verträglich korrigiert werden. Aus der Hoffnungslosigkeit der gegenwärtigen Situation entstehen zunehmende soziale Spannungen und wer Bauerndemonstrationen miterlebt, spürt auch die nachvollziehbare Radikalisierung. Die Landwirte haben immer fleißig gearbeitet, sie sind hoch gelobt worden, weil sie so viel produziert haben. Plötzlich, über Nacht, soll das alles falsch sein, plötzlich verdienen sie nichts mehr, verdienen erheblich weniger, sollen aus der Produktion heraus und werden böse. Solche Radikalisierung wird der Demokratie nicht bekommen, von ihr werden extreme Kräfte auf dem rechten oder linken Rand des politischen Spektrums profitieren.

8. Bei der ausgelösten Freisetzung von Arbeitskräften müssen der Landwirtschaft Einkommenshilfen gewährt werden, um sie überhaupt wettbewerbsfähig zu machen. Verträglich wäre nach unseren Vorstellungen maximal die Freisetzung von 240.000 Beschäftigten im Verlaufe von drei Jahren, d.h. bis zum Jahre 1993. Das ist aber nicht einmal die Hälfte der 800.000 derzeit in der Landwirtschaft Beschäftigten.

Das würde den Sozialhaushalt erheblich belasten. Nach überschlägigen Schätzungen könnte sich das etwa so verteilen:

Tabelle 5: Freisetzung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft bis 1993

1

Ausscheidende Altersrentner

40.000

2

Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung

56.000

3

Neue Arbeitsstellen

50.000

4

Umschuldung auf Handwerk und Dienstleistungen

60.000

5

Längerfristig Arbeitslose

34.000


Insgesamt

240.000

Dieses Modell würde pro Jahr DM 1,2 Milliarden kosten. Geht man statt dessen von mehr Betroffenen aus, also etwa der Hälfte der bislang in der Landwirtschaft Beschäftigten, dann wird das entsprechend teurer. Hinzu kommt natürlich: Niemand weiß, wohin die Entlassenen eigentlich gehen sollen. Wir haben es ja nicht mit 'gewöhnlicher Arbeitslosigkeit' zu tun. Letztlich muß sich mit dem Umbruch des Systems ein Großteil der Bevölkerung erneut auf die Schulbank setzen. So läßt sich das mit gutem Recht sehen.

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Wenn es nicht gelingt, die großen, akuten ökonomischen Probleme im Agrarbereich durch neue politische und nicht durch weitgehend buchhalterische Entscheidungen zu klären, läßt sich ein Strukturwandel, zumal in Mecklenburg, nur in folgender Richtung erkennen:

  • Die Landwirtschaft wird von großen als Kapitalgesellschaften konstituierten Betrieben dominiert, in denen das Eigentum bei auswärtigen Kapitaleignern liegt, das Management vom Eigentum getrennt ist, und die von Landarbeitern bewirtschaftet werden.
  • Daneben wird es vor allem große Familienbetriebe geben, deren Eigentümer vormals enteignete Bauern aus der Bundesrepublik und das unumgängliche hohe Startkapital einbringen können.

Das ist natürlich auch eine Perspektive, aber keine, die sich mit den Interessen der Menschen auf dem Territorium der bisherigen DDR verträgt.


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