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Grauer, Oswald (1855 - 1914)

Geboren am 7. Juli 1855 in Liegnitz (Schlesien), verheiratet. Kam in den [siebziger/achtziger] Jahren nach Berlin. Arbeitete in der Reichshauptstadt als Hausdiener. Mitglied des am 20. September 1883 gegründeten "Vereins Berliner Hausdiener", der ersten bedeutenden Lokalorganisation von Hilfsarbeitern im Handelsgewerbe. Am 18. September 1885 Wahl zum Vorsitzenden der Lokalorganisation. Oswald Grauer trug maßgeblich dazu bei, daß der fortgeschrittene Teil unter den Vereinsmitgliedern am 7. Juli 1886 den "Unterstützungsbund Berliner Hausdiener" gründete, dessen statuarischer Zweck "neben der Pflege kollegialischen Gemeinsinns die Unterstützung seiner Mitglieder bei Arbeitslosigkeit und in Fällen unverschuldeter Not" war. In Wirklichkeit handelte es sich um eine kampforientierte Gewerkschaft, die weit mehr wollte als Geselligkeit und soziale Absicherung in Notfällen. Der Schlesier prägte über fünf Jahre hinweg wie kein anderer die Politik des Bundes, zunächst als Vorsitzender (Sommer/Herbst 1886 bis [Oktober 1888], sodann als Obmann der außerordentlich wichtigen Rechtsschutzkommission (Oktober 1888 bis April 1889) und zuletzt wieder als Vorsitzender (ab 8. Oktober 1889).

Im Februar 1889 übernahm er als besoldeter Funktionär den Arbeitsnachweis des Verbandes. Im August 1889 in eine Kommission gewählt, die die Gründung eines "Fachblattes" für alle Berliner Hausdiener prüfen und in die Wege leiten sollte (die spätere "Einigkeit"). Grauer lenkte die ersten Schritte der freigewerkschaftlichen Handels- und Transportarbeiterbewegung, die erst nach Fall des Sozialistengesetzes und einem stürmischen Industrialisierungsprozeß über die Grenzen Berlins hinaus sich reichsweit organisieren sollte. Obwohl der Unterstützungsbund unter seiner Ägide seine Mitgliederzahl fast verzehnfachen konnte (von 130 auf ca. 1.000 Mitglieder), erkannte Grauer sehr bald, daß die entscheidende Schwäche der lokalistischen Gewerkschaftsbewegung im Handelsgewerbe ihre organisatorische Zersplitterung war. Keine Wiederwahl in den Verbandsvorstand am 20. Mai 1896. Grauer hatte zunächst viel Sympathien, sich den ungelernten Fabrikarbeitern anzuschließen, die sich im Sommer 1890 organisatorisch konsolidieren sollten. Agititierte im Juni 1890 gegen starken Widerstand für eine Beteiligung am Gründungskongreß und bekam für die Gründungsversammlung des "Verbandes der Fabrik-, Land-, Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands" vom 29. Juni bis 2. Juli 1890 in Hannover ein Mandat ausgestellt. Stellte sich im zweiten Halbjahr 1891 an die Spitze der Einheitsbestrebungen in Berlin, was sich darin widerspiegelte, daß er nicht nur Mitglied der Einigungskommission wurde, sondern auch in zahlreichen Versammlungen für eine einheitliche Hausdienerbewegung in der Reichshauptstadt eintrat. Gleichzeitig gab er in anderen Städten wichtige Impulse zur Gründung neuer Lokalorganisationen. So bildete sich nach einem Vortrag in Breslau am 13. Juni 1890 ein erster Berufsverein auf lokaler Grundlage.

Zum 1. Januar 1892 fusionierte der "Unterstützungsbund der Hausdiener" mit dem "Zentralverein der Haus- und Geschäftsdiener" zum "Verband der Geschäftsdiener, Packer und Berufsgenossen". Es war nicht zuletzt Grauers Überzeugungsarbeit zuzuschreiben, daß auch Mitglieder fusionsunwilliger Lokalvereine der neuen Gewerkschaft beitraten. Dennoch blieb seine Hoffnung auf die "Gründung einer einzigen Gesamtorganisation", wie er auf der 1. Generalversammlung am 29. Januar 1892 feststellen mußte, wieder einmal unerfüllt. So war Anfang Dezember 1891 eine außerordentliche Generalversammlung des "Vereins Berliner Hausdiener" abgehalten worden, wo er als Berichterstatter der Einigungskommission nochmals eindringlich begründet hatte, warum eine starke wie auch große Hausdienerorganisation notwendig sei und worin ihre Vorzüge bestünden. Ungeachtet dessen votierte damals die Mehrheit der anwesenden Mitglieder mit 176 zu 129 Stimmen gegen eine Vereinigung. Ebenso erfolglos waren seine jahrelangen Bemühungen, als Ausschußmitglied die Mitglieder der "Kranken- und Sterbekasse der Berliner Hausdiener" dazu zu bewegen, die Kasse aufzulösen oder sie zumindest dem "Deutschen Krankenkassenverband" anzuschließen. Seiner Argumentation lag offensichtlich jene Erkenntnis zugrunde, wonach die Leistungsfähigkeit dieser Unterstützungskassen nur gering war und die Schwäche der frühen Gewerkschaftsbewegung widerspiegelte. Im neuen Verband übernahm Grauer zahlreiche Funktionen, wie die des 1. Kassierers und die des Stellenvermittlers, wofür er seine Wohnung zur Verfügung stellte. Für seine Vermittlertätigkeit erhielt er ein Gehalt von monatlich 27 Mark, doch mußte er davon die Miete und die Reinigungskosten bestreiten.

In seinem Verlag erschien ab dem 1. April 1893 erstmals das "Correspondenzblatt des Verbandes der Geschäftsdiener, Packer und Berufsgenossen", dessen Schriftleitung er formal innehatte. Die eigentliche Redaktionsarbeit wurde allerdings von Johann Dreher geleistet, der als Österreicher ständig von Ausweisung bedroht war. Delegierter auf dem 1. Berufskongreß aller im Handelsgewerbe beschäftigter Geschäfts-, Haus-, Komptordiener, Markthelfer, Packer, Ausläufer, Speicher-, Speditions- und Kellerarbeiter, Geschäftskutscher und verwandte Berufsgenossen zu Pfingsten 1894 zu Halle. Die ihm angetragene Kandidatur eines Mitgliedes der Agitationskommission lehnte Grauer jedoch ab. Im übrigen unterstützte er die Beibehaltung der Lokalorganisation ("lose Zentralisation durch Vertrauensmännersystem"). In den frühen neunziger Jahren Beisitzer im Berliner Gewerbegericht. Die Ausübung dieses Ehrenamtes erforderte sehr viel Zeit, zumal das Gericht eine dreifache Funktion hatte: Es war Schiedsstelle für Streitigkeiten, die dem Arbeitsverhältnis entsprangen, es war Gutachter in Gewerbeangelegenheiten und es war Einigungsamt bei drohenden bzw. ausgebrochenen Streiks und bei Aussperrungen. Hierbei gewann Oswald Grauer tiefe Einsichten in die Arbeitsbedingungen und -verhältnisse der Handelshilfsarbeiter, weshalb er vom Reichsamt des Innern, das 1894 entsprechende Erhebungen anstellte, als Sachverständiger hinzugezogen wurde. Grauer zeichnete für die Broschüre "Ein Beitrag zur Lage und den Organisationsbestrebungen der Hilfsarbeiter im Handelsgewerbe". Berlin 1894 verantwortlich, die u.a. die Antwort des Verbandes an die Reichskommission für Arbeiterstatistik enthielt.

Am 15. Juli 1894 trat Grauer scheinbar unvermittelt von allen Verbandsfunktionen zurück, wobei sich persönliche und gewerkschaftspolitische Gründe mischten. Neben ständigen Reibungen mit dem Redakteur des Verbandsblattes Johann Dreher, deuteten sich erste Dissonanzen um den kommenden organisationspolitischen Kurs der organisierten Handelshilfs- und Transportarbeiter an, wobei Grauer eindeutig zu dem "lokalistischen" Flügel neigte. Am 16. Oktober 1896 brachten Mitglieder im "Verband aller im Handels- und Transportgewerbe beschäftigten Hilfsarbeiter für Berlin und Umgebung" einen Antrag auf Ausschluß Grauers ein. Grauer hatte 47,65 Mark an Zinsgeldern nicht rechtzeitig auf das Verbandskonto verbuchen lassen. Trotz einer Zusage den Fehlbetrag auszugleichen, fand sich am 6. Dezember 1896 eine Mehrheit für den Ausschluß. Versuche, den Nestor der Berliner Handelshilfsarbeiter durch neue Zeugenausssagen im Mai 1897 zu rehabilitieren, scheiterten ebenso wie die Bemühungen von wohlwollenden Mitgliedern, ihn am 2. September 1900 in den "Zentralverband der Handels- Transport- und Verkehrsarbeiter Deutschlands" aufzunehmen. Nach seinem Ausschluß baute sich Oswald Grauer eine neue Existenz als Gastwirt in Lichtenberg auf. Innerhalb kürzester Zeit war seine Gastwirtschaft zu einem der bekanntesten und beliebtesten Versammlungslokale der Lichtenberger Sozialdemokraten geworden; zudem konnten sie hier die ausliegenden Presseorganen der Sozialdemokratie lesen und kaufen.

Am 29. Januar 1900 in die örtliche Zeitungskommission, sodann am 20. Oktober 1900 in die Preßkommission des Sozialdemokratischen Kreiswahlvereins Niederbarnim gewählt. Dieser Kommission gehörte er bis zum 2. Februar 1908 an. Schließlich am 18. März 1901 zum Leiter der "Vorwärts"-Spedition für Friedrichsberg-Friedrichsfelde gewählt. Am 1. April 1901 gab er sein Gewerbe als Gastwirt auf, um hauptamtlich die Stelle eines Parteispediteurs zu übernehmen, wobei sich seine neuen Arbeitsräume in der Frankfurter Allee befanden. Im April 1901 außerdem zum Bibliothekar des Lichtenberger Ortsvereins ernannt und am 10. Oktober 1901 noch zum Abteilungsführer gewählt. Der ehemalige Hausdiener gehörte zu jenem Typ von Arbeiterfunktionär, der weniger Theoretiker als vielmehr Praktiker war. Das spiegelte sich nicht zuletzt darin, daß er zwar zehnmal an einem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie teilnahm (1893, 1901 wie auch, 1902, 1906 bis 1912), doch niemals das Wort ergriff. Auf Partei- sowie Gewerkschaftsversammlungen, wo Grauer öfters referierte oder sich zumindest an der Diskussion beteiligte, sprach er höchst selten zu "großen politischen Themen". Eine dieser großen Ausnahmen bildete seine Diskussionsrede auf der Generalversammlung des Sozialdemokratischen Kreiswahlvereins Niederbarnim vom 19. August 1900. Hier suchte er, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands das Recht abzusprechen, die Gewerkschaftsfrage auf ihrem Parteitag zu behandeln (das sei einzig und allein eine Angelegenheit der Gewerkschaften), und hier lehnte er eine Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen "für immer" ab. Ende 1902/Anfang 1903 legte Oswald Grauer sämtliche Funktionen im Lichtenberger Ortsverein nieder, da er von der örtlichen Krankenkasse angestellt worden war. Für die Sozialdemokratie arbeitete Grauer engagiert in zwei parlamentarischen Vertretungen weiter. Zunächst gehörte er der Lichtenberger Gemeindevertretung an, wenngleich der die örtlichen Haus- und Grundbesitzer repräsentierende Bürgerverein immer wieder versuchte, die sozialdemokratischen Mandate - und damit auch seine Wahl - anzufechten. Am 19. März 1900 war Oswald Grauer mit 589 gegen 104 Stimmen gewählt worden.

Als er Anfang Mai in sein neues Amt eingeführt werden sollte, erhob ein bürgerlicher Abgeordneter dagegen Einspruch, jedoch erwies sich dessen vorgebrachte Behauptung als nicht stichhaltig. Die Wahl wurde, wenn auch mit 11 zu 11 (die Stimme des Vorstehers gab den Ausschlag) denkbar knapp, für gültig erklärt. Kaum daß dieses Hindernis genommen war, ordnete die Regierung eine Neuwahl der gesamten Gemeindevertretung an. Obwohl Grauer auch bei der Wahl am 13. Februar 1901 mit überwältigender Mehrheit (359 gegen 91 Stimmen) gewählt wurde, erklärte der Kreisauschuß am 4. Dezember sein Mandat für ungültig. Folglich konnte er erst nach seinem dritten Wahlsieg in Folge [Februar/März 1902] endgültig in das Lichtenberger Gemeindeparlament einziehen. Außer der örtlichen Kommunalvertretung gehörte der ehemalige Hausdiener auch dem Niederbarnimer Kreistag an, in der er am 13. Juni 1901 gewählt und sechs Monate später eingeführt werden konnte. Seine Wahl erregte in ganz Deutschland Aufsehen, weil die Kreisparlamente infolge des geltenden Wahlrechts (die Abgeordneten wurden von den Gemeindevertretungen berufen, deren Mitglieder wiederum auf Grundlage des Dreiklassenwahlrechts gewählt worden waren) als der Sozialdemokratie verschlossene Körperschaft galten. Ein Erfolg, der vom Zentralorgan "Vorwärts" überschwenglich begrüßt wurde. Dennoch blieb die Lichtenberger Gemeindevertretung auch in den folgenden Jahren sein Hauptbetätigungsfeld. Es waren vor allem die Interessen der städtischen Arbeiter, die Oswald Grauer hier vertrat.

In den Plenarsitzungen des "Dorfparlaments" (Lichtenberg war damals mit 45.000 Einwohnern die größte preußische Landgemeinde) wandte er sich zunächst gegen die Entlassung von Gemeindearbeitern (16. August 1900). Später setzte er sich nachdrücklich für die Regelung ihrer Altersversorgung ein (Juni 1901) und schließlich forderte er für sie, nachdem die Lebenshaltungskosten stark angestiegen waren, entsprechende Teuerungszulagen (5. Januar 1912). Daneben galt Grauer als Sprecher der sozialdemokratischen Gemeindefraktion in gesundheitspolitischen Fragen, überdies äußerte er sich immer wieder mit großer Sachkenntnis zu Problemen der hiesigen Schul- und Verkehrspolitik. Auf Grund seiner kommunalpolitischen Kompetenz wurde Oswald Grauer, nachdem Lichtenberg am 5. November 1907 das Stadtrecht erhalten hatte, auch in wichtige Kommissionen wie in den Wahl- und Petitionsausschuß delegiert. Im Jahre 1913 sollte er sogar in die bisher "sozialistenfreie" Schuldeputation berufen werden, allerdings versagte ihm der preußische Kultusminister seine Bestätigung. Kandidierte als anerkannter Kommunalpolitiker 1907 und 1912 im Regierungsbezirk Frankfurt an der Oder im Wahlkreis 6 (Züllichau-Schwiebus-Krossen) für den Reichstag. Erlangte im ersten Wahlgang 18,6%, bzw. 26,1% der abgegebenen Stimmen, ohne in die Stichwahl zu gelangen. Wie groß seine Autorität als Gemeindevertreter war, zegte sich auch darin, daß Grauer am 11. Februar 1908 zum Beisitzer im Büro der Lichtenberger Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde. Infolge einer schweren Krankheit konnte er dieses Amt nur zwei Monate ausüben. Seine kommunalpolitische Karriere schien sich einem frühen Ende zuzuneigen.

In Wirklichkeit sollte sie erst fünf Jahre später ihren Höhepunkt erreichen: Am 9. Januar 1913 wählten ihn die Lichtenberger Parlamentarier mit 58 von 62 abgegebenen Stimmen überraschend zum stellvertretenden Stadtverordnetenvorsteher, nachdem er zwölf Monate zuvor noch dem bürgerlichen Kandidaten für dieses kommunale Ehrenamt unterlegen war. Ebenso unerwartet ging Grauer aus den Stadtratswahlen am 4. Dezember 1913 als Sieger hervor. Auch wenn ihm die Regierung die Bestätigung als Stadtrat versagte, fanden beide Wahlergebisse über Lichtenberg hinaus starke Aufmerksamkeit, da preußische Sozialdemokraten zu jener Zeit so gut wie nie in derartige Ämter berufen wurden. Daß ihm selbst mehrere städtische Beamte ihre Stimme gaben, war vor allem seiner kommunalpolitischen Sachkompetenz und seiner Integrationskraft zuzuschreiben. Unbestritten galt er als einer der führenden Kommunalpolitiker in der Sozialdemokratischen Partei Preußens. Im Herbst 1914 nach einer schweren Erkrankung in die Heilanstalt Hoppegarten eingeliefert. In der Klinik starb Oswald Grauer am 28. Oktober 1914. Die Sozialdemokratie würdigte sein

Leben breit, die organisierte Handlungsgehilfen- und Transportarbeiterbewegung nahm von seinem Ableben kaum Notiz.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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