FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
Reißner, Anton ("Toni") (1890 - 1940) Geboren am 30. Dezember 1890 in München als Sohn eines Kupferschmiedes, verheiratet, katholisch, später Dissident. Arbeitete nach der Volksschule als Handelshilfsarbeiter ("Ausgeher"), nach 1909 als Buchhandlungsgehilfe. Mitglied des "Zentralverbandes der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands" und der SPD. Die 5. Generalversammlung des Verbandes vom 20. bis 25. Mai 1907 in Berlin beschloß nach dem Fall gesetzlicher Restriktionen, eigene Jugendsektionen zu gründen. Die Münchner Organisation mit einem hohen Anteil an jugendlichen Mitgliedern im Groß- und Einzelhandel baute ein Jahr später eine "Sektion der jugendlichen Berufskollegen" auf. Am 20. März 1908 auf einer Jugendversammlung Wahl Reißners zum 1. Vorsitzenden der Münchner Jugendabteilungsleitung, die in einem knappen Jahr von 15 auf 50 Mitglieder anschwoll. 1909 Wahl Reißners zum Bezirksleiter des Münchner Bezirks 16 (Lehel-Bogenhausen) innerhalb der Ortsverwaltung I des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" (neuer Organisationsname seit 1907). Im gleichen Jahr Wahl des Neunzehnjährigen in den Gauvorstand, ein in der Geschichte der Organisation beispielloser Vorgang. Seit dem 1. Januar 1912 hauptamtliche Anstellung als Funktionär bei der Ortsverwaltung München. Wahl zum 1. Schriftführer auf der Generalversammlung am 3. März 1912. Wahl zum 2. Kassierer der Ortsverwaltung am 16. Februar 1913. Behielt bis 1914 den Vorsitz im Bezirk Lehel-Bogenhausen und als Beisitzer im Gauvorstand (1913 in München 6.100 Mitglieder). Delegierter auf dem 9. Verbandstag vom 7. bis 13. Juni 1914 im "Volkshaus" in Köln. Am 11. August 1914 sofort zum Kriegsdienst einberufen; kämpfte in einem Infantrieregiment an der Westfront. Im März 1915 verwundet und in ein Lazarett in Colmar eingeliefert. Im Juli 1916 als Jäger eines Jägerregimentes erneut verwundet, Lazarettaufenthalte in Trier und in München. Von September 1918 bis Februar 1920 in französischer Kriegsgefangenschaft. Nach der Entlassung hauptamtliche Anstellung beim Vorstand des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" in Berlin. Besuchte 1921 die Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Reißner war in der Hauptverwaltung neben Julius Scherff u.a. für Beamtenfragen zuständig. Seit dem 12. Oktober 1923 als Arbeitnehmervertreter für den Handel Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates. Delegierter auf dem 1. Bundeskongreß des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes vom 12. bis 14. Januar 1925 in Berlin. Wahl zum stellvertretenden unbesoldeten Vorstandsmitglied der freigewerkschaftlichen Beamtenorganisation. Nach dem Tode August Rathmanns bedrängten die organisierten Straßenbahner, Privateisenbahner und Werkseisenbahner auf der 5. Reichskonferenz vom 23. bis 24. August 1927 den Verbandsvorstand, Anton Reißner als neuen Sektionsleiter "abzugeben", was der Verbandsvorstand ablehnte, da Reißner "für einen anderen Posten vorgesehen" sei. Organisierte künftig die innergewerkschaftliche Bildungsarbeit. Referat über die "Bildungsarbeit des Verkehrsbundes" auf dem 13. Bundestag vom 12. bis 17. August 1928 in Leipzig. Die Wahlkommission des 13. Bundestages schlug den "seit Jahren bewährten Kollegen Anton Reißner, der sich in der Zeit seiner Tätigkeit im Hauptbureau als außerordentlich tüchtig erwiesen hat", erfolgreich als neues Mitglied des erweiterten Gewerkschaftsvorstandes vor. Wahl Reißners zum Vorstandssekretär auf der Gründungsversammlung des "Gesamtverbandes der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" vom 7. bis 10. Oktober 1929 in Berlin. Auf der 1. Reichskonferenz der Straßen-, Privat-, Hafen- und Werksbahner im Gesamtverband am 11. Dezember 1929 in Berlin gab Reißner für den erkrankten Gewerkschaftsvorsitzenden Oswald Schumann den Bericht über den Zusammenschluß des "Deutschen Verkehrsbundes" mit dem "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" und dem "Verband der Gärtner und Gärtnereiarbeiter" und deutete damit seine herausgehobene Stellung im Gewerkschaftsvorstand bereits an. Erstmals Delegierter auf dem Kongreß der Internationalen Transportarbeiter-Föderation vom 15. bis 21. September 1926 in Paris. Bis 1932 regelmäßiger Delegierter auf den Tagungen des internationalen Berufssekretariats. Gab sich auf der ITF-Konferenz in Prag vom 7. bis 13. August 1932 optimistisch, daß die deutsche Arbeiterschaft den Nationalsozialismus abwehren könne. Nach dem Rücktritt Gerhard Försters betraute der Verbandsbeirat auf seiner Sitzung am 25. April 1930 Reißner als neuen Leiter des Dezernats für Bildungs- und Werbefragen. Reißners Abteilung betreute die Bundesschule in Bernau mit den Lehrgangsteilnehmern des Gesamtverbandes. Reißner trug ferner die Verantwortung für die Bildungseinrichtungen der Bezirks- und Ortsverwaltungen. Vor allem galt Reißners Augenmerk den "neuen Medien" (Agitation und Bildung durch das Lichtbild). Reißner leitete Ende 1931 die "Werbeaktionen" des Gesamtverbandes, wobei er suchte, vor allem jugendliche Mitglieder anzusprechen. Organisationspolitisch suchte er die Vielzahl der heterogenen Verbandskörperschaften, die durch den Zusammenschluß entstanden waren, zu reduzieren. Der gebürtige Bayer gehörte zu den wenigen gewerkschaftlichen Spitzenfunktionären, die politisches und gewerkschaftliches Engagement gleichermaßen vereinten. Vergebliche Reichstagskandidatur für die SPD am 20. Mai 1928 im Wahlkreis 5 (Frankfurt an der Oder); ein Wahlkreis, den die Sozialdemokratie traditionellerweise einem herausragenden Repräsentanten der freien Gewerkschaftsbewegung zur Verfügung stellte. Bei den Septemberwahlen 1930 in den Reichstag gewählt. Wiederwahl am 31. Juli 1932 und im März 1933. In der 6. Wahlperiode (1932) in den 14. Ausschuß (Beamtenangelegenheiten) gewählt, außerdem vom Reichstag zum stellvertretenden Mitglied des Verwaltungsrates der Deutschen Reichspost bestimmt. Mutige Agitation gegen Sozialabbau und nationalsozialistische Reaktion in der Schlußphase der Weimarer Republik, "weil die Erziehung zum Fanatismus, die in der Nazibewegung absichtsvoll gepflegt wird, jedes selbständige und kritische Denken ertötet". Reißner verkörperte die enge Symbiose der freien Gewerkschaftsbewegung mit der deutschen Sozialdemokratie. Einer der schärfsten Gegner kommunistischer Gewerkschaftspolitik in der freien Gewerkschaftsbewegung ("von der KPD gehorsam apportierten irrsinnigen Parolen"), ohne daß Reißner seine antikapitalistische Stoßrichtung abschwächte. ("Wir müssen das kapitalistische System beseitigen, das die schwere Schuld für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zustände unserer Zeit trägt.") Delegierter auf dem 5. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes am 13. April 1932 in Berlin, auf dem die freien Gewerkschaften ihr Konjunkturprogramm zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise präsentierten. Am 18. bis 20. November 1932 tagte in Berlin der Beirat des Gesamtverbandes, um an Stelle des verschobenen Verbandstages eine Neuregelung der inneren Organisation vorzunehmen und den Verbandsvorstand bis zum nächsten Gewerkschaftstag zu bestimmen. An die Stelle des ausgeschiedenen Verbandsvorsitzenden Oswald Schumann wählten die Beiratsmitglieder Anton Reißner (neben Otto Becker) zu einem der gleichberechtigten Vorsitzenden. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wegen seines antifaschistischen Engagements hochgradig gefährdet. Bereits im Reichstagswahlkampf richtete die Polizei in seinem Wahlkreis gegen ihn ein Redeverbot. Am 3. April 1933 aus einer Gewerkschaftssitzung heraus kurzfristig verhaftet. Lehnte jeden "Anpassungskurs" an die herrschenden Nationalsozialisten ab und ließ sich am 28. April 1933 mit der Absicht beurlauben, nicht mehr in den Dienst der Gewerkschaft zurückzukehren. Bei der Besetzung des Gewerkschaftshauses durch die SA am 2. Mai 1933 als Anwesender verhaftet und in das Antikriegsmuseum in der Parochialstraße verbracht; später ins Strafgefängnis nach Plötzensee überstellt und für mehrere Monat in Haft genommen. Nach der Haftentlassung Flucht mit der Familie nach Amsterdam. In Amsterdam Mitarbeiter an der "Freien Presse". Seit Gründung im August 1935 Leiter des Landesverbandes Holland des "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes " (ADG) unter Heinrich Schliestedt. Von Januar 1937 bis 1938 Redakteur am ADG-Organ "Gewerkschaftszeitung", das in hektographierter Form dazu diente, emigrierte Mitglieder des ADGB um die Zeitung zu sammeln (Verantwortlich: W. Vormann, Berlin W9, Verlag "Freies Volk", Potsdam). Von 1939 bis 1940 Redakteur am Nachfolgeorgan "Neue Gewerkschaftszeitung. Betrachtungen zur sozial-ökonomischen und politischen Entwicklung Deutschlands". (Hrsg.: Internationaler Gewerkschaftsbund, Druck: Holländischer Gewerkschaftsbund). Vom 8. bis 11. Juli 1936 in London Teilnehmer am Kongreß des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) und im August 1938 Teilnehmer an der ADG-Konferenz in Mühlhausen. Befürwortete die Gewerkschaftspolitik Fritz Tarnows, wollte nach dem nationalsozialistischen Zusammenbruch die alte Führung wieder in ihre alten Rechte einsetzen. Eine Zusammenarbeit mit Parteikommunisten, Anhängern sozialistischer Splittergruppen und der Internationalen Transportarbeiter-Föderation lehnte er ab. ("Auf keinen Fall gönne ich diesen Leuten irgendeinen Einfluß beim Wiederaufbau der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.") Reißner knüpfte als ehemaliger Reichstagsabgeordneter enge Kontakte zum emigrierten Sopade-Vorstand. Ab Mai 1939 Nachfolger Ernst Schumachers als Korrespondent der "Deutschland-Berichte" für Nordwestdeutschland. 1939 bemühte sich Reißner vergeblich beim IGB um die Errichtung einer ADG-Zentrale in London für verstärkte Aktivitäten im Kriegsfall. Nahezu einmütig hatten sich die AGB-Leitungen im Ausland dafür ausgesprochen, Reißner für dieses Amt vorzusehen. Im Februar 1940 mit seiner Familie von den nationalsozialistischen Machthabern ausgebürgert. Reißner wählte nach Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande am 15. Mai 1940 mit seiner Familie den Freitod durch Gasvergiftung. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998 |