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Müller, August (1873 - 1946)

Geboren am 20. November 1873 in Wiesbaden als Sohn eines Gärtnereibesitzers, Dissident. Besuchte eine achtklassige Mittelschule in seiner Heimatstadt und erlernte anschließend das Schlosser- und Gärtnerhandwerk. Arbeitete als Gärtnergehilfe in Dortmund und Düsseldorf, meldete sich am 25. August 1891 in Hamburg an, dem Zentrum der gewerkschaftlichen Gärtnerbewegung. Seit 1894 Mitglied der SPD und des 1889 gegründeten freigewerkschaftlichen "Zentralvereins der Gärtner" (Sitz Hamburg), der nach den verlorenen Frühjahrstreiks beträchtliche Mitgliederverluste hatte hinnehmen müssen. (1892: 986 Mitglieder, 1893: 732 Mitglieder, 1894: ca. 400 Mitglieder.) Arbeitete als Gärtner in Barmbek, während der Freizeit Selbststudium und Besuch von Fortbildungskursen. Im August 1896 Wahl in den Hauptvorstand als Schriftführer seiner Gewerkschaft, Mitarbeiter am "Hamburger Echo".

Gehörte seit 1895 zu den rhetorisch begabtesten Agitatoren in sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Versammlungen der Hansestadt, nahm zu allen "brennenden Fragen" der Arbeiterbewegung Stellung. Popularisierte vor allem den historischen Materialismus und galt mit dreiundzwanzig Jahren als "gelernter Marxist". Delegierter und Wortführer der freigewerkschaftlichen Richtung auf dem 1. Allgemeinen deutschen Gärtnertag zu Erfurt vom 1. bis 2. August 1896, der der Zersplitterung der Gärtnerbewegung ein Ende bereiten sollte. 40 Delegierte vertraten die beiden großen Organisationen, den neutralen "Allgemeinen Deutschen Gärtner-Verein" und den freigewerkschaftlichen "Zentralverein der Gärtner" sowie mehrere Lokalorganisationen. Bekenntnis Müllers zum "Klassenkampf", legte allerdings Kompromißbereitschaft in der Organisationsfrage an den Tag. Der Gärtnertag beschloß die Gründung einer gemeinsamen Organisation ("Deutsche Gärtnervereinigung"), in der auch Ungelernte Platz haben sollten. Die Erfurter Beschlüsse kassierte allerdings eine Delegiertenkonferenz des "Allgemeinen Deutschen Gärtner-Vereins", so daß die Fusion scheiterte. Von einer erhobenen Anklage wegen "Verrufserklärung" im Januar 1897 in Hamburg freigesprochen. Auf der 2. ordentlichen Generalversammlung vom 28. Februar bis 1. März 1897 verteidigte Müller die Erfurter Kompromißbeschlüsse und regte - trotz des Scheiterns der Einigungsverhandlungen - die Übernahme "Deutsche Gärtnervereinigung" als neuen Verbandsnamen an.

Wahl zum 1. Vorsitzenden der Organisation, die sich mit ca. 500 Mitgliedern mühsam erholt hatte. Ende 1897 stellte der bisherige Geschäftsführer Hermann Holm sein Amt zur Verfügung. Wahl Müllers zum hauptamtlichen Geschäftsführer und Redakteur (die eigentliche "Machtposition") auf einer Versammlung in Hamburg am 18. Dezember 1897. Die Nachfolge als Vorsitzender trat Paul Sorge an. Seit dem 10. Dezember 1897 bekleidete Müller ferner das Amt des 1. Vorsitzenden der Zahlstelle Hamburg. Der frisch gewählte Geschäftsführer legte zum 1. Februar 1898 alle Ämter in Hamburg nieder und trat auf Empfehlung Adolph von Elms in Magdeburg die Stelle des 2. Redakteurs der "Volksstimme" an. Wurde sofort mit "Magdeburgischen Verhältnissen" konfrontiert, der schärfsten Verfolgung der Presse der Arbeiterbewegung im Deutschen Reich. Elfmalige Verurteilung von März bis November 1898 vor dem Magdeburger Landgericht wegen Preßvergehens, wobei mehrfach das Leipziger Reichsgericht die Strafe milderte. Neben Geldstrafen verurteilte die berüchtigste antisozialdemokratische Instanz im Reich Müller viermal zu Haftstrafen. Haftantritt im Oktober 1898. Am 9. Januar 1899 Verurteilung zu 4 Jahren und 1 Monat Haft wegen Majestätsbeleidigung nach Wiederabdruck eines satirischen Artikels im Magdeburger SPD-Blatt im Juni 1898. Bestätigung der Haftstrafe vor dem Leipziger Reichsgericht, trotz des Nachweises, zur fraglichen Zeit nicht in Magdeburg gewesen zu sein. In einem der spektakulärsten Fällen von "Klassenjustiz" übernahm der Redakteur und Reichstagsabgeordneter Albert Schmidt die alleinige Schuld für den inkriminierten Artikel. Nach Aufhebung der Immunität Verurteilung Schmidts zu 3 Jahren Haft. Im Gegenzug Freispruch Müllers nach einem Wiederaufnahmeverfahren am 17. November 1899 vor dem Magdeburger Landgericht. Der ehemalige Gärtnervorsitzende beteiligte sich 1900 nochmals an der innergewerkschaftlichen Debatte, plädierte für eine strikte Zentralisation auf freigewerkschaftlicher Grundlage, ohne Verschmelzungsangebote an die neutrale Gärtnerbewegung. Die Zeit arbeite für den freigewerkschaftlichen Gedanken.

Beendete im März 1901 seine Magdeburger Tätigkeit, schrieb sich im April 1901 an der Universität Zürich ein (moderne Sprachen und staatswissenschaftliche Disziplinen). Finanzierte den Studienaufenthalt mit seinem Erbteil aus dem väterlichen Geschäft. Obgleich der Autodidakt nicht die nötigen formalen Qualifikationen vorwies, eröffnete die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich nach einer Sonderregelung das Promotionsverfahren (Nebenfächer "Finanzwissenschaft" und "Rechts-Enzyklopädie"). Von der deutschen Arbeiterpresse breit gewürdigt, promovierte der Gärtnergeselle mit seiner Dissertation "Arbeitersekretariate und Arbeiterversicherung in Deutschland" am 6. Juli 1904 mit summa cum laude. Die hochgelobte Schrift vertrieb in Deutschland der renommierte sozialdemokratische Birkverlag. Eine Neuauflage erschien 1907 unter dem Titel "Arbeitersekretariate und die Staatsversicherung der Arbeiter in Deutschland" in St. Petersburg. Nach erfolgreicher Promotion Rückkehr als Journalist an die Magdeburger "Volksstimme". Müller bezog während seines Studiums unter dem Einfluß Professor Heinrich Herkners deutlich "rechtere" Positionen. Neben Hermann Beims und Otto Landsberg herausragender Vertreter revisionistischer Anschauungen in der Magdeburger SPD. Müller spielte künftig eine wichtige Rolle bei der gewerkschaftlichen Schulung. 1906 Mitglied des neugewählten Bildungsausschusses von Gewerkschaftskartell und örtlicher Sozialdemokratie. Mitarbeiter an den revisionistischen Blättern "Neue Gesellschaft" und "Sozialistische Monatshefte". Aufsichtsratsmitglied des Konsumvereins Magdeburg-Neustadt. Plädierte im März 1907 für ein breites Bündnis der Sozialdemokratie mit dem politischen Liberalismus. Im Oktober 1907 Rückkehr nach Hamburg, Eintritt in die Redaktion der "Konsumgenossenschaftlichen Rundschau" und des "Konsumgenossenschaftlichen Volksblatts". Mitbegründer des "Ketzerklubs", einer Vereinigung besoldeter Hamburger Gewerkschaftsfunktionäre auf dem Boden revisionistischer Theorien. Während des ganzen Jahres 1909 scharfe Attacken der Hamburger Landesorganisation wegen Müllers marxkritischer Äußerungen, Vorwurf der "Sonderbündelei". Als Ende 1912 die organisatorische Umgestaltung des "Zentralverbandes deutscher Konsumvereine" erfolgte, wurde er Vorstandsmitglied des Zentralverbandes und der Verlagsgesellschaft deutscher Konsumvereine.

1913 bis 1916 Mitglied des genossenschaftlichen Tarifamts, das für die Regelung der Arbeits- und Lohnbedingungen zwischen dem "Zentralverband deutscher Konsumvereine", dem "Deutschen Transportarbeiter-Verband" und den freigewerkschaftlich organisierten Handlungsgehilfen zuständig war. Aufsichtsratsmitglied der "Volksfürsorge". Zum 1. Juni 1916 als erster Sozialdemokrat überhaupt in eine Regierungsamt berufen: Eintritt in den Vorstand des Kriegsernährungsamtes. Im Juli 1917 vom Reichskanzler Georg Michaelis zum Unterstaatssekretär für das Kriegsernährungsamt berufen; Ernennung zum Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsrat im Oktober 1918. Erhielt als Ehrenzeichen das Eiserne Kreuz am weiß-schwarzen Bande verliehen. Vom 16. November 1918 bis 15. Februar 1919 Staatssekretär im Reichswirtschaftsrat. Müller lebte nach seiner Dienstentlassung kurzfristig als freier Schriftsteller. Von der ihm eingeräumten Möglichkeit, wieder an die gleiche Stelle in der Organisation der Konsumvereine zurückzukehren, machte er keinen Gebrauch. Am 30. Juni 1920 von der Reichsregierung zum Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats ernannt. Auf der ersten Vollversammlung des Gremiums am 5. Juli 1920 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Wirtschaftspolitischen Ausschusses gewählt, gleichzeitig Vorsitzender im Unterausschuß für Landwirtschaft und Ernährung. Verteidigte in zahlreichen Zeitungsartikeln die "ungeliebte" Wirtschaftskammer.

Am 9. August 1920 Berufung zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität. Besondere Forschungsgebiete: Genossenschaftswesen, Wirtschaftsorganisation, Arbeiterfrage und Sozialpolitik. Intensive Reisetätigkeit: 1920 Reise in die junge Sowjetunion, 1923 Studienreise in den nahen Osten. Mitglied des Aufsichtsrates der Preußischen Staatsbank und der Preußischen Zentralgenossenschafts-Kasse. 1925 verließ Müller die SPD und trat der DDP bei. 1929 Austritt aus der DDP, seit dieser Zeit nicht mehr politisch organisiert. Verfasser zahlreicher Monographien: "Gewerkschaften und Unternehmerverbände". Magdeburg 1906, "Die Seifenfabrik der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine in Gröba-Riesa". Hamburg 1910, "Sozialisierung oder Sozialismus? Eine kritische Betrachtung über Revolutionsideale". Berlin 1919, "Weltkrieg und wirtschaftlicher Wiederaufbau". Berlin 1920, "Gewaltfrieden und Wirtschaftsaufbau". Berlin 1920, "Das deutsche Genossenschaftswesen. Eine Darstellung bodenständiger Gemeinwirtschaft". Berlin 1922, "Unsere Not - unser Lebenswille". Berlin 1922, "Wege zur Kapitalneubildung in Deutschland". Leipzig 1926, "Die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Genossenschaften der Landwirte und der Verbraucher. Kritische Betrachtungen über Beschlüsse der Weltwirtschaftskonferenz in Genf". Jena 1928, "Die deutsche Volkswirtschaft. Die gestalterischen Kräfte und das Wirtschaftsbild". Berlin 1931. Müller lebte 1943 in Berlin-Wilmersdorf. Er starb 1946. Testamentseröffnung an der Berliner Universität am 28. April 1947.


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