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3.5. Kopenhagen und die Folgen (1883/84)

„Mein Geschäftslokal wurde schließlich von der Polizei geradezu belagert und jede Haussuchung mit einem Aufwand von 16 – 20 ‘Fahndern’ bewerkstelligt. Eine Weiterführung des Geschäfts, soweit es die Buchdruckerei betraf, wurde unmöglich" [Heinrich Dietz, in: Auer 1890/1913, S. 246.] .

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3.5.1. 1883: Parteikonferenz in Kopenhagen

Heinrich Dietz fuhr im Frühahr 1883 gemeinsam mit Bruno Geiser, Wilhelm Blos, Max Kayser und Wilhelm Liebknecht nach Kopenhagen zur Konferenz der Sozialdemokraten. Er nahm mit Geiser und Blos Quartier im Eisenbahnhotel (StA Lb F 201, Bü 623, 9. 4. 1883; vgl. hierzu auch StAH S 542) und wurde zu einem der Protokollanten der Kongreß-Verhandlungen bestimmt (SPD-Protokollnotizen 1883, S. 65). Ganz offen hatte der „Sozialdemokrat" im Januar und Februar 1883 zur Delegiertenwahl für die in Zürich beschlossene Parteikonferenz aufgerufen: „Es ist jeder willkommen, der nachweist, daß er im Namen einer größeren Anzahl für diesen Zweck zusammengetretener Parteigenossen zur Parteiberatung kommt" (SD 5[1883], 1.2., zit. nach Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 135).

Noch lange später bereitete es den Sozialdemokraten ein grandioses Vergnügen, daß die deutsche Polizei bis zum Beginn des Kongresses keine Ahnung hatte, wohin die Versammlung einberufen war [„Auch die sehr eifrig vigilierende Politische Polizei vermochte nichts zu erfahren und konnte nichts tun, als ihre Dispositionen auf Grund allgemeiner Wahrnehmungen zu machen. [...] Die politische Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums ordnete deshalb mehrere Beamten nach der Schweiz ab. Angeblich soll auch, für alle Fälle, ein Agent nach London gegangen sein" (Reichstags-Kommission 1883, S. 4). Auch Polizeipräsident von Madai mußte „mangels anderer zuverlässiger Nachrichten" in seinem Lagebericht (30.7.1883, zit. in: Höhn 1964, S. 167ff.) auf den offiziellen Kongreßbericht im „Sozialdemokrat", bzw. auf den Sonderabdruck als Broschüre zurückgreifen (S. 167).] . Die deutsch-schweizer Grenze war nahezu abgeriegelt, als sich die meisten der aus Deutschland gemeldeten Delegierten in Kiel sammelten, um dort endgültig über den Tagungsort informiert zu werden. Auf verschiedenen Routen trafen sie zur Vorversammlung am Gründonnerstag nachmittags (29. März) in Kopenhagen [Vgl. hierzu das offizielle Protokoll des Parteikongresses 1883 sowie die handschriftlichen Protokollnotizen, in: SPD-Protokoll 1880-1887. ] ein. Die dänischen Sozialisten hatten ihr Vereinslokal an der Römersgade zur Verfügung gestellt (Bartel/Schröder/Seeber, S. 136).

Überschattet wurde die Zusammenkunft in Kopenhagen durch den Tod von Karl Marx, der im In- und Ausland als großen Verlust empfundenen wurde. Er starb in London am 14. März 1883, zwei Wochen vor Beginn der Konferenz. Heinrich Dietz hatte im Stuttgarter Verlag den Druck eines Erinnerungsfotos von Karl Marx vorbereitet [Liebknecht 1963, Brief vom 10. 5. 1883, S. 282. Ein Verbot der separaten Verbreitung dieses in der „Neuen Welt" erschienenen Bildnisses wurde in Stuttgart erörtert, aber als aussichtslos wieder verworfen (StA Lb E 173 I, Bü 804, 9. 7. 1883).] . Gleichzeitig angestellte Überlegungen zur Herausgabe des zweiten Bandes vom „Kapital" führten nicht zum Erfolg. Über die Rechte an dieser Veröffentlichung konnte Friedrich Engels als Nachlaßverwalter doch nicht verfügen, Karl Marx hatte sich längerfristig bei seinem bisherigen Verleger Otto Meißner in Hamburg verpflichtet [Friedrich Engels an Eduard Bernstein (30. 4. 1883, Bebel/Engels 1965, S. 153; vgl. auch Engels/Kautsky 1955). Die gesamte Erstausgabe sowie weitere Einzelschriften verlegte noch Meißner. Bis Karl Marx’ Werke im parteieigenen Verlag erscheinen konnten, waren lange Verhandlungen nötig.] .

Auf der Tagesordnung der Parteikonferenz in Kopenhagen stand der „Sozialdemokrat" und die Züricher Redaktion sowie die kommenden Reichstagswahlen [Vgl. zum gesamten Kongreß SPD-Protokoll 1883 (mit ausführlichem Kommentar); Lipinski 1928; Bartel/Schröder/Seeber 1980 u.v.a.] . Dabei kam es zur offenen Kontroverse zwischen den Vertretern der radikaleren Strömung, allen voran August Bebel, und den gemäßigt argumentierenden Kräften der Fraktion, zu deren Wortführern sich Bruno Geiser und Wilhelm Blos machten [Über die Verhandlungen in Zürich 1882 war die Parteiöffentlichkeit nicht informiert worden.] . Letzterer setzte sich besonders dafür ein, daß Reichstagskandidaturen vom Kongreß festgelegt werden, „die Genossen werden sich der Entscheidung des Kongresses fügen" (SPD-Protokollnotizen 1883, S. 70). Es käme momentan darauf an, mehr Sitze zu erringen, nicht aber in erster Linie, die Stimmenzahlen im Reich entscheidend zu vermehren. Die Delegierten wiesen Geisers und Blos’ Haltung in der Mehrzahl zurück. Heinrich Dietz beteiligte sich nicht an der Debatte.

Für die Parteileitung brachte Heinrich Dietz später den Vorschlag ein, zur Wahlagitation eine zentrale Broschüre zu erstellen [Aus den Protokollnotizen geht nur die eine Wortmeldung zum Wahlmanifest hervor (SPD-Protokollnotizen 1883): Antrag 58: „Der Kongreß beschließt, die Wahlagitation durch ein allgemeines Flugblatt, welches je nach Bedarf in allen Wahlkreisen in genügender Zahl verteilt wird, einzuleiten. Dietz" (SPD-Protokoll 1883, S. 107).] . Er argumentierte, das käme letztlich auch nicht teurer als der Druck von einzelnen Flugblättern. Die Investition würde sich lohnen, er glaubte auch, einen Erfolg versprechen zu können. Nötig wäre aber ein Überraschungseffekt: „Der Appell an das Volk müßte nur plötzlich und gleichzeitig verbreitet werden" (SPD-Protokollnotizen, S. 78f.). Obwohl in der Debatte angemerkt wurde, es hätte schon früher ähnliche aber bisher doch nicht ausgeführte Beschlüsse gegeben und die jetzige Parteileitung wäre zur Abfassung momentan gar nicht in der Lage, beschlossen die Delegierten, sowohl eine Instruktionsbroschüre als auch ein Wahlmanifest herauszugeben. Es sollte „für Freund wie Feind die Grundsätze der Sozialdemokratie, ihre Stellung zu den verschiedenen Parteien wie gegenüber der Regierung klarlegen" (SPD-Protokoll 1883, S. 19).

Nach drei Verhandlungstagen luden die dänischen Genossen zum Bankett am Samstag Abend (31. März). Zunächst hörten sich die Delegierten den obligatorischen, langen Vortrag über den Stand der dänischen Sozialdemokratie an, dann saß auch Heinrich Dietz noch lange mit den dänischen Parteifreunden zusammen, bei Solo- und Massengesängen [„Dazwischen ertönten die Jodler eines nach Dänemark verschlagenen älteren Schweizer Parteigenossen aus dem Glarnerland" (SPD-Protokoll 1883, S. 33).] sowie reichlich dänischem Punsch. Sehr früh am nächsten Morgen begann die dänische Polizei – sehr höflich -, „in allen Hotels, wo Deutsche logierten [...], sich deren Legitimationen auszubitten und über den Zweck ihres Aufenthaltes zu unterrichten" [Vom letzten Abend vielleicht noch etwas erheitert, machten sich einige Delegierte ihren Spaß. In dem Gasthaus, in dem Ignatz Auer, Karl Grillenberger, Eduard Bernstein und drei weitere Sozialdemokraten abgestiegen waren, hatten alle zugeben müssen, daß sie unter falschen Namen in der Gästeliste eingetragen standen. Als letzter präsentierte Eduard Bernstein den dänischen Polizisten ‘seinen’ Paß (er hatte ihn von Conrad Conzett ‘geliehen’) und versicherte mit vollkommenem Ernst, er sei der einzige, der die Polizei wirklich nicht anlüge (Bernstein 1918, S. 147). „Den meisten Aufenthalt verursachte der dänischen Polizei ein schwäbischer Delegierter, aus dem nichts herauszubringen war als: ‘I hoiß Schwitzgäbele’!" (Blos 1919, S. 56). Mit der Schreibweise hatten die Dänen ihre Schwierigkeiten, mehrfach wurde der Name ‘Schnicksjubel’ übermittelt (BLHA Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 9397, Bl. 92). Bei dem ‘schwäbischen Delegierten’ handelte es sich um Georg Baßler (Keil 1959, S. 4).] (Blos 1919, S. 56). Angeblich war die dänische Regierung ‘verschnupft’ über die Selbstverständlichkeit, mit der die deutschen Sozialisten ihren Kongreß im Ausland abhielten und dazu noch von der dänischen Arbeiterpartei herzlich willkommen geheißen worden war. Schließlich bat der Kopenhagener Polizeipräsident darum, daß die Delegierten doch die Stadt bald verlassen möchten. Nach ‘großer Heiterkeit’ im Plenum auf diese Mitteilung hin wollte man diesem Wunsch „als höfliche Leute" alsbald Rechnung tragen, die Verhandlungen waren sowieso beendet. Mit einem ‘stürmisch ausgebrachten dreifachen Hoch auf die Sozialdemokratie’ endete der Kongreß (SPD-Protokoll 1883, S. 26, 28 u. 32).

Inzwischen hatte auch die deutsche Polizei herausgefunden, daß der Kongreß nicht in der Schweiz, sondern im Norden stattgefunden hatte und eilig ihre Beamten umdirigiert. Alles war vorbereitet, um wenigstens die Delegierten auf dem Rückweg noch abzufangen (vgl. Reichstags-Kommission 1883). Auf dem Bahnhof in Kiel wartete der Berliner Kriminalkommissär von Hack mit seinen Beamten, konnte aber am 2. April nachmittags [Im Bericht der Reichstags-Kommission hieß es ‘2. Juli’ (1883, S. 5f.). ] , als das Postschiff ankam, nur noch Stephan Heinzel, Carl Ulrich, Philipp Müller und den Abgeordneten Karl Frohme in Empfang nehmen. Trotz ihres Protestes wurden alle verhaftet und nach „kompromittierenden Papieren" durchsucht (Reichstags-Kommission 1883, S. 5f.; Bernstein 1918, S. 149). Mit dem nächsten Schiff am Morgen des 3. April kamen Louis Viereck und mit Georg von Vollmar ein weiterer Reichstagsabgeordneter in Kiel an. Auch sie wurden zunächst ein paar Stunden festgehalten und dann mit den anderen noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. In Kiel konnten die Berliner Polizisten nichts mehr ausrichten, nachdem sie „zwei Tage vergeblich gespäht hatten". Fast alle Teilnahmer waren schon früher abgefahren, andere, wie Wilhelm Blos z.B., hatten Kiel noch rechtzeitig verlassen und sich „seitwärts in die Büsche" geschlagen (Blos 1919, S. 58).

Heinrich Dietz war von Kopenhagen aus zusammen mit August Bebel, Eduard Bernstein, Ignatz Auer und Richard Fischer zunächst nach Korsör gefahren. Sie mieteten sich auf der Insel in einem Hotel ein, um in Ruhe das Konferenzprotokoll zur Veröffentlichung vorzubereiten. Da bekam Eduard Bernstein, der sich wie in Kopenhagen unter dem Namen Conzett eingeschrieben hatte, ein lediglich an ‘Eduard Bernstein, Korsör’ adressiertes Telegramm ausgehändigt. Es kam aus Kiel und enthielt die kurze Warnung: „Vorsicht, nichts mitnehmen!" (Bernstein 1918, S. 149) Die schriftlichen Materialien und das Protokoll durften den deutschen Behörden natürlich nicht in die Hände fallen. Man trennte sich also auf Korsör, Eduard Bernstein sollte mit den Unterlagen über England und Frankreich in die Schweiz zurückkehren.

Ignatz Auer, August Bebel und Heinrich Dietz nahmen den Weg über Fredericia und Vamdrup auf das Festland. Der deutsche Konsul in Korsör aber hatte ihre Reiseroute schon nach Berlin weitergegeben, und am Bahnhof in Neumünster wartete die Polizei früh morgens auf sie (BLHA Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 9399, 6. 4. 1883; Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 208f.). Im Wartesaal der II. Klasse wurden sie festgenommen und ‘unter Assistenz’ des eilig herbeigerufenen Bürgermeisters ‘peinlich genau durchsucht’. Der Kriminal-Kommissar kannte zwar August Bebel und Ignatz Auer persönlich, nicht aber Heinrich Dietz. Dieser hatte zunächst so getan, als ginge ihn die ganze Angelegenheit gar nichts an, berichtete der Polizist, er „ging in dieser Zeit im Wartesaal umher, kümmerte sich anscheinend gar nicht um den Vorgang und blieb nur einen Augenblick stehen, als ich auf ihn wies und zu Bebel und Auer sagte, der in ihrer Begleitung betroffene Herr würde dem Bürgermeister gegenüber sich über seine Person und Reiseziel auszuweisen haben" (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 9399, 6. 4. 1883). Erst auf Befragen des Bürgermeisters gab Heinrich Dietz Auskunft über seine Identität (StA Lb E 173 I, Bü 804, 30. 4. 1883).

Mit dieser Aktion verursachte der Kommissär von Hack einen neuen Skandal, denn der Reichstag war zu der Zeit nur vertagt. Die Sozialdemokraten beschwerten sich im Parlament über den erneuten Verfassungsbruch. Abermals betrafen die ungesetzlichen staatlichen Maßnahmen den Abgeordneten Heinrich Dietz (Reichstags-Kommission 1883; Sten. Ber. 1883, S. 2253ff.). Die Sozialdemokraten brachten den Verstoß gegen geltendes Verfassungsrecht vor den Reichstag und verlangten dieses Mal eine strafrechtliche Verfolgung des polizeilichen Übergriffes. Die Angelegenheit wurde der Geschäftsordnungs-Kommission übergeben und damit erst einmal ‘versenkt’ (Sten. Ber. 1884, 6. Leg.per., S. 434). Erfolglos rief Wilhelm Liebknecht den Abgeordneten der anderen Fraktionen ins Gedächtnis zurück, daß es sich hier nicht ausschließlich um einen Angriff auf Sozialdemokraten handelte: „Es ist keine Partei im Hause, die nicht entweder schon reichsfeindlich war, oder es ist, oder Gefahr läuft, es über Nacht zu werden." Speziell wandte er sich an die Nationalliberalen: „Die Tatze, die Ihnen damals die Krallen zeigte, streichelt Sie jetzt mit Samtpfötchen, aber ich dächte, Sie sollten doch wissen, wie die Katze mit der Maus spielt" (Sten. Ber., S. 429).

Ausführlich erörterte die Geschäftsordnungskommission, ob die Abgeordneten sich erstens überhaupt strafbar gemacht hätten (d.h.: war der Kongreß als ‘geheim’ anzusehen, war das deutsche Recht überhaupt anzuwenden, denn das angeblich Verbotene fand im Ausland statt), zweitens, ob sie als ‘auf frischer Tat ertappt’ zu gelten hätten, wenn der ‘ge-heime’ Kongreß eigentlich mit seiner Auflösung als beendet anzusehen gewesen sein müßte. Als auf frischer Tat ertappt könnten allenfalls die Sozialdemokraten gelten, die unmittelbar aus Kopenhagen kommend am 3. April angehalten worden waren. „Zweifellos sei dies bei dem Abgeordneten nicht der Fall, der erst am 4. April durchsucht worden sei", befand die Kommission (damit war Heinrich Dietz gemeint). In jedem Fall gab man sich viel Mühe, die beteiligten Behörden zu entlasten (Reichstags- Kommission 1883, S. 16; vgl. auch BA-Po, 15.01., Nr. 14747 und 14748). Eindeutig wurde endlich festgestellt, daß Heinrich Dietz’ und Georg von Vollmars Verhaftungen bei laufender Session des Reichstages stattgefunden hatten. Und das war verfassungswidrig.

Die konservative Mehrheit in der Kommission verhinderte eine Verurteilung der Beamten, sie empfahl lediglich die Feststellung, daß § 31 (Immunität der Reichstagsabgeordneten während der Reichstagssession) verletzt wäre. „Kurz, es wird wieder die bekannte Wasch-mir-den-Pelz-und-mach-mich-nicht-naß-Praxis befolgt werden" (SD 5[1883]Nr. 23). Der verantwortliche Polizeipräsident von Madai erhielt noch nicht einmal eine Rüge, er und seine Beamten kamen ohne Prozeß davon. Im Gegenzug strengte man eine Untersuchung über den Mißbrauch der Eisenbahnfreifahrkarten durch die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten an. Ein alter Wunsch des Reichskanzlers Bismarck ging damit in Erfüllung: Er hatte sich schon 1881 darüber beschwert, daß die Fahrkarten, die ursprünglich zur Erleichterung der „Kommunikation zwischen der Heimat und dem Sitzungsort" gedacht waren, von den „Sozialdemokraten zu Agitationsreisen" und von den Berliner Abgeordneten zu Vergnügungsreisen mißbraucht würden (BA-Po, 15.01, Nr. 14557, Promemoria, Nov. 1884, S. 1). Ab der nächsten Legislaturperiode galten dann die Freifahrkarten nur noch eingeschränkt auf der Strecke zwischen dem Heimatort und der Hauptstadt Berlin [Zur Verteilung der Eisenbahn-Freifahrkarten an die Abgeordneten vgl. die Übersichten im BA-Po, 15.01, Nr. 14557, Nr. 14572; BLHA Pr.Br. Rep. 30 Berlin C, Nr. 13140. Heinrich Dietz hatte in der 8. Legislaturperiode (1890 – 1893) immerhin die Möglichkeit, kostenlos auf verschiedensten Wegen von Stuttgart nach Berlin zu fahren: 1: Stuttgart – Heilbronn – Eberbach – Hanau – Eisenach – Halle – Berlin; 2. Stuttgart – Bretten, Heidelberg – Frankfurt/m. – Gießen – Kassel – Nordhausen [...] Magdeburg – Berlin; 3. Stuttgart – Nördlingen – Bamberg (oder über Crailsheim, mit weiteren Variationen) – Hof – Leipzig – Berlin; 4. Stuttgart – Würzburg – Ritschenhausen – Berlin; 5. Hamburg – Wittenbergen/Uelzen – Berlin (BA-Po Nr. 14572; BLHA 13140).] .

Schon 1883 wurde Heinrich Dietz auf Reichs- und auch auf Landesebene als Mitglied der Reichstagsfraktion mehrfach zum Vermittler in parteiinternen Konflikten oder als Experte in Sachen Parteidruckereigeschäfte eingesetzt. Im Streit zwischen Georg von Vollmar und der Volksbuchhandlung in Hottingen hatte er – gemeinsam mit Wilhelm Liebknecht und Carl Grillenberger – über Vollmars Lohnforderungen für eine Inventur in der Buchhandlung zu entscheiden. Großzügig wurde Vollmar ein Wochenlohn von 30 Franken zugebilligt, weit mehr, als üblicherweise für Buchhandlungsgehilfen gezahlt würde. Der Schiedspruch enthielt deswegen den Hinweis: „Die betr. Arbeit ist als eine qualifizierte nicht zu betrachten, sondern konnte von jedem mit der Feder einigermaßen vertrauten Genossen auch besorgt werden", und Genosse von Vollmar hätte seine sonstigen Einkünfte während der Zeit nicht eingebüßt (Schiedspruch in Sachen Vollmar, Hottingen, 1. 3. 1883. In: Liebknecht 1988, S. 477).

Zusammen mit August Bebel sollte sich Heinrich Dietz auch um die finanzielle Lage des Grillenbergerschen Verlags in Nürnberg kümmern (AB an WL, 19. 5. 1883, Liebknecht 1988, S. 492). Und noch im selben Jahr wurde Heinrich Dietz mit Georg von Vollmar und Julius Kräcker nach Kappel bei Chemnitz geschickt, wo sie im Auftrage des Parteivorstands einen Streit zwischen dortigen – offenbar sehr temperamentvollen – Mitgliedern zu schlichten hatten. Bei dieser Aktion geriet Heinrich Dietz in unmittelbare Gefahr: Der Treffpunkt war verraten worden. Während Georg von Vollmar rechtzeitig abgefangen und gewarnt wurde, konnten Julius Kräcker und Heinrich Dietz einer polizeilichen Verfolgung nur durch einen abenteuerlichen Lauf ‘über einen nassen Sturzacker’ entkommen. Mit den Kappeler Genossen hielten sie dann „unter einem Lärchenbaum die halbe Nacht hindurch ihre Konferenz ab" (Heilmann 1912, S. 187).

Auch in Stuttgart schloß das Jahr 1883 unerfreulich ab: Nach dem gewaltsamen Tod des dortigen Bankiers Heilbronner wurde einer der mutmaßlichen Täter im November 1883 festgenommen. Der zuständige Untersuchungsrichter versuchte, den Sozialdemokraten die Tat anzulasten und veröffentlichte eine Suchanzeige nach den politischen Räubern. In den meisten bürgerlichen Blättern stieß diese Unterstellung auf Unglauben, aber Wilhelm Blos war sicher, „der durchschnittliche Stuttgarter Spießbürger glaubte natürlich steif und fest an die ‘sozialdemokratischen Raubmörder’". Heinrich Dietz verwahrte sich als Reichstagsabgeordneter mit seinen Kollegen Geiser und Blos im Stuttgarter „Neuen Tagblatt" gegen derartige Unterstellungen: „Es ist [...] für denkende Menschen vollständig klar, daß die Sozialdemokratie Deutschlands aus einem solchen Verbrechen erfließende Geldmittel mit dem denkbar größten Abscheu zurückweisen würde. Kein Mensch hat jemals den Mut gehabt, ihr ein solches Anerbieten zu machen" (zit. in Blos 1919, S. 100f.). Bei dem ihnen ‘gänzlich unbekannten Subjekt’, so hieß es in der Entgegnung auf den Untersuchungsrichter, könnte es sich entweder gar nicht um einen Sozialdemokraten, wenn aber doch, dann nur um einen Anarchisten gehandelt haben. Den Anarchisten traute man solche Verbrechen zwar zu, sie als Sozialdemokraten hätten mit denen aber gar nichts gemein, „denn wir stehen dem verächtlichen und gewissenlosen Treiben dieser Partei eben so prinzipiell feindlich gegenüber wie die anderen Parteien". Empört erklärten Heinrich Dietz, Wilhelm Blos und Bruno Geiser: Auf die Verdächtigungen, die ‘eine gewisse Sorte von Preßorganen’ kolportierten, „haben wir nur das Schweigen der Verachtung" (ebd., S. 101).

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3.5.2. Bebels „Frau" und der „Wahre Jacob"

Im Sommer 1883 kam August Bebel nach Stuttgart. Heinrich Dietz versuchte immer noch, Geld für die „Neue Zeit" aufzutreiben. Wenn ihm das nicht gelänge, würde der Verlag die Zeitschrift aber an niemanden abtreten, sondern eingehen lassen, meinte er zu August Bebel, dem Heinrich Dietz seine Bilanz offenlegte. „Wie ich mich aus seinen Büchern überzeugte, hat er bei dem gegenwärtigen Stand der N.W. für das laufende Jahr ein Defizit von über 4000 M., bei der N.Z. von nahe an 2000 M. kalkuliert. Verdiente er nicht ein gut Teil des Defizits an anderen Arbeiten, müßte er ohne weiteres einpacken. Von Goldhausen hat er die N.W. mit 7000 zahlenden Abonnenten übernommen, jetzt hat er 12.000 gute Abonnenten. Dies zur Notiz für Ede, weil Kautsky glaubt, Dietz könne auch nicht mehr wie Goldhausen" (AB an JM, 17. 7. 1883, IML, NL Motteler, 22/11).

August Bebel und Heinrich Dietz erörterten die noch immer prekäre Geschäftslage (Be-bel 1971, S. 8; Rieber 1984, S. 513). Außerdem besprach Bebel mit Heinrich Dietz die Herausgabe der von ihm während einer Gefängnishaft überarbeiteten Fassung seines Buches „Die Frau und der Sozialismus" unter anderem Titel [August Bebel Hauptwerk war 1879 illegal in der Leipziger Genossenschaft erschienen und hatte die fingierte Verlagsangabe ‘Verlag der Volksbuchhandlung, Zürich-Hottingen’ enthalten (ESZ 1981, S. 227). 1883 bis 1890 trug es dann den Titel: „Die Frau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft".] . Heinrich Dietz ließ im Stuttgarter Verlag die Platten herstellen, die Auflage wurde dann in Zürich gedruckt [Über diese zweite Ausgabe kursierten mehrere Versionen. Karl Kautsky schrieb, die Auflage wäre ‘1883 geheim bei Dietz gedruckt’ worden (Engels/Kautsky 1955, S. 112), ebenso Bernstein (Bern-stein/Engels 1970, S. 204). Schaaf schrieb die Initiative zur Neuauflage der „Frau" Heinrich Dietz zu: „[...] veranlaßte er den illegalen Druck der zweiten Auflage von August Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus"" (1976, S. 613), gab dafür allerdings keine Quelle an.] . August Bebel wies Julius Motteler deswegen an: „Die Ankündigung meiner Schrift unter dem alten Titel & Preis wollt ihr unterlassen. Beides wird geändert & zwar habe ich darüber ausführlich mit J.H.W. gesprochen, der in Bälde wegen der Arrangements Euch einen Besuch machen wird" (17. 7. 1883, IML, NL Motteler, 12/11). Ein Teil der Auflage bekam einem Tarnumschlag: „Be-richte der Fabrik-Inspektoren 1883" und den Verlegervermerk ‘Schabelitz in Zürich’ (Läu-ter 1966, S. 214).

Karl Kautsky äußerte Bebel gegenüber später, dessen Buch ‘wimmele von Fehlern’. Obwohl Kautsky eigentlich inhaltliche Fehler gemeint hatte, war Heinrich Dietz über die seiner Meinung nach ungerechte Kritik enttäuscht: Bebels „Frau" enthielte auch nicht mehr Druckfehler als andere Bücher. Zudem war für die Durchsicht der ersten Auflage nicht ausreichend Zeit gewesen, und außerdem, entschuldigte sich Heinrich Dietz, hatte er als „Parteivermächtnis" einen Korrektor anstellen müssen, „der alles andere, aber kein Korrektor ist. Ich kann kaum den Rücken wenden, so wird stets scheußliges Zeug gedruckt" (HD an KK, 31. 10. 1883, IISG, K D VIII, Br. 23).

Für Bebels Veröffentlichung interessierte sich die Polizei natürlich sehr. Sie kam wieder einmal zu Heinrich Dietz in die Druckerei: „Ich hatte eine Haussuchung, bei der nichts gefunden wurde. [...] , es kam aber während der Zeit ein Paket von Behr an Baßler [...] Baßler wurde sistiert, aber nachmittags wieder entlassen [...], auch ist der Buchbinder Taute wegen eines bei ihm vorgefundenen Briefes verhaftet worden und noch nicht entlassen. Hoffentlich verläuft die ganze Geschichte im Sande" (HD an KK, 9. 11. 1883, IISG, K D VIII, Br. 25). 1884 wurde Heinrich Dietz von einem Buchbinderlehrling denunziert (StA Lb, F 201, Bü 6622. 10. 1884). Wieder wurde nichts gefunden, denn bei ihm war tatsächlich nicht gedruckt worden: „Die wegen Bebels Buch stattgehabte Haussuchung war großartig inszeniert. [...] Wenn ich, wie mir in die Schuhe geschoben wird, die 2. Auflage nachweislich gedruckt hätte, so würde es wohl 6 Monate lohnen. Da diese aber in Zürich gedruckt worden ist, wenn auch auf den von mir gelieferten Platten, so kann man mir nichts Ungesetzliches nachweisen" [So deutlich diese Aussage auch ist, stellte Heinrich Dietz es später noch anders dar: Danach hätte er die 2. veränderte Auflage doch in Stuttgart ‘herstellen’ lassen (zit. in Bebel 1914, S. 98f.; ähnlich z.B. AB an JM, 17. 7. 1883, Bebel 1978 2, S. 114 u. 403). Möglicherweise ist der Sprachgebrauch von ‘drucken’ ohne Unterscheidung der Begriffe ‘Satz’ und ‘Druck’ für die unterschiedlichen Überlieferungen verantwortlich. ‘Herstellen’ könnte auch den Satz gemeint haben. Bei der Vorsicht, die Heinrich Dietz ansonsten an den Tag legte, und der großen Anzahl der am Druck Beteiligten in Stuttgart, ist es ganz unwahrscheinlich, daß die Auflage dort tatsächlich vollkommen hergestellt wurde. Dagegen blieb der Kreis der Setzer beschränkt und überschaubar.] (HD an HS, 26. 9. 1884, AdSD, NL Schlüter, B 30). Die deswegen eingeleitete Untersuchung verlief im Sande.

Gleichzeitig mit der Absprache über die Neuausgabe von Bebels „Frau" fand in Hamburg die Entscheidung in der Nachwahl zum Reichstag statt. Im Sommer 1883 mußte im ersten Hamburger Wahlkreis neu gewählt werden, weil der dortige Reichstagsabgeordnete (Sandtmann, ein Tabakimporteur) durch Mißernten und hohe Zölle erhebliche Verluste erlitt hatte und 1883 vor dem Ruin stand. Nach einem Konkurs hätte er in jedem Fall sein Reichstagsmandat zurückgeben müssen. Dieser öffentlichen Schande entzog er sich Anfang April durch Selbstmord. Moritz Rittinghausen stellten die Sozialdemokraten nicht noch einmal auf [Die sozialdemokratische Fraktion hatte mehrfach mit und über Moritz Rittinghausen debattiert, der sich weder am Züricher Treffen 1882 noch am Kopenhagener Kongreß beteiligt hatte. Er war auch nicht gewillt, alle Beschlüsse des Kongresses mitzutragen. Gravierendster Kritikpunkt an ihm war, daß er 1883 im Reichstag eine Erklärung gegen seine Fraktion abgegeben hatte (es ging dabei um den Handelsvertrag mit Spanien Blos 1919, S. 112.). Weil Rittinghausen auf seiner ‘Eigenbrötelei’ (Blos) beharrte, beschloß die Fraktion am 7. Mai 1883 einstimmig, daß dieser nicht mehr für die Partei kandidieren durfte (SD 4[1884]Nr. 20; vgl. auch Laufenberg 1931, S. 355). Karl Kautsky kommentierte diese Angelegenheit in einem Brief an Friedrich Engels: „Bezeichnend ist, daß der alte Esel Rittinghausen seinen wärmsten Verteidiger in Geiser fand" (29. 5. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 119).] . Sie trugen die Hamburger Kandidatur August Bebel an, der aber wollte eigentlich nicht annehmen, resignierend erklärte er sich doch einverstanden, denn „wenn kein anderer sich dem Durchfall aussetzen wollte, müsse er sich wohl in die Rolle finden" (Laufenberg 1931, S. 355).

Die Hamburger Sozialdemokraten taten alles in ihren Kräften Stehende für Bebels Erfolg. Sie agierten gegen einen Zusammenschluß der bürgerlichen Parteien und sogar gegen die „Bürgerzeitung". Diese rief zur Wahl des Fortschrittskandidaten auf und warnte vor August Bebel, dessen ‘Ideal’ „ein wüstes Chaos" wäre. Die „Bürgerzeitung" behauptete, Bebel gäbe „die Freiheit der bürgerlichen Institutionen Hamburgs der Vernichtung preis", oder noch schlimmer: er erstrebte „sogar den Anarchismus" (BüZtg. 3[1883]Nr. 75). Bis zum letzten Wahllokal hielt der Kandidat der Fortschrittspartei in der Stichwahl die Stimmenmehrheit, doch als in der Süderstraße ausgezählt war, hatte August Bebel, der noch in Stuttgart war, das Mandat mit 500 Stimmen Vorsprung gewonnen: „Mit 9077 Stimmen ist unser Genosse Bebel als erster aus der Wahlurne hervorgegangen" (SD 5[1883]Nr. 26). Bei den politischen Gegnern hatten schon die Sektkorken geknallt (Laufenberg 1931, S. 365); die Genossen und der ‘Volksmund’ nannten die Süderstraße danach ‘Bebels Allee’.

Zur sozialdemokratischen Fraktion gehörte nun wieder der Mann, der in den folgenden zwanzig Jahren die parlamentarischen Verhandlungen des Deutschen Reiches entscheidend beeinflussen sollte. Die beiden Hamburger Abgeordneten wurden gute Freunde – über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg. Auch zwischen ihren Familien entstand im Laufe der Jahre ein enger Kontakt.

Als Redner in offiziellen Wählerversammlungen – in den Festsälen von Tütges Salon in Hamburg fanden damals die sozialdemokratischen ‘Volksversammlungen’ mit mehreren Tausend Zuhörern statt – konnten während des Sozialistengesetzes weder August Bebel noch Heinrich Dietz auftreten. Aber die sozialdemokratische Parteiorganisation hatte sich bald zu helfen gewußt, sie veranstaltete von Zeit zu Zeit ‘Ausflüge auf die grüne Heide’: Man traf sich im Freien, manchmal nach stundenlanger Wanderung, an einem bis zum Schluß geheim gehaltenen Ort, um die „Parteigenossenschaft zu versammeln, um ihr Rechenschaft zu geben, mit ihr zu beraten, ihre Meinung zu vernehmen, sie in corpore entscheiden zu lassen über organisatorische, taktische und grundsätzliche Fragen" (Frohme 1926, S. 60). An diesen Versammlungen in Hamburgs Umgebung nahmen mehrmals auch die „Hamburger Abgeordneten Dietz und Bebel sowie andere Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und Parteileitung" teil [Karl Frohme berichtete, er selbst hätte insgesamt 12 solcher Treffen besucht (Frohme 1926, S. 62). 1885 registrierte die Hamburger Polizei, daß sich August Bebel in der Stadt aufgehalten hätte, längere Zeit im Dietzschen Geschäft gewesen wäre und dann einen Besuch ‘mit seinen befreundeten Anhängern’ an der Elbe machte (StAH S 898, 20. 6. 1885). Es wäre insbesondere über den aktuellen Konflikt mit dem Reichstagsabgeordneten Frohme gesprochen worden.] (Osterroth 1979, S. 8).

Am Ende des Jahres 1883 war die Arbeitsbelastung für Heinrich Dietz fast zu groß geworden: „Es drängt so vieles auf mich ein, daß meine Briefe etwas nervös ausfallen, was nicht sein sollte" (HD an KK, 9. 11. 1883, IISG, K D VIII, Br. 25). Deswegen war sogar der Verkauf der „Neuen Zeit" an einen anderen Verleger im Gespräch. Heinrich Dietz aber war sich sicher, daß solch eine Maßnahme auch nicht mehr Erfolg bringen würde: „Was wir nicht machen können, wird überhaupt nicht gemacht." Die ‘ungeheure Aufgabe’, der Partei qualitativ hochwertige politische Literatur zu liefern, „haben unsere Mitstreiter noch nicht begriffen. Sie glauben, den größten Schund veröffentlichen zu können, wie sie nur ihre Rechnung klar finden" [In diesem Brief wird auch deutlich, wie Heinrich Dietz seine Rolle als Verleger von ‘Parteiliteratur’ im eigentlichen Sinne einschätzte.] (HD an KK, 9. 11. 1883, IISG, K D VIII, Br. 25).

Schon im Frühjahr 1884 plante Heinrich Dietz Neuerungen: Die Buchhandlung „wird reorganisiert und soll nach vernünftigen Geschäftsgrundlagen geleitet werden, unter anderem auch mit dem Buchhandel in Verbindung treten, mit dem sie bisher gar keine Fühlung besaß", berichtete Karl Kautsky nach London (an FE, 2. 2. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 96). Geld war inzwischen genügend vorhanden. Denn die Entscheidung, den alten „Wahren Jacob" in Stuttgart wieder aufzunehmen, erwies sich als ein großer Erfolg [Die Redaktion übernahm zunächst wieder Wilhelm Blos, als ‘Sitzredakteur’ fungierte Rudolf Seiffert, aus Leipzig mit nach Stuttgart übergesiedelter und bei Heinrich Dietz als Korrektor tätiger ehemaliger Schriftsetzer (Rieber 1984, S. 361ff; Hickethier 1979; Ege 1992, S. 28 dort fälschlich: aus Hamburg ausgewiesen). Als Mitarbeiter wurden Max Kegel und Rudolf Lavant gewonnen (vgl. auch Heymann – später selbst Chefredakteur des „Wahren Jacob" – 1930). ] . Der Kopf des Hamburger humoristischen Monatsblatts wurde beibehalten, es erschien ab Januar 1884 in vergrößertem Format. Die schnell steigende Auflage lieferte enorme Überschüsse [Rieber 1987, S. 166. Andere Quellen datieren das Erscheinen des „Wahren Jacob" auf 1890: „Das erstmalig 1877 sic in Hamburg erschienene Witzblatt „Der Wahre Jacob", das ebenfalls dem Sozialistengesetz erlag, aber nach seinem Fall sofort wieder seine Auferstehung feierte" (Schöpflin 1947, S. 16; vgl. auch bbb 1952, S. 609, identisch, aber ohne Quellenangabe). „Es ist erstaunlich, daß damals „Der Wahre Jacob" als eine der ersten und wesentlichen politisch-satirischen Zeitschriften in einer Auflage von 227.000 Exemplaren verkauft wurde" (Ollenhauer 1963, S. 13).] . Der „Wahre Jacob" wurde nicht ein Mal nach dem Sozialistengesetz verboten, obwohl die Polizeibehörden seinen Inhalt genauestens kontrollierten.

Wahrscheinlich konnte der „Wahre Jacob" unbehelligt erscheinen, weil das Satireblatt ‘sorgfältig temperiert’ war und „ohne Bedenken auch der Jugend im Pubertätsalter in die Hände gegeben werden konnte. Darauf hielt Dietz mit konsequenter Ausdauer, ebenfalls auch, daß die Karikaturisten sich Schranken auferlegten. [...] Trotzdem war es eine boshafte Übertreibung zu behaupten, „Der Wahre Jacob" könnte mit dem Witz nur durch die Witze in Verbindung gebracht werden, die über ihn kursierten" [„Über die Witze des „Jacob" sind viele gute und schlechte Witze gemacht worden. Aber sein bester Witz war sicher die Tatsache, daß er sich als der Fels erwies, auf dem die marxistische Kirche der Zukunft erbaut wurde" (Kautsky 1913, S. 7).] (G. Schöpflin 1947, S. 17). Heinrich Dietz aber „hing mit Vaterfreuden an seinem „Jacöble"", der ihm die Sorgen um die Finanzierung seiner sonstigen Projekte tragen half, er redigierte das Witzblatt auch zeitweise selbst [Über Einzelheiten sagen die Quellen nichts aus, vgl. Blos 1919, S. 69; Heymann 1930; LSDL 1963, S. 515; Rieber 1984, S. 374. Schadt/Schmierer schrieben, Heinrich Dietz hätte die Redaktion von 1885 bis 1887 übernommen (1979, S. 358). Das würde sich mit dem Nachruf 1922 decken: Heinrich Dietz hätte den W.J. ‘meist selbst redigiert und ihn als sein persönliches Werk betrachtet’ (Cunow 1922, S. 555).] , „und der Spott bestimmter Kreise tat ihm weh" (Schöpflin 1947, S. 17). Daß Heinrich Dietz zumindest ab und an in die Redaktion des „Wahren Jacob" eingriff, geht aus seiner Äußerung an Wilhelm Liebknecht über die Haltung des Satireblattes zur Empfindsamkeit der Juden hervor: „Im Wahren Jacob treiben nur reinste, sauberst beschnittene Semiten ihr Wesen. Diese Leute machen über sich selbst die verzweifeltsten Witze, so daß ich in jeder Nummer streichen und korrigieren muß. Diejenigen Juden, die so zartfühlend sind, daß sie einen harmlosen Witz nicht mehr vertragen können, haben ein schlechtes Gewissen" (15. 11. 1890, IML, NL Liebknecht 34/18). 1885 tauchte in Nürnberg ein Blatt mit denselben Texten, aber anderem Titel und – viel schlimmer – ohne Impressum auf (StA Lb, F 201, Bü 662, 1. 5. 1885; etwas anders: BüZtg. 5[1885], Nr. 161, 12. 7.). Heinrich Dietz wurde als verantwortlicher Verleger vom Stuttgarter Schöffengericht deswegen am 5. Juli 1885 zu einer Geldstrafe von 5 Mark wegen Verstoßes gegen das Pressegesetz verurteilt (StAH S 149/63, Bl. 258 R; Ege 1922, S. 46).

Wenn auch der „Wahre Jacob" niemals mit bürgerlichen Witzblättern wie dem „Simpli-zissimus" konkurrieren konnte – und ‘Jottlieb Nauke, an’ Jörlitzer Bahnhof, jleich links’ „ein wirklich armseliger Eckensteher" war, verglichen mit dem ‘königlichen bayerischen Abgeordneten Jakob Filser’ von Ludwig Thoma (Schöpflin 1947, ebd.) -, erwarb er sich doch das Ansehen als „ein frischer und lustiger Bursch, der auf seinem mächtigen Rücken auch ein gut Stück ernster Parteiarbeit trug" (Mehring 1909, S. 316). In der organisierten Arbeiterschaft fand er viele Abnehmer, trotz der Konkurrenz des „Süddeutschen Postillons" [Nach Ege übernahm Heinrich Dietz wegen seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter ab 1888 die Verantwortung für Druck, Verlag und Redaktion (1992, S. 37). Louis Viereck fand den W.J. ‘jämmerlich’, nach allem, ‘was er gehört hatte’, „gesehen habe ich das Papier noch nicht" (an WL, 1. 8. 1884, Liebknecht 1988, S. 697). Zum „Süddeutschen Postillon" vgl. z.B. LSDL 1963, S. 482ff.] . Der „Wahre Jacob" wurde rasch zur bedeutendsten satirischen Zeitschrift der Sozialdemokratie und erfreute seine große Leserschaft bis 1933 [Er wurde in der Wirtschaftskrise 1924 ersetzt durch das ‘republikanische Witzblatt’ „Lachen links" (nach dem in den Stenographischen Berichten des Reichstages notierten Kommentaren wie z.B. ‘Hört, hört’). Ab Mai 1927 führte es erneut den Titel „Der Wahre Jacob".] , als er den Nationalsozialisten zum Opfer fiel.

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3.5.3. „Neue Welt" contra „Neue Zeit"

Die Zwistigkeiten zwischen der Parteibasis, der Redaktion des „Sozialdemokrat" in Zürich und der Fraktion als Parteiführung hatten 1882 und 1883 noch einmal beigelegt werden können. Dennoch waren nicht alle Widersprüche geklärt oder gar ausgeräumt. In den Jahren 1884 und 1885 brachen in den sozialdemokratischen Reihen mehrere Konflikte aus, die die Partei an den Rand der Spaltung führten. Schon vorhandene Differenzen der zwei Strömungen traten immer offener zutage: Die Auseinandersetzung zwischen den ‘Gemä-ßigten’, mit der Mehrheit der Fraktion, und den ‘Marxisten’, mit der Unterstützung von Friedrich Engels aus London und der Redaktion des „Sozialdemokrat" in Zürich [Die „Gruppe von Parteipolitikern um den ‘S.D.’ verstand sich als der eigentliche Sprecher der Parteimassen gegenüber den ‘spießbürgerlichen’ Führern in der Fraktion" (Mittmann 1975, S. 10).] spitzte sich zu [Zusammenfassend vgl. z.B. Mittmann 1976 (die eine von großen Teilen der Mitglieder getragene Opposition nicht erkennt, sondern eher „Bebels Methode der Massenmobilisierung und der Protestbewegungen, angeregt durch den S.D. in Zürich" zugrundelegt, die den Eindruck „permanenter Kritik an der Parteileitung bzw. der Fraktion" erweckt hätte und damit „eine Partizipation breiter Mitgliederkreise suggerierte" S. 292); Im Kampf 1977; Bartel/Schröder/Seeber 1980; Rieber 1984.] .

Heinrich Dietz wurde in die Auseinandersetzungen hineingezogen, denn neben den immer wieder aufflackernden Kritiken gegen die ‘Züricher’ suchten sich die ihm politisch nahestehenden ‘Gemäßigten’ ein neues Angriffsziel: Kautskys „Neue Zeit". Innerparteilich wurde gegen das zu der Zeit „einzige marxistische Organ in Deutschland" (KK an FE, 29. 5. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 117) die nach wie vor von Bruno Geiser redigierte „Neue Welt" ausgespielt [„Geiser haßt auch die N.Z. und sucht sie zu ruinieren. Er entblödet sich nicht, im Briefkasten der N.W. gegen die N.Z. loszuziehen" (KK an FE, 3. 10. 1883, Engels/Kautsky 1955, S. 85).] . Beide Gruppen versuchten dabei, Heinrich Dietz, der ab 1884 auch zur Pressekommission der Partei gehörte (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 13101, 13. 7. 1884), als Verleger und Finanzier auf ihre Seite zu ziehen.

Bruno Geiser polemisierte offen in der ‘Politischen Rundschau’ der „Neuen Zeit" gegen Friedrich Engels und die Herausgabe des zweiten Bandes des „Kapitals" von Karl Marx. Für die Veröffentlichung hinter Karl Kautskys Rücken sorgte Wilhelm Blos [„In Berlin geben unsere Leute jetzt ein ledernes Blatt heraus, „Berliner Volksblatt", vorläufig redigiert von Blos. Durch Überrumpelung vermittels eines Staatsstreiches erlangte seine Richtung den Beschluß, daß Liebknecht an dem Blatte nicht mitarbeiten dürfe!" (KK an FE, 7. 4. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 107) Aus dem „Volks-blatt" entstand nach dem Ende des Sozialistengesetzes der „Vorwärts". „Das Berliner „Volksblatt" wird von Blos in einer Weise redigiert, daß Bismarck ein Esel wäre, wenn er es verböte. Der einzige ‘Feind’ ist der Liberalismus und das Manchestertum" (EB an FE, 29. 5. 1884, in: Engels/Kautsky 1955, S. 120). ] . Die Rubrik ‘Politische Rundschau’ war auf Kautskys Vorschlag in die „Neue Zeit" aufgenommen worden. Heinrich Dietz hatte das befürwortet und Wilhelm Blos den Auftrag dafür erteilt: „Ihr Vorschlag, der Neuen Zeit eine politische Rundschau einzuverleiben, gefällt mir mehr und mehr. Diese muß jedoch in Deutschland geschrieben werden und werde ich, mit Ihrem Einverständnis, dieselbe von Blos schreiben lassen. Ich werde dafür Sorge tragen, daß sie scharf und doch nicht gefährlich wird" (HD an KK, 31. 10. 1883, IISG, K D VIII, Br. 23).

Kurze Zeit darauf veröffentlichte Geiser in seiner „Neuen Welt" einen Artikel gegen die Unwissenschaftlichkeit des Atheismus [Darin vermutete Karl Kautsky einen Angriff auf August Bebel. Es wäre „alles in beleidigendstem Ton vorgetragen, die Atheisten ‘vorlaute Schuljungen’ genannt, der Atheismus der Stiefelputzer in den Vorhallen der Wissenschaft etc. Der ganze Artikel offenbar gegen Bebel gerichtet. Und der ganze Quark nichts als die Einleitung zu einem Artikel, den Freund Geiser aus einer Enzyklopädie abgeschrieben. Das sind unsere ‘wissenschaft-lichen’ Größen" (KK an FE, 7. 4. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 107). Friedrich Engels hatte Geiser in einem Brief an August Bebel drastisch gekennzeichnet: „Geiser war immer eine Schlafmütze voller Einbildung" (10. 5. 1883, zit. in Bernd 1979, S. 30).] . Ob Heinrich Dietz an Geisers Polemik irgendwie beteiligt war, konnte Karl Kautsky nicht klären, „Dietz werde ich aber gelegentlich, wenn er wieder klagt, daß unsere Parteigenossen von der ‘neuen Welt’ nichts wissen wollen, fragen, ob er glaubt, daß man auf diese Weise Propaganda macht" (KK an FE, 12. 3. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 104).

Das Verhältnis zwischen Karl Kautsky und den Stuttgarter ‘Antimarxisten’ Geiser und Blos verschlechterte sich zusehends. Deren Süffisanz im Umgang mit dem noch ‘jungen, unerfahrenen Genossen, der als Österreicher’ ja unmöglich in der Lage wäre, ‘die Bedürfnisse der deutschen Bewegung’ richtig einzuschätzen, trug wohl erheblich dazu bei. Es ginge nicht gegen ihn persönlich, nein. „Sie Blos und Geiser, agr. behandeln ihn Kautsky mit jener niederträchtigen wohlwollenden Herablassung, die einen Menschen, der nur ein wenig Selbstgefühl im Leibe hat, anwidern muß" (EB an FE, 29. 5. 1884, S. 120). Ende Mai 1884 lag der Konflikt offen zutage: Es ging um die Redaktionsführung der „Neuen Zeit".

Schon 1883, während er ein halbes Jahr in Stuttgart wohnte, hatten „Dietz und seine Freunde" Kautsky vorgeworfen, „die ‘N.Z.’ sei die in Deutschland erscheinende Ausgabe des „Sozialdemokrat"". Das war zwar ein ‘Vorwurf’, „gegen den ich nichts einzuwenden hatte", meinte Kautsky [Damit aber nicht genug, hatte man Kautsky gegenüber die Befürchtung geäußert, er ließe die „Neue Zeit" ganz „in die Hände der" in Zürich „bestehenden revolutionären Verschwörung" geraten (KK an FE, ebd.).] (an FE, 29. 5. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 117). Heinrich Dietz ermahnte ihn ständig: „Gebrauchen Sie nur die nötige Vorsicht, daß nicht schließlich bei unseren Behörden die Ansicht auftaucht, als sei die N.Z. ein Appendix oder eine ‘deutsche’ Ausgabe des S.D. Sie dürfen nicht vergessen, daß wir sehr scharf überwacht werden. Namentlich sage ich das Vorstehende bez. Ihrer Tätigkeit als Redakteur der N.Z." (HD an KK, 31. 10. 1883, IISG, K D VIII, Br. 23. Hervorhebung im Orig.).

Zu allem Überfluß begrüßte Wilhelm Blos im Juni-Heft der „Neuen Zeit" das von Kanzler Bismarck proklamierte ‘Recht auf Arbeit’ als soziale Reform. Kautsky bekam als verantwortlicher Redakteur keine Gelegenheit mehr zum rechtzeitigen Einschreiten und glaubte Heinrich Dietz auf der Seite der ‘Antimarxisten’. Er befürchtete, man würde ihm die Verantwortung für die ‘Politische Rundschau’ oder überhaupt die ganze Redaktion entziehen und Wilhelm Blos übertragen wollen (Engels/Kautsky, S. 118).

Karl Kautsky beschwerte sich deswegen brieflich beim Verleger seiner Revue: „Herr Blos ist heute schon der wirkliche Redakteur der Neuen Zeit in Stuttgart [...]. Ich soll für die Neue Zeit arbeiten, und Herr Blos dirigiert sie; darauf läuft schließlich die Ernennung des ‘verantwortlichen’ Redakteurs hinaus" (KK an HD, 30. 5. 1884, IISG, K C FA 14, Transkription in: Schaaf 1976, S. 622f.). Über das Thema ‘Recht auf Arbeit’, das Heinrich Dietz angeblich egal wäre, wollte er ihm keine ‘Vorlesung halten’: „Genug, dasselbe ist eine inhaltslose, abgedroschene und von der sozialistischen Wissenschaft längst fallengelassene Phrase" (ebd.). Heinrich Dietz äußerte sich dazu ähnlich: „Das ‘Recht auf Arbeit’ ist überhaupt eine der elendsten Phrasen, die dazu angetan sind, künftig Meinungsdifferenzen in unsere Partei zu tragen. Wer behauptet, daß [...] dies eine der fundamentalsten Forderungen der Sozialdemokratie sei, der ist ein Tropf" (HD an KK, o.Dat. Anfang Juni 1884, IISG, K D VIII, Br. 10).

Heinrich Dietz wies jede Kritik weit von sich: „Blos ist mir gegenüber Parteigenosse und Schriftsteller, genau wie Sie, – beide haben ein Anrecht, in unserer Literatur zur Geltung zu kommen. Ihr Anteil ist dem des Blos gegenüber gerade hoch genug, um jeden Neid auszuschließen." Im übrigen hätte er Kautskys Einsprüche nicht berücksichtigen können, weil der Drucktermin drängte: „Das Juniheft mußte nach meiner Rückkunft von Berlin, am 16. v. M. sofort fertiggestellt werden. Das Material und die Korrekturen waren hier, es gab kein Zögern" [Schaaf, der erstmals den Briefwechsel von Karl Kautsky und Heinrich Dietz auswertete und den Konflikt ausführlich behandelte, las aus den vorhandenen Quellen auch heraus, „daß Dietz in erster Linie stets die ungünstige geschäftliche Entwicklung der „Neuen Zeit" in den Mittelpunkt rückte, wenn er auf Probleme dieser Zeitschrift zu sprechen kam. Karl Kautsky jedoch [...] sah die Ursachen einer solchen Reaktion zu Recht viel mehr im politischen-ideologischen Bereich [...]" (1976, S. 620f.) . Eine andere Meinung hat dazu Götz Langkau, IISG Amsterdam, gestützt u.a. auf den Brief von Heinrich Dietz an Karl Kautsky, wonach es (angeblich) keinerlei Absichten gegeben hätte, Wilhelm Blos in der „Neuen Zeit" größere Verantwortung zu übertragen (IISG, K D VIII, Brief 10, o. Dat. Anfang Juni 1884). Der Ton, in dem dieser Brief gehalten ist, scheint mir unnötig scharf zu sein. Das ist nach Bewertung von Heinrich Dietz’ Reaktion auf Vorfälle ähnlicher Art (Zurückziehen und Vorschieben formaler Argumente) eher Ausdruck eines sich verteidigenden ‘Ertappten’, der versuchsweise zum Angriff übergeht (vgl. in dieser Auseinandersetzung den Briefentwurf von Karl Kautsky, 16. 7. 1884, IISG, K C 357). ] (IISG, K D VIII, Brief 10, o. Dat. Anfang Juni 1884; doppelte Unterstreichung im Orig.).

Als sich Heinrich Dietz zunehmend finanziell in Bedrängnis sah, sich die Situation für ihn auch persönlich zuspitzte, reagierte er schroff und forderte eine Zusammenkunft der Verantwortlichen für die „Neue Zeit" am 8. Juni 1884, um die Punkte 1. Nennung des verantwortlichen Redakteurs [In der Einleitung zu Liebknechts Briefwechsel wird davon ausgegangen, daß Heinrich Dietz hier lediglich vorgeschlagen hätte, Wilhelm Blos als ‘presserechtlich verantwortlichen Redakteur’ zu benennen (Liebknecht 1988, S. 27). Daß Wilhelm Blos mit der Funktion des ‘Sitzredakteurs’ einverstanden gewesen wäre, scheint fraglich. „Blos ist ein Schwachmatiker und ein Waschlappen, der aber eine sehr hohe Meinung von seinen historischen Kenntnissen hat. Dietz kommt ihm viel zu sehr entgegen, das habe ich ihm schon oft gesagt" (AB an FE, 9. 4. 1890, Bebel/Engels 1965, S. 388). Warum – wenn nicht Blos’ Stellung ausgebaut werden sollte – wäre ein Treffen der Anteilseigner mit dem Tagesordnungspunkt ‘Nennung eines verantwortlichen Redakteurs’ nötig gewesen? ] und 2. Deckung des Defizits zu diskutieren. Als dritter Punkt stand die Drohung über das „Eingehen der N. Zeit am Schluß des III. Quartals" auf der Tagesordnung (HD an KK, 16. 5. 1884, IISG, K D VIII, Br. 39). Das war ein Affront, der bei den bekannten politischen Widersprüchen nur zum offenen Streit führen konnte. Bei gravierenden inhaltlichen Differenzen ökonomisch zu argumentieren (ein Defizit der „Neuen Zeit" wäre nicht mehr zu tragen), machte Kautskys Vermutung verständlich, Heinrich Dietz stände in dieser Frage (sicher nicht unbewußt [Daß Heinrich Dietz lediglich „die Sache rein geschäftlich beurteilt" hatte (EB an FE, 16.7.1884, in: Bernstein/Engels 1970, S. 285), ist unwahrscheinlich. Bernstein hätte damit unterstellt, Heinrich Dietz verhielte sich vollkommen unpolitisch.] ) auf der Seite von Bruno Geiser und Wilhelm Blos. Zumal seine finanziellen Schwierigkeiten mit dem Aufbau des Verlages ihn „Einflüsterungen von Geiserischer Seite sehr zugänglich" machten (Bernstein, ebd., S. 119). Heinrich Dietz wußte in diesem Zusammenhang genau, was er tat, unterschätzte nur die Reaktion und den schon steigenden Einfluß der marxistischen Strömung in der Parteiführung. Politisch den ‘Gemäßigten’ nahestehend (wie es später in der Dampfersubventionsdebatte deutlich zum Ausdruck kam) wurde ihm erst mehrere Jahre später klar, daß der Marxismus sich als bestimmende Theorie der Partei durchsetzte (HD an KK, 28. 4. 1886, IISG, K D VIII, Br. 104). Heinrich Dietz sah sich selbst später ganz anders: „Sie wissen, daß ich nicht zu den ängstlichen Leuten gehöre. Mein Gefühl, wie weit man gehen darf, hat mich bis heute nicht im Stich gelassen" [An anderen Stellen aber kamen immer wieder seine Bedenken zutage, seine Vorsicht bei neuen Unternehmungen.] (HD an KK, 25. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 124).

Der Ton der Auseinandersetzung wurde zunehmend rauher, Heinrich Dietz antwortete schnell und deutlich: Die von ihm geforderte Aktionärskonferenz würde nun noch dringender. Wenn Kautsky ‘zufällig’ mit Blos ‘divergierender Meinung’ wäre und daraus eine Menge Unannehmlichkeiten entstünden, trüge er, Dietz, daran keine Schuld. Er nahm Blos in Schutz, der wäre nicht der Redakteur der „Neuen Zeit": ‘Ehrenwort’. Unmißverständlich äußerte Heinrich Dietz aber auch, daß nun der Beschluß über das Eingehen der „Neuen Zeit" gefaßt werden müßte. Er bedauerte diese Entscheidung sehr, aber seine Existenz als Verleger stände auf dem Spiel (HD an KK, o. Dat. Anfang Juni 1884, Br. 10). Karl Kautsky mobilisierte seinerseits einflußreiche Sozialdemokraten und beschwerte sich bei Friedrich Engels. Kautsky befürchtete, daß Heinrich Dietz zur Besprechung über die Zukunft der „Neuen Zeit" – wie gewöhnlich – Bruno Geiser mitbringen würde und die Entscheidung deswegen von Wilhelm Liebknecht abhinge [Wie sich Wilhelm Liebknecht als Br. Geisers Schwiegervater verhalten würde, war nicht abzusehen. Karl Kautsky und Eduard Bernstein trauten ihm in dieser Beziehung nicht (Engels/Kautsky 1955, S. 118; Bernstein/Engels 1970, S. 284f.).] (Engels/Kautsky 1955, S. 118). Liebknecht seinerseits versuchte, Karl Kautsky zu beruhigen: „Dietz sucht zu vermitteln" (Liebknecht an Kautsky am 9. 6. 1884, in: Liebknecht 1988, S. 679), obwohl er ja eigentlich erst die Lunte gelegt hatte. Am vereinbarten Termin im Juni nahm Liebknecht dann nicht teil [Vgl. auch HD an KK, 16. 5. und 25. 6. 1884, IISG, K D VIII, Br. 39 u. 42. Ende Juni schrieb Karl Kautsky zufrieden an Friedrich Engels: „Mein Konflikt ist so ziemlich beigelegt. Liebknecht und Bebel stellten sich entschieden auf meine Seite, da mußte Dietz nachgeben" (KK an FE, 23. 6. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 125). Das klärende Treffen wurde mehrfach verschoben, zuletzt wegen der Reichstagssitzungen (HD an KK, 8. 7. 1884, IISG, K D VIII, Br. 43).] (er war verunglückt), hatte aber schon interveniert: „Wie ich gestern per Postkarte schrieb, habe ich Dietz sofort meine Meinung gesagt [...] Bebel ist ganz unserer Ansicht" (WL an KK, 4. 6. 1884, Liebknecht 1988, S. 677). Heinrich Dietz zog sich daraufhin etwas aus der Konfliktlinie zurück.

Auf Forderungen nach Wilhelm Blos’ Entmachtung in der „Neuen Zeit", Einstellen der Rubrik ‘Politische Rundschau’ und Widerruf des Artikels zum ‘Recht auf Arbeit’ ging Heinrich Dietz allerdings nur teilweise ein und weigerte sich kategorisch, einen Kommentar zum Blos’schen Artikel zu veröffentlichen: „Das geht nicht. Es hätte auch gar keinen Grund, als den, daß ich mich selbst ohrfeige. Dazu verspüre ich keine Lust" (HD an KK, Br. 10). Selbst wenn nicht nur Karl Kautsky, sondern auch Wilhelm Liebknecht (als Parteivorstand) auf einem Widerruf bestanden hätte, „so werde ich es dennoch nicht veröffentlichen" (ebd.). An Karl Kautsky schrieb er noch einmal und kategorisch: „Betreffs der N.Z. kann ich Ihnen nach reiflicher Überlegung nur das sagen: sie ist nicht zu halten" (HD an KK, 8. 7. 1884, IISG, K D VIII, Br. 43), es sei denn, es könnten 3.000 Abonnenten gewonnen werden. Kautsky sollte zudem auf ein Drittel seines Gehaltes, Wilhelm Liebknecht auf seine 50 Mark und Kautskys Mutter Minna gänzlich auf das nächste Honorar verzichten. Wenn niemand Subventionen von ‘einem Freund’ herbeischaffte, dann wäre eine Fortführung der „Neuen Zeit" „Wahnwitz", und die Kündigung zum September 1884 müßte aufrechterhalten bleiben. Für das Defizit trügen alle Gesellschafter die Verantwortung, bisher hätte er als Verleger nur noch nie darauf bestanden: „Die N.Z. hat noch nicht die historische Existenzberechtigung errungen [...] Sie muß den Weg allen Fleisches gehen" (ebd.).

Heinrich Dietz war nicht mehr abgeneigt, um endlich Ruhe zu haben, die „Neue Zeit" an einen anderen Verleger für 2000 Mark zu verkaufen. Über den Preis ließe sich sprechen, meinte er, wenn etwa der Züricher Parteiverlag die Zeitschrift selbst übernehmen würde. Gleichzeitig verband er damit aber die bittere Bemerkung: In Zürich „ist ja Kraft und Geld genug" (HD an KK, 12. 7. 1884, IISG, K D VIII, Br. 44). Andererseits stellte Heinrich Dietz um diese Zeit selbstsicher fest: „Ich kann mit vollberechtigtem Stolze sagen, nie die Partei gebraucht zu haben, sie auch nie brauchen zu müssen, ich will ihr nur dienen und zwar an dem Platze, wo ich am kräftigsten arbeiten kann und wo es ihr am meisten not tut" (HD an KK, o. Dat. Anfang August 1884, IISG, K D VIII, Br. 10).

Der Konflikt um Existenz und Zukunft der „Neuen Zeit" wurde im wesentlichen vor dem Hintergrund ausgetragen, daß Bruno Geisers „Neue Welt" langfristig aus den roten Zahlen nicht mehr herauskam: „Tatsächlich liegt die Sache so, daß die „Neue Welt" immer größeres Defizit macht und daß Geiser als Vorwand für das Zurückgehen des Abonnements die Konkurrenz der „Neuen Zeit" anführt. [...] Dietz sitzt in der Klemme, er soll fortgesetzt Geld schaffen, und die Ansprüche Geisers sind nicht gering, da muß ihm schließlich die Geduld ausgehen" [„Schließlich wird aber die „Neue Welt", die nun einmal nicht mehr lebensfähig ist, doch eines sanften Todes dahinsiechen und dann wird, nachdem Kautsky glücklich beiseite geschoben, Herr Geiser seine ‘Auf der Höhe der modernen Wissenschaft’ stehende Revue gründen" (Bernstein, ebd.). Auch Karl Kautsky ging im Brief an Heinrich Dietz auf diese Konsequenz und eine für ihn offensichtliche Parallele zu den Ereignissen von 1882 ein: „Also nicht um zwei Revuen konnte es sich handeln, das war mir klar, nicht um Ihre oder eine andere Revue, sondern bloß darum, ob ich oder Geiser der Redakteur dieser Revue sein sollte." ] (EB an FE, 16. 4. 1884, Bernstein/Engels 1970, S. 284). Interventionen von Wilhelm Liebknecht und August Bebel – „Ich habe Dietz [...] geschrieben, daß in der „Neuen Welt" und in der „Neuen Zeit" die beiden Strömungen in der Partei recht prägnant zum Ausdruck kämen, und schon deshalb dürfe die „Neue Zeit" nicht eingehen" (AB an KK, 13. 9. 1884, Bebel/Kautsky 1971, S. 19) – hatten schließlich Erfolg [„Ich habe die Beobachtung gemacht, daß die Opportunisten rasch zurückhupfen, wenn man ihnen scharf entgegentritt; sie fühlen recht wohl, daß sie in den Massen keinen Boden haben" (AB an FE, 8. 6. 1884, Bebel/Engels 1965, S. 184). ] .

Vielleicht war aber der Blos-Geisersche Vorstoß zu durchsichtig gewesen und in der Partei doch nicht mehrheitsfähig [„Das Eingehen der „Neuen Zeit" wird übrigens keineswegs die Situation der Geiser etc. in der Partei verbessern. So etwas spricht sich schnell herum, und die Herren haben an Popularität nicht viel zu verlieren. Spielen sie doch überhaupt nur dank dem Sozialistengesetz ihre Rolle" (EB an FE, 16. 4. 1884, Bernstein/Engels 1970, S. 286). ] . Die „Neue Zeit" konnte weiter erscheinen, und Karl Kautsky blieb auch in Zukunft ihr verantwortlicher Redakteur. Am Ende konnte er befriedigt feststellen: „Nicht Dietz, sondern die Partei hat in letzter Linie doch die Entscheidung über die neue Zeit" (KK an FE, 22. 10. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 152).

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3.5.4. Vorbereitungen zum Sozialistenprozeß

Anfang Juni 1884 war in Berlin nach langer Vorbereitungszeit [„Der Wunsch nach einem eigenen Reichshause war schon seit Gründung des Reiches laut geworden. Aber es wimmelte nur so von Schwierigkeiten, natürlichen und künstlichen. Man dachte sogar recht ernstlich daran, den Berlinern ein Schnippchen zu schlagen und den ganzen Reichstag nach Kassel, Potsdam oder sonstwohin zu verlegen" (Frenz 1913, S. 5).] der Grundstein für das neue Reichstagsgebäude auf dem Königsplatz gelegt worden [Daß Heinrich Dietz an der Grundsteinlegung (9.6.) teilnahm, ist sehr unwahrscheinlich. Am 10. und 11. Juni 1884 fanden wieder Namentliche Abstimmungen statt, denen er unentschuldigt fernblieb (Sten. Ber. 1884, S. 593, 624, 658,, 673).] : „Ein feierlicher Augenblick. Der alte Kaiser mit dem Bundesrat, die Volksboten, dann die Reichs- und Staatsbehörden, sie alle lauschten den Worten des Altreichskanzlers, der die Gründungsurkunde vorlas" (Frenz 1913, S. 5). Der „Sozialdemokrat" verlangte – nachdem die bürgerliche Opposition im Mai der Verlängerung des Sozialistengesetzes noch einmal zugestimmt hatte – in einem empörten Kommentar zu dem zur Schau gestellten Pomp, die Realität nicht zu verschweigen: „Die-ses Gesetz gehört in den Grundstein des Reichstagsgebäudes, es ist die treffendste Illustrierung der Herrlichkeit des neuen deutschen Reiches, dieser Rückversicherungsgesellschaft der zwei Dutzend deutscher Landesväter für Aufrechterhaltung ihrer Zivilliste und sonstigen Privilegien gegen alle nur an die Demokratie streifenden Bestrebungen" (zit. in Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 175). Zwar offiziell anerkannt, wurden auch die Sozialdemokraten im Reichstag immer noch ungerecht behandelt.

Auf den Protest gegen die Verhaftungen von Reichstagsabgeordneten in Kiel und Neumünster erklärte der Reichstag die Handlungen der preußischen Polizei endlich für verfassungswidrig und ungesetzlich. Nun wäre anzunehmen, es wäre eine entsprechende strafrechtliche Verfolgung eingeleitet worden. Aber tatsächlich konnte sich die bürgerliche Mehrheit in der Geschäftsordnungskommission mit ihrer Auffassung durchsetzen: „Es ist kein Organ da, um die strafbaren Beamten zu bestrafen, der Reichstag hat kein Machtmittel zu seiner Verfügung". Der Reichstag hätte sich darauf zu beschränken, sein Recht durch eine Resolution zu wahren; das tat er dann auch (SD 7[1885]Nr. 12; Sten. Ber. 1885, 2659).

Man begann im Gegenteil, den Teilnehmern am Kongreß den Prozeß zu machen. Dieses Vorhaben erwies sich wider Erwarten als schwierig. Zuerst scheiterte die Kieler, dann die Leipziger Staatsanwaltschaft [Die Leipziger Staatsanwaltschaft versuchte vergeblich, August Bebel als Vorsitzenden des Kongresses auf Hochverrat, Majestätsbeleidigung und Verletzung der §§ 128 und 129 anzuklagen.] . Schließlich, ‘von Berlin aus eingefädelt’ [Das vermutete der „Sozialdemokrat" – wohl nicht zu Unrecht: „In Preußen hat man sich gehütet, eine Anklage zu erheben, obgleich Niemand besser über die sozialdemokratische Bewegung in Deutschland unterrichtet ist, als das Berliner Polizeipräsidium" (SD 7[1885]Nr. 38, vgl. auch Nr. 41).] (SD 7[1885]Nr. 30), wurde das Chemnitzer Landgericht [Im Zuständigkeitsbereich des Chemnitzer Gerichts wohnte inzwischen Georg von Vollmar (SD 7[1885]Nr. 38). Vollmar lebte 1880 in Zürich, nahm also am Kongress in Wyden als dort Ansässiger teil. Erst später hatte er seinen ersten Wohnsitz in Mittweida genommen („Der Beobachter" , 15. 8. 1886). Dennoch wirkte die Teilnahme an diesem Kongreß für ihn später strafverschärfend, eine der vielen Rechtsbeugungen in diesem Prozeß. Vollmar und August Bebel waren Abgeordnete des sächsischen Landtages, also ‘exquisite gute Freunde’ des sächsischen Justizministers, der erwartungsgemäß reagierte: „Wenn Dr. Abeken von der Sozialdemokratie sprechen hört, kommt er in den Zustand eines gewissen Tieres, dem man einen roten Lappen vor die Augen hält." Kein Wunder also, daß sich Sachsen zur Übernahme des Verfahrens bereiterklärte. Eine Anklage gegen August Bebel wäre in den Bereich des Landgerichts Leipzig gefallen, das lehnte aber wegen ungenügendem Anklagematerials die Eröffnung eines Prozesses ab (SD 7[1885]Nr 41, dort auch das Zitat). ] zur Aufnahme einer richterlichen Voruntersuchung gedrängt (SD 6[1884]Nr. 40) [Derselbe § 129 wird noch heute gegen ‘kriminelle Vereinigungen’ angewandt. Vgl. zum Prozeß z.B. BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 9397 – 9399; Fricke 1962, S. 211; Chemnitz-Freiberg 1886; Preßstimmen 1886 u.v.a.] . Das verhieß nichts Gutes: „Das Chemnitzer Landgericht gilt für das reaktionärste und dienstfertigste in ganz Deutschland. Es ist nicht Zufall, daß man dasselbe gewählt hat. Hexenmeister sind aber die Chemnitzer Richter doch nicht, und sie können weder die Reichsgesetze ändern, noch das juristische Recht von gestern in das juristische Unrecht von heute verwandeln" (SD 6[1884]Nr. 39).

Die Vernehmungen begannen 1884, und bis zum Spätsommer waren sechs der damals Verhafteten und Angehaltenen bereits gehört worden. Weil die Beschuldigten fast alle weit vom Gerichtsort entfernt wohnten, erfolgten die Befragungen „im Wege der Requisition" (Schwabe 1986), Heinrich Dietz wurde also zur Sache in Stuttgart vernommen. Das Gericht veröffentlichte – eineinhalb Jahre nach der ‘Tat’ – eine Suchanzeige in der „Leipzi-ger Zeitung" ausgerechnet nach Georg von Vollmar, man konnte ihn angeblich nicht finden (SD 6[1884]Nr. 40). Während der Voruntersuchungen wurden Richter, Staatsanwälte und Polizei zunehmend nervöser, denn der Wahltermin (28. Oktober) rückte immer näher. Die Sozialdemokraten glaubten zu diesem Zeitpunkt immer noch, mit dem Recht auf ihrer Seite ihren Spott über das Gericht ausgießen zu können: „Nun – ‘wenn die Elberfelder Richter [In Elberfeld war der Prozeß gegen Teilnehmer am Wydener Kongreß 1880 gescheitert.] sich blamiert haben, dürfen wir’s wohl auch’, denken die Chemnitzer Richter, und das Recht, sich blamieren zu wollen, wird ihnen gewiß nicht bestritten" (SD 6[1884]Nr. 41).

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3.5.5. Das Wahlmanifest und die Reichstagswahlen 1884

Als der Wahltag 1884 näherrückte, war die Druckerei in Stuttgart wieder ständiges Ziel polizeilicher Ermittlungen und Durchsuchungen. Ende Juli lag der Text des auf dem Kopenhagener Kongreß von Heinrich Dietz vorgeschlagenen Wahlmanifestes vor (StAH, S 702). Heinrich Dietz war zufrieden: „Das Ding wird sich zur Wahl recht gut machen und kann in den großen Städten mit Nennung der Kandidaten sehr gut wirken. Ich glaube, daß es sich unterbringen läßt". Heinrich Dietz glaubte aber, die Vorlage, die er nun zum Druck erhalten hatte, wäre noch gar nicht der endgültige Text: „Das eigentliche Manifest erwarte baldigst" (HD an WL, Ende Juli, Liebknecht 1988, S. 693; siehe auch S. 695, FN 4).

Das Wahlmanifest wurde per Zirkular, unterzeichnet von Auer, Bebel, Grillenberger, Hasenclever und Liebknecht, angekündigt, das strenge Auflagen zur Verteilung enthielt (StA Lb F 201, Bü 666; Text in Dokumente und Materialien 1974, S. 195f.). Das Manifest enthielt zwar einen einheitlichen Text, die Überschrift und der Name des Kandidaten konnten auf Wunsch aber individuell bestellt werden. Diese Bestellungen – auch mit eingedrucktem Kandidatennamen – wären an den Herrn Buchdruckereibesitzer J.H.W. Dietz zu richten, die Bezahlung auch (in: HStA Stg. E 150, Bü 2043).

In Stuttgart lief die Produktion an, direkt unter den Augen der Polizei. Das zentrale Wahlflugblatt erschien pünktlich, wie geplant und in der Partei vorbereitet, wurde nahezu zur selben Zeit überall im Reich verteilt [Vgl. dazu ausführlich Rieber 1984, S. 354ff.] – und in vielen Wahlkreisen sofort verboten [Mit welcher Hektik die diversen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf das Erscheinen des Wahlmanifests reagierten, sich gegenseitig informierten, Mitteilungen darüber verlangten, ob es sich um ein identisches Flugblatt handelte, etc., vermittelt die Akte im Hamburger Staatsarchiv recht eindrucksvoll (StAH S 702). Den schlimmsten Verlust mußte die Leipziger Organisation hinnehmen (HD an KK, 6. 10. 1884, IISG, K D VIII, Br. 47). In Hamburg beschlagnahmte die Polizei drei Ballen mit Schriften. Der in das Präsidium bestellte Reinhard Bérard wußte seinerseits angeblich von gar nichts: Ja, die Pakete sähen schon so aus, als kämen sie aus Stuttgart, aber davon hätte er doch vorher gewußt, man hätte ihm das bestimmt avisiert. Würden die Ballen möglicherweise Ausgaben des „Wahren Jacob" enthalten? So war es dann auch (StAH S 702, 26. 9. 1884).] . Die Stuttgarter Polizei kam zur morgendlichen Haussuchung zu spät, die Exemplare waren – so sagte der Drucker bei der Vernehmung aus – bereits vor acht Tagen per Bahnfracht versandt worden [Zum Ärger der Polizei waren die Flugblätter als Ballen ‘Stoffe’ und ‘Garne’ deklariert und mit der Unterschrift des Korrektors Seiffert versehen. Natürlich wußten weder der vollkommen ahnungslose Heinrich Dietz noch sein ebenso verdutzter Drucker etwas von derartigen Paketen (StA Lb F 201, Bü 666, 29. 9. 1884).] (StA Lb F 201, Bü 666, 29. 9. 1884).

An Friedrich Engels schrieb Heinrich Dietz im Oktober: „Seit dem 13. September habe ich ganz offene polizeiliche Bewachung und einen um den andern Tag eine Haussuchung. Trotzdem bin ich bereits im Besitz von 17 Verboten verbreiteter Wahlflugschriften" (15. 10. 1884, Engels/Kautsky 1955, S. 149f.). Wegen der unterschiedlichen Versionen des Manifests erwartete Heinrich Dietz noch mehr Verbote: „Eine gleiche Zahl steht wohl noch aus" (ebd.). Die Polizei hatte sich in der seiner Wohnung gegenüberliegenden Volksküche niedergelassen und beobachtete von dort aus – „mit gottvoller Ungeniertheit", aber hinter Gazevorhängen – alles und jeden, der aus- und einging (HD an HS, 26. 9. 1884, AdSD NL Schlüter, B 30). Die Polizei ließ tatsächlich nicht locker: „Im Oktober mehrten sie sich die Haussuchungen, agr. jedoch derart, daß fast auf jeden Tag eine (am 28. Oktober waren es sogar zwei!) zu rechnen ist. Der Grund dieser vielen Haussuchungen war der von mir ausgeführte Druck von Wahlflugblättern, von denen 26 teilweise unter Angabe von Gründen, teilweise ohne diese auf Grund des Gesetzes vom 21. Oktober 1878 verboten worden waren" [Pelger (1979, S. XI) nahm das Wahlmanifest als Ursache der polizeilichen Repressionen nicht zur Kenntnis. Er sah den Grund im Druck der 2. Auflage von Bebels „Frau" und Heinrich Dietz’ Teilnahme am Kopenhagener Kongreß. Pelger zog für seinen Kommentar der Neuauflage von Karl Marx’ „Elend der Philosophie" (siehe dazu Kap. 3.6) allerdings vorwiegend Läuters und Schaafs Darstellungen (1966, 1976) heran, die das Manifest auch nicht in den Vordergrund stellten.] (Dietz, in: Auer 1890/ 1913, S. 246).

Das Stuttgarter Parteigeschäft stand nun nicht mehr allein unter württembergischer Überwachung, auch der Berliner Polizeipräsident hatte sich eingeschaltet. Das war gefährlicher als gewohnt: „Ich habe hier eine fieberhafte Tätigkeit entfalten müssen, um der Spitzelbelagerung zu entgehen. [...] Ich habe es hier jetzt mit den Berlinern zu tun. Die passen besser auf" (HD an KK, 6. 10. 1884, IISG, K D VIII, Br. 47). Madai wünschte, daß es ‘beim Einschreiten gegen Dietz gelingen möge’, nicht nur die gesamte Auflage des Manifests oder auch nur Teile derselben zu beschlagnahmen – am liebsten hätte der preußische Polizeipräsident es noch gesehen, wenn „anderweitige Entdeckungen von allgemeinem Interesse, insbesondere bezüglich der sozialdemokratischen Parteiorganisation" gemacht würden [Es gab Hinweise darauf, daß neben der Herstellung von Wahlflugblättern auch einzelne illegale Schriften in Stuttgart gedruckt und vor allem vertrieben wurden (vgl. HD an SD o. Datum um 1884, AdSD, NL Motteler 435/2: „Unter großer Plage sind hier die beiden Heftnummern gedruckt und expediert. Es hat mehr Schwierigkeiten gemacht, wie ich glaubte").] (StA Lb F 201, Bü 666, 13. 9. 1884). Man mußte besonders vorsichtig sein, denn: „Eine verflucht gefährliche Geschichte ist es aber doch, hier solche Späße zu machen. Die Polizei ist niederträchtig frech geworden" (HD an SD o. Datum um 1884, AdSD, NL Motteler 435/2).

Nirgends aber konnte man Heinrich Dietz für das Manifest haftbar machen. Nein, Heinrich Dietz wußte bei der Vernehmung im Stadtpolizeiamt gar nicht mehr, wie viele Exemplare des Manifests bei ihm hergestellt wurden. Natürlich hätte er eine gewisse Anzahl gedruckt, aber bei der großen Menge an Aufträgen könnte er das nun wirklich nicht mehr so genau sagen. Dasselbe hätte er auch schon dem Amtsgericht mitgeteilt, vor dem er als Zeuge für die Gerichte in Speyer, Frankenthal und Chemnitz vernommen worden war [Auch die Befragung der Druckereiangestellten ergab nicht viel mehr, der Setzer Karl Kaufmann wußte wirklich von nichts, die Punktiererin und Anlegerin Luise Schwarz und der Packer Ferdinand Schleehauf hatten überhaupt keine Ahnung (StA Lb, ebd., Protokoll 13. 12. 1884). ] (StA Lb F 201, Bü 666, Vernehmungsprotokoll 28. 10. 1884).

In Karlsruhe versuchte die Staatsanwaltschaft noch im Januar 1885, Heinrich Dietz direkt zur Verantwortung zu ziehen. Sie erhob gegen ihn sowie gegen zwei Flugblattverteiler – Karl Entemann und Jacob Willig – Anklage [SD 7[1885]Nr. 12 u. 16; BA-Po, 15.01, Nr. 14748; Sten. Ber. 1885, 15. 1., S. 625ff.; StAH S 149/63. Auf Anfrage der Karlsruher Staatsanwaltschaft teilte die Hamburger Politische Polizei mit, Heinrich Dietz wäre ausgewiesen, weil er ‘notorischer sozialdemokratischer Agitator und Verleger der später verbotenen „Gerichtszeitung"’ war. Sonst aber wäre über ihn nichts Nachteiliges bekannt (22. 1. 1885). ] . Während zunächst Entemann und dann auch Willig verurteilt wurden, stellte man das peinliche Verfahren gegen den Reichstagsabgeordneten Dietz ein, „da nach Lage der Sache Freisprechung zu gewärtigen ist, und ich der Erste Staatsanwalt, agr., nachdem die Anklage gegen Willig mit Erfolg durchgeführt ist, ein derartiges Nachspiel zu dem Hauptprozeß im Interesse der Strafrechtspflege vermeiden möchte" (BGLA, Innenmin., Nr. 17081, 3. 8. 1885).

Auch die Stuttgarter Polizei mußte nun langsam anerkennen, daß trotz des angegebenen Impressums [Herausgegeben, gedruckt und verlegt von J.H.W. Dietz in Stuttgart.] ‘der allergrößte Teil des Wahlmanifests eben doch nicht’ in Heinrich Dietz’ Geschäft selbst gedruckt wurde, sondern daß dort nur die Stereotypplatten zum Druck in anderen Orten hergestellt worden waren. Das aber war nicht strafbar (StA Lb F 201, Bü 666, 7. 11. 1884 u. 15. 2. 1885; vgl. auch Rieber 1984, S. 357). Auch später konnte das Stadtpolizeiamt nichts mehr ausrichten, obwohl man sogar versuchte herauszufinden, ob in der Stuttgarter Druckerei doch noch irgendwo verborgene Räume existierten (StA Lb, F 201, Bü 662, 27. u. 28. 10. 1884). Die Verteilung eines zentralen Wahlmanifests erwies sich dann als so erfolgreich, daß dasselbe Verfahren auch zur Wahl 1887 angewandt wurde.

Heinrich Dietz kandidierte zur Wahl 1884 erneut in seinem sicheren Wahlkreis. Die Hamburger Sozialdemokraten warben für ihren Kandidaten erfinderisch mit handgeschriebenen Plakaten; sie verwandten Pappschablonen, mit denen schnell Parolen an die Wände gemalt werden konnten: „Wählt Dietz! Fehle keiner an der Urne!" Gleich mehrere Male hatten es die Genossen an der Polizeiwache St. Pauli angebracht. Kurz vor dem Wahltag klebten neue Plakate in den Straßen (StAH S 638):

Zusätzlich mußte Heinrich Dietz noch ein weiteres Mandat im Wahlkreis Berlin III übernehmen (BüZtg 4[1884], Nr. 108, 2.9.; SD 6[1884]Nr. 32). 1881 hatte der sozialdemokratische Bewerber dort lediglich etwas über 2.500 Stimmen bekommen (SD, Nr. 44), mit einem Sieg war auch diesmal nicht zu rechnen (SD, Nr. 42). Vorher hatte Heinrich Dietz noch gehofft, der zusätzlichen Belastung zu entgehen: „Ich machte den Versuch, die Kandidatur loszuwerden", schrieb er an Karl Kautsky, „aber da bin ich schön angeflogen. Es heißt also, weiter durch den Lehm zu waten. Die Leute können sich eigentlich freuen, daß ich eine gute Leibeskonstitution habe, und unser allverehrter Brandter hat gut Witze über ‘den dritten’ zu machen" (HD an KK, 22. 4. 1884, IISG, K D VIII, Br. 35). Persönlich trat Heinrich Dietz im dritten Berliner Wahlkreis auf keiner Zusammenkunft auf. Die Berliner Genossen waren mit der Art der Kandidatenaufstellung gar nicht einverstanden [Bei Wilhelm Liebknecht beschwerte sich Fritz Goercki über das Vorgehen der Parteileitung in Berlin: „Ich habe sehr viel Briefe sowohl aus B. selbst wie von Ausgewiesenen erhalten, die mit den Berliner Kandidaten nicht einverstanden sind [...] Warum oktroyiert man Kandidaten? Es ist eine Gärung vorhanden" (Fritz Goercki an WL, 7. 4. 1884, Liebknecht 1988, S. 648; zur Person Goerckis: S. 649.).] . Der noch nicht einmal allen Versammlungsleitern bekannte Reichstagsabgeordnete Dietz wurde dennoch als ‘Vorkämpfer für die Macht des gesamten Volkes’ avisiert und von den Mitgliedern mit gewohnter Parteidisziplin als Kandidat unterstützt [BLHA, Rep. 30, Berlin C, Nr. 15553, Bl. 129ff. (diesen Hinweis verdanke ich Inge Kießhauer). ] .

In Stuttgart hatte der bisher kandidierende Albert Dulk [Zu Albert Dulk und seiner Bedeutung vgl. Schmieder 1970; Rieber: in Bassler 1987, sowie Rieber 1984, der erstmalig den Nachlaß Dulks bearbeiten konnte und dessen ‘ethischem Sozialismus’ ein eigenes Kapitel widmete.] Mitte 1884 seinen Rücktritt als Kandidat für die Land- und Reichstagswahlen erklärt, denn die Partei hatte ihn in einem Streit mit dem „Sozialdemokrat" über Religionsfragen nicht mehr unterstützt. Der Freidenker Dulk (Rieber 1984, S. 460) notierte in seinem Tagebuch enttäuscht: „Die Parteiführer Schröter, Löbenberg und Bassler seien gegen ihn aufgetreten". Den Grund dafür sah er in einem „mangelnden Sinn für Moral und Sittlichkeit bei den Parteiführern, der auch bei Dietz und Bebel festzustellen sei" (Tagebuch Dulk, zit. nach Rieber 1984, S. 460).

Fast überall in Preußen wurden sozialdemokratische Parteiversammlungen schon im voraus verboten (SD 6[1884]Nr. 40). In Hamburg wurden Veranstaltungen der Sozialdemokraten zwar nicht mehr als Verstöße gegen das Sozialistengesetz angesehen, sondern als „Übertretungen des allgemeinen Vereins- und Versammlungsrechtes, Handlungen nämlich, die den ordentlichen Gang der Wahlen störten" (Laufenberg 1931, S. 402) und deswegen nicht erlaubt (SD 6[1884]Nr. 43); erst recht, nachdem das Wahlmanifest am Sonntag, den 5. Oktober, in Hamburg überall verteilt worden war und natürlich auch dort sofort verboten wurde [Ein Einspruch bei der Reichskommission war vergeblich (Stern 1856, S. 590ff.)] (Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 175).

Trotz der Verfolgungen und Behinderungen wurde der 28. Oktober 1884 zum „Ehrentag für die deutsche Sozialdemokratie" (Mehring 1909, S. 292): In den Hauptwahlen waren schon 9 Abgeordnete gewählt, in den Stichwahlen konnten weitere 15 Mandate errungen werden. „Die Antwort der Regierung wird nicht ausbleiben. Gegen die Massen kann sie nichts unternehmen, höchstens gegen die Lieferanten der geistigen Munition" (HD an KK, 1. 11. 1884, IISG, K D VIII, Br. 51). Heinrich Dietz wurde in Hamburg gleich in im ersten Wahlgang gewählt. Er gewann gegenüber 1881 sogar noch knapp 5.000 Stimmen hinzu [1884: 14.244 gegen 1881: 9.439 Stimmen. Der Konkurrent Adloff erhielt 1884 8.305 Stimmen; 1881 waren es für den damaligen Gegenkandidaten noch 9.721 gewesen (SD 6[1884]Nr. 44). Eine statistische Übersicht über das Wählerverhalten in den von Sozialdemokraten gehaltenen Wahlkreisen ergab später, daß im II. Hamburger Kreis die Wahlbeteiligung ‘stellenweise sehr mangelhaft gewesen’ sein mußte (Wacker 1903, S. 69f.). Nur 1890 kam sie bis an 80 % heran, sank in den folgenden Jahren bis knapp über 60 %.] . Auch August Bebel verteidigte sein Hamburger Mandat ohne Schwierigkeiten. Der dritte Hamburger sozialdemokratische Kandidat, Stephan Heinzel, hielt zunächst eine Stimmenmehrheit, verlor dann aber in der Stichwahl nur knapp gegen den nationalliberalen Reeder Woermann (Laufenberg 1931, S. 411f.). Die Wahlkreise in den Belagerungsgebieten erbrachten der Partei insgesamt mehr als ein Viertel der Stimmen, denn „eine reißende Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen war die Antwort, die sie die Belagerungsgebiete, agr. ihren Quälern ins Gesicht warfen" [„Mannigfache Beispiele von Pflichttreue gab auch die sozialdemokratische Wählerschaft gemeint ist hier die Hamburger, agr.. In dem Bewußtsein, daß jede Stimme ins Gewicht falle und weniger vielleicht den Ausschlag geben könnten, schleppten Sieche und Krüppel sich zu den Wahllokalen. Einer ließ sich auf einer Schott’schen Karre von seiner Frau schieben und von Freunden zur Wahlurne mehr tragen als führen" (Laufenberg 1931, S. 409).] (Mehring, ebd.).

Im 3. Berliner Wahlkreis konnte Heinrich Dietz trotz aller gegnerischen Propaganda einen Achtungserfolg erringen [„Dabei hat in Berlin die Sozialdemagogie Stöcker-Wagner all ihren Hokuspokus losgelassen" (Mehring 1909, S. 247).] , er gewann rund 3.800 Stimmen hinzu und verfehlte nur ganz knapp die Teilnahme an der Stichwahl [Heinrich Dietz bekam im Wahlkreis Berlin III 6.242 (1881: 2.578) Stimmen. In die Stichwahl kamen Brecher (6.711 St.) und Munckel (9.622 St.; SD 6[1884]Nr. 44; vgl. auch Reichstags-Wahlen 1908; BLHA Pr. Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 15553). Rechtsanwalt Munckel, der die Sozialdemokraten später in Chemnitz verteidigte (siehe dazu Kapitel 3.6.8), gewann dann das Mandat für die Freisinnigen.] . Triumphierend verkündete der „Sozialdemokrat": „Wieder mal ist der Beweis abgelegt worden, daß unsere Bewegung mittels aller Polizeigesetze der Welt nicht totzumachen ist. Wir sind eine Macht, deren Existenzbedingung tief im Wesen der heutigen Gesellschaft begründet ist: vernichtet diese, wenn ihr die Sozialdemokratie vernichten wollt!" (SD 6[1884]Nr. 44, Hervorhebung im Orig.)

Albert Dulk starb Ende 1884 (Rieber 1984, S. 443ff.). 66 Jahre war er alt, als er einem Herzschlag erlag. Dulk hatte eine Feuerbestattung gewünscht hatte, Stuttgart besaß aber noch kein Krematorium, deswegen wurde sein Sarg am 2. November 1884 nach Gotha überführt. Der ‘Leichenkondukt’ am Sonntag Nachmittag weitete sich zu Stuttgarts größter Demonstration während des Sozialistengesetzes aus. Schätzungen der Teilnehmerzahlen reichten von über 5.000 bis zu 25.000. Heinrich Dietz befand sich unter den vielen Demonstranten, die „sämtlich mit roten Blumen im Knopfloch" unterwegs waren (Keil 1907, S. 7). Sowohl der Abgeordnete der Volkspartei, Karl Meyer, als auch die anderen beiden sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die in Stuttgart wohnten, Wilhelm Blos und Bruno Geiser, folgten dem Sarg. Für die Stuttgarter Partei sprachen Georg Bassler und Adam Dietrich (SD 5[1884]Nr. 46). Die Polizei hielt sich bewußt zurück, zeigte ihrerseits Präsenz und Stärke, es kam aber weder zu Provokationen noch zu Zusammenstößen.

Mit dem Anwachsen der Anzahl sozialdemokratischer Abgeordneter nahm der Respekt der anderen Fraktionen im Reichstag deutlich zu. Als die Sozialdemokraten sogar bei manchen Abstimmungen die Rolle des ‘Züngleins an der Waage’ spielten konnten, führte das dazu, daß selbst diejenigen, die bisher versucht hatten, die Sozialdemokraten arrogant zu ignorieren, ‘sich eines höflicheren Tons befleißigten’ und sie mehr als ihresgleichen behandelten, auch das überparteiliche Gespräch suchten [„Das wirkte auf einige Mitglieder der Fraktion so stark ein, daß sie sich geneigt zeigten, dem Sprichwort ‘Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es heraus’ über das Notwendige hinaus gerecht zu werden" (Bernstein 1928, S. 156).] . Bald gehörte der engere Umgang mit den politischen Gegnern zum Berliner Alltag [Zum Reichstag allgemein vgl. Reichstag 1963, darin u.a. Deuerlein, Milatz, Frauendienst.] . Zunächst unversöhnlich erscheinende Gegnerschaft relativierte sich bei persönlichem Kontakt möglicherweise recht schnell. Man lernte sich kennen, sprach miteinander, wohnte im selben Hotel [Aus den Adressen-Verzeichnissen der Reichstagssessionen ging hervor, daß Heinrich Dietz zu Anfang mit vielen seiner Genossen im Dessauer Hof (Krausenstraße 16) wohnte. Später, als die Abgeordneten nach und nach ihren Wohnsitz nach Berlin und in die Umgebung verlegten, waren seine Hotelnachbarn auch Rittergutsbesitzer und Fabrikanten. Die Adressen der Hotels wurden ‘feiner’, bzw. lagen näher beim Reichstag. 1913 war sein Stammhotel der ‘Wettiner Hof’ in der Königgrätzer Straße. Dort lag ein Hotel neben dem anderen: vom Hotel Excelsior bis zum Hotel Deutscher Kaiser.] , entdeckte vielleicht auch Gemeinsamkeiten über die politischen Grenzen hinweg. Gewisse im Nachhinein als reformistisch charakterisierbare Verhaltensweisen werden erklärlich, wenn man sich in die Situation der sozialdemokratischen Abgeordneten hineinversetzt: Der Wunsch parlamentarischer Außenseiter nach Anerkennung – auch menschlicher Anerkennung – im Reichstag selbst und von den anderen Abgeordneten ist verständlich. Die politische Klarheit und Geradlinigkeit, eine brilliante Rednergabe und große Überzeugungskraft, über die z.B. ein August Bebel verfügte, stand jedoch nicht allen Sozialdemokraten im Umgang mit dem ‘Klassenfeind’ zur Verfügung.

Den Sozialdemokraten stand als Fraktion nun auch das Recht zu, jeweils einen oder zwei Abgeordnete in die Reichstagskommissionen zu entsenden. Wie man sich dazu verhalten wollte, wurde in der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl diskutiert. Eine Teilnahme an der ‘Budgetkommission’ kam nicht infrage. Einstimmigkeit herrschte über eine Teilnahme an der Petitions- und der Wahlprüfungskommission, eine Mehrheit befürwortete darüber hinaus die Mitarbeit in der Geschäftsordnungskommission und dem ‘Seniorenkonvent’ [Der Seniorenkonvent – vergleichbar dem heutigen Ältestenrat – war eigentlich keine offizielle Einrichtung, regelte aber einige Verfahren ‘hinter den Kulissen’ des Reichstages. Er stellte zum Beispiel sicher, daß die Fraktionen entsprechend ihrer Stärke berücksichtigt wurden, wenn die Abteilungen (in die die Abgeordneten hineingelost wurden) geschäftsordnungsgemäß die Ausschußmitglieder wählten (SD 6[1884]Nr. 48). Zudem diskutierte der Seniorenkonvent über Geschäftsordnungsfragen und nach Abschluß der Sessionen über die Weiterbehandlung nicht erledigter Anträge und Vorlagen an den Reichstag (vgl. z.B. Sten.Ber. 1900, S. 5448, dort erklärte der Reichstagspräsident, es gäbe den Seniorenkonvent gar nicht, er wäre überhaupt nie ‘als Kollegium anerkannt’: „Wenn die Herren, die diesen Versammlungen beigewohnt haben, die Einladungen ansehen, so sind diese immer bloß an den betreffenden Abgeordneten gerichtet zu einer geschäftlichen Besprechung, wie es heißt" ). Die Mitarbeit im Seniorenkonvent war bei den Sozialdemokraten nicht unumstritten.] . Die Sozialdemokraten benannten Wilhelm Hasenclever und als seinen Stellvertreter Ignatz Auer (SD 6[1884]Nr. 48).

Als Alternative zu den staatlichen Sozialgesetzen beabsichtigte die Fraktion, in der 6. Legislaturperiode eine Initiative zum Arbeiterschutz im Rahmen der Gewerbeordnung einzubringen. Eine ‘Siebener-Kommission’ wurde zur Ausarbeitung des sozialdemokratischen Gesetzentwurfs benannt. Eines der Mitglieder war Heinrich Dietz – neben Ignatz Auer, Karl Grillenberger, Heinrich Meister, Adolf Sabor, Georg von Vollmar; später kam auch noch August Bebel hinzu. Mit dieser Initiative sollte sich erweisen, ob die Regierung es tatsächlich mit den Sozialreformen ehrlich gemeint hatte. (Liebknecht 1988, S. 819): „Wir forderten den zehnstündigen Maximalarbeitstag für erwachsene, den achtstündigen für jugendliche Arbeiter", notierte Wilhelm Blos, sowie das „Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit mit den notwendigen Ausnahmen, Verbot der Kinderarbeit, Verbot der Frauenarbeit auf Hochbauten und unter Tag, wöchentliche Lohnauszahlung am Freitag und Minimallohn und zur Überwachung der Ausführung ein Reichsarbeitsamt, Arbeitsämter, Arbeitskammern und Schiedsgerichte" (Blos 1919, S. 124).

In Berlin hatte der Polizeipräsident eine steigende Unzufriedenheit unter den Parteimitgliedern registriert, weil die Sozialdemokraten ihren Wählern Erfolge versprochen hatten und diese nun nicht schnell genug umsetzten: Der Gesetzentwurf zum Arbeiterschutz wäre ausgesprochen zögerlich erarbeitet und eingebracht worden. Einerseits entsprach er „inhaltlich nicht den Erwartungen Aller" und erschien andererseits „ungenügend durchgearbeitet" [Immerhin gab Reichskanzler Bismarck in der Debatte über Diätenzahlungen später zu, es hätte ohne die sozialdemokratische Partei bisher auch „die mäßigen Fortschritte" in den Sozialreformen nicht gegeben, „wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten" (Sten. Ber. 1885, zit. in Bebel 1978 Bd. 2, FN 101, S. 407).] (von Madai im Juli 1885, zit. in: Höhn 1964, S. 240). Heinrich Dietz hatte ebenfalls große Bedenken: „Ich befürchte sehr, daß wir mit dem Arbeiterschutzgesetz gar keinen Erfolg erzielen. Die Verhandlungen in der Kommission sind schleppend, alles scheint müde und katzenjämmerlich zu sein. Die destruktiven Tendenzen unseres Otto von Bismarck, agr. haben die Köpfe der ganzen Nation verwirrt" (an KK, 27. 2. 1886, IISG, K D VIII, Br. 98).

Ähnliches befürchtete auch August Bebel Ende 1884: „Jetzt arbeiten wir wie die Ochsen an den Arbeiterschutzgesetz herum; bringen wir es endlich vor, d.h., haben wir es so gereckt und gestrenkt, daß es einigermaßen in die bestehende Gesetzgebung paßt, so wird dennoch von allen Seiten darumgemäkelt werden, und nachdem zwei Tage große akademische Debatten gehalten wurden, wird man es auf Nimmerwiedersehen in eine Kommission begraben" (AB an JM, 21. 12. 1884, zit. in: Im Kampf 1977, S. 73). Mit einer raschen Behandlung des sozialdemokratischen Gesetzesentwurfs zum Arbeiterschutz im Reichstag war nicht zu rechnen (von Madai im Juli 1885, zit. in: Höhn 1964, S. 240). August Bebel und Polizeipräsident von Madai behielten dann recht mit ihren Voraussagen: „Der Reichstag begrub den Arbeiterschutzgesetzentwurf zunächst in einer Kommission und lehnte ihn 1886 endgültig ab" (Herrmann/ Emmrich 1989, S. 267).


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