FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Görlitz, Carl (1865 - 1908)

Geboren am 24. Dezember 1865 in Magdeburg als Sohn eines Baggerers, protestantisch, später Dissident. Von [1885-1886] Militärdienst als Landwehrmann. Arbeitete nach seiner Entlassung im Magdeburger Hafen, wohnte von 1887 bis 1894 in der Alten Neustadt von Magdeburg. Görlitz galt in Magdeburg als stiller und verschlossener Autodidakt, der in seiner Heimatstadt politisch zur innersozialdemokratischen Opposition, - den "Jungen" - hielt. Der Magdeburger antiautoritäre Linkssozialismus prägte den Hafenarbeiter entscheidend. Mitarbeiter an Curt Landauers Zeitschrift "Sozialist". Die überwachende Polizei stufte ihn als militanten Anarchisten ein. 1896 nach dem großen Hamburger Hafenarbeiterstreik trat Görlitz dem "Verband der Hafenarbeiter und verwandter Berufsgenossen Deutschlands" bei; mit einer Handvoll Gleichgesinnter gründete er eine Organisation, die bislang in der preußischen Provinz Sachsen nicht präsent war.

Zu Beginn des Jahres 1897 als Vorsitzender der Magdeburger Filiale gewählt. Görlitz artikulierte als anerkannter Sprecher der Magdeburger Speicherarbeiter die Proteste gegen die Arbeitsbedingungen in den Salpeterlagern ("Salpeterminen") und griff die Magdeburger Stadtverwaltung in Wort und Schrift mit unerbittlicher Schärfe an. Initiierte verschiedene Lohnbewegungen der Elb- und Hafenarbeiter. Seine Agitation gewann dadurch an besonderer Sprengkraft, weil er Arbeits- und Wohnbedingungen gleichermaßen zum Ziel seiner Angriffe machte. Am 8. Januar 1898 vom Magdeburger Landgericht wegen Beleidigung des heimischen Oberbürgermeisters zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Haftentlassung verwehrte ihm die Magdeburger Stadtverwaltung jeden Zutritt zu den Arbeitsplätzen städtischer Betriebe. Im Juni 1900 verzog der Magdeburger nach Hamburg; Arbeit in einer Zuckerfabrik in Schulau. Görlitz löste sich um die Jahrhundertwende vom libertären Milieu und brach den persönlichen und organisatorischen Kontakt zum deutschsprachigen Anarchismus ab. Im August 1900 siedelte Görlitz nach Berlin über und arbeitete in einer Möbelfabrik als Polierer.

Verdingte sich nach dem Bankrott seiner alten Firma zeitweise als Hausdiener. Suchte von März bis August 1903 wieder in Magdeburg Fuß zu fassen. Kehrte im August 1903 erneut nach Hamburg zurück und übernahm nach einem ganz kurzen Zwischenspiel als Packer in einem Speditionsgeschäft am 1. September 1903 die redaktionelle Leitung des "Hafenarbeiters". Seine Anstellung erfolgte durch die Vermittlung des Magdeburger Gauleiters Adolf Decker, der den belesenen Autodidakten dem Verbandsvorstand der organisierten Hafenarbeiter empfahl. Nach dem Beschluß der 7. ordentlichen Generalversammlung im Januar 1902, einen besoldeten Redakteur einzustellen, hatte der "Verband der Hafenarbeiter und verwandter Berufsgenossen Deutschlands" mit zwei angestellten Redakteuren zunächst "Pech", ehe mit Görlitz ein Redakteur neuen Typs einzog. Unter seiner Federführung entwickelte sich der "Hafenarbeiter" zu einem der radikalsten deutschen Gewerkschaftsblätter. Der Magdeburger nahm an allen Sitzungen des Verbandsvorstandes teil und führte das Blatt in enger Übereinstimmung mit dem Verbandsvorstand, der die Integrationswirkung radikaler Sprache zu schätzen wußte. Görlitz galt bald im Hamburger Hafen als der "beliebteste Kollege und Redner". Sein charismatischer Einfluß auf die angelernten Arbeiter blieb bis zu seinem Tode ungebrochen. Bis 1908 konnte er die Auflage des Blattes auf 35.000 Exemplare steigern. Görlitz verbannte Annoncen aus dem Mitgliederorgan, gleichzeitig präsentierte er den klassischen sozialistischen Bildungskanon (namhafte bürgerliche Schriftsteller, populär gehaltene naturwissenschaftliche und historische Aufsätze). Die Expedition des Blattes besorgte er selbst. Teilnehmer auf dem 8. Verbandstag vom 22. bis 26. Februar 1904 in Hamburg und dem 9. Verbandstag vom 26. Februar bis 2. März 1906 in Stettin.

Görlitz mußte sich in Stettin erster innergewerkschaftlicher Angriffe erwehren, da er im "Hafenarbeiter" für den linken Parteiflügel innerhalb der Sozialdemokratie das Wort ergriffen hatte. Auf der Konferenz der Zentralvorstände der freigewerkschaftlichen Verbände der Eisenbahner, Hafenarbeiter, Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter, Maschinisten, Heizer und Seeleute vom 7. bis 8. September 1906 plädierte der Redakteur des "Hafenarbeiters" aus politisch-pädagogischen Gründen für ein einheitliches Gesamtorgan des geplanten Einheitsverbandes. Görlitz war heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Im Juni 1905 wegen Beleidigung eines Meißener Schiffseigners und Kohlenhändlers zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt. Im April 1906 verhängte das Landgericht Hamburg eine sechsmonatige Gefängnisstrafe wegen eines Artikels im "Hafenarbeiter" ("Menschenopfer und Ungezieferplage"), der Betriebsunfälle im Hamburger Hafen geißelte. Das Leipziger Reichsgericht kassierte im März 1907 das Urteil wegen prozessualer Verstöße. Erneute Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat vor dem Hamburger Landgericht nach einem Kommentar zur Reichstagswahl. ("Ein Bürgertum, das so jämmerlich sich zeigt, das im Sumpfe des Byzantinismus sich wälzt, sich in der ekelhaftesten Weise entmannt und politischen Fatzken nachläuft, ist nicht mehr imstande, Nährkraft für sein Volk hervorzubringen.") Weitere Anklagen endeten mit Freispruch oder mit Geldstrafen.

Der 10. Verbandstag vom 11. bis 15. Mai 1908 in Hamburg, auf dem Görlitz nicht teilnehmen konnte, dokumentierte erste Dissonanzen zwischen dem Vorsitzenden Johann Döring und seinem Redakteur. Döring war offensichtlich nicht mehr bereit, die radikale Sprache des Verbandsorgans zu akzeptieren. Seit 1907 zeigten sich bei Görlitz Symptome einer schweren Krankheit. Das Glückstädter Gefängnis verließ Görlitz 1908 als gebrochener Mann und konnte seine Arbeit nicht wieder aufnehmen. Carl Görlitz starb am 30. Juli 1908 bei seinen Eltern in Magdeburg an Magenkrebs. Seine Beerdigung am 2. August 1908 in Hamburg gestaltete sich zu einer eindrucksvollen Massendemonstration aller Sektionen und Mitgliedschaften der Hamburger Hafenarbeiter.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

Previous Page TOC Next Page