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Teil 2. 1843 – 1878



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2.1. Kindheit, Schule und Schriftsetzerlehre in Lübeck
(1843 – 1862)


„Hamburg, Lübeck und Bremen,
Die brauchen sich nicht zu schämen,
Denn sie sind eine freie Stadt,
Wo Bismarck nichts zu sagen hat"
(Ahrens 1988, S. 641).

In der Lübecker Fleischhauerstraße lebte Mitte des 19. Jahrhunderts der 39jährige Schneidermeister Johann Jochim Christian Dietz [Biographische Angaben sind im Anhang verzeichnet.
Es handelte sich bei der Familie Dietz aus Lübeck nicht um eine ‘Arbeiterfamilie’ (Munzinger-Archiv 1914, S. 2392a).]
und seine 37jährige Ehefrau Anna Catharina Elisabeth. Sie hatten einen Sohn, Johann Christian Hermann, geboren 1836, knapp vor der Hochzeit der Eltern. Das zweite Kind der Familie starb direkt nach der Geburt, eine weitere Tochter war kurz nach ihrem zweiten Geburtstag im Mai 1843 gestorben [Weitere Eintragungen als: Ernst Friedrich Wilhelm Dietz, geb. am 10. 1. 1838’ enthält das Genealogische Register in Lübeck nicht. Die Tochter trug die Namen Dorothee Agneta Charlotte, gest. 17. 5. 1843.] . Ein knappes halbes Jahr später, am 3. Oktober 1843 [G. Schöpflin (1947, S. 7) und die ihn zitiertende NDB (1957) geben den 3. Aug . 1843 und K. Schöpflin (1948) den 3. Aug. 1845 an. Die Polizeibehörde in Harburg schickte später ein ‘Signalement’ an das Polizei-Amt Lübeck, in der das Geburtsdatum mit 3. Jan . 1843 angegeben war (AHL, Pol.amt Nr. 502, Bl. 253). In derselben Akte nannte eine handschriftliche Notiz der Polizei in Lübeck das Geburtsjahr 1835 (Schreiben des Polizeiamtes Harburg). ] , wurde Johann Heinrich Wilhelm geboren und evangelisch getauft [Vgl. Schwarz 1965 und andere biographische Notizen. Später Dissident (BLHA Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 13140 Bl. 115, vgl. Kap. 4.1).] .

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2.1.1. Die Hansestadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Heinrich Dietz [Heinrich war sein Rufname. Wenn er als ‘Wilhelm Dietz’ oder ‘W. Dietz’ bezeichnet wurde (z.B. StAH S 1353; Auerdruck 1948), so möglicherweise wegen seiner Gewohnheit, in der Unterschrift das H in einem Schriftzug mit dem Nachnamen zu schreiben. Daraus konnte bei flüchtigem Blick ein W gelesen werden.] wuchs in einer Zeit auf, in der sich das Erscheinungsbild seiner Heimatstadt während des seit den fünfziger Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums [Vgl. hierzu allgemein: Ritter/Tenfelde 1992; Wehler 1988; Kutz-Bauer 1988.] sehr veränderte. Nach der Besetzung Lübecks durch die Franzosen am Anfang des Jahrhunderts gehörte das Territorium rund um die Stadt zum dänischen Hoheitsgebiet [Vgl. zu diesem Abschnitt Kellenbenz 1971, Kommer 1981[a] und 1981[b] und Ahrens 1988.] . Ein Stadtstaat, für den der Handel immer noch die wichtigste Rolle spielte, brauchte – auch zur Modernisierung von Handwerk und Industriegewerbe – die Verkehrsanbindung an die umliegenden Städte und Territorien zu Wasser und zu Land (Kommer 1981a, S. 142). Ab 1851 hatten Verhandlungen mit Dänemark und Mecklenburg die Anbindung an die Strecke zwischen Hamburg und Berlin (über Büchen) ermöglicht, 1857 wurde eine direkte Eisenbahnlinie zwischen den Hansestädten Lübeck und Hamburg eingerichtet. Recht bald waren auch die wichtigsten Landstraßen auf Lübecker Gebiet ausgebaut (Kommer 1981a, S. 143). Es ist also vorstellbar, wie Heinrich Dietz als Kind die ersten Eisenbahnen bestaunte, am Flußufer stand und das Entstehen der großen öffentlichen Bauten verfolgte, ein besonderes Ereignis beobachtete: Der ‘Blaue Turm’ mußte als einer der wenigen Reste aus der mittelalterlichen Befestigungsmauer dem Bau der neuen Hafenanlage weichen: „Ich erinnere mich lebhaft an meine Heimatstadt Lübeck, wo seinerzeit unter große Kosten und Schwierigkeiten die Linien Lübeck-Büchen und Lübeck-Hamburg gebaut wurden" (Sten.Ber., 1885, S. 1846).

Der Seeverkehr führte zunächst nur bis Travemünde, einem der Vororte von Lübeck. Anfang der 50er Jahre wurden der Lübecker Trave-Hafen modernisiert und die Hafenanlagen für den erweiterten Schiffshandel eingerichtet. Der Handel mit Skandinavien, eine regelmäßige Schiffslinie nach St. Petersburg (ab 1830), die Verbindungen nach Kopenhagen, Malmö, Stockholm, Stralsund und Rostock eröffneten der Hansestadt Lübeck einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Daneben begann der Ausbau von öffentlichen Versorgungseinrichtungen, Straßen wurden instandgehalten, 1854 ein Gaswerk eingeweiht, ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Bau von Mietwohnungen vorangetrieben – nicht zuletzt, um in Lübeck das Entstehen eines Proletariats mit entsprechendem Klassenbewußtsein zu verhindern. Ab 1865 gab es eine mit Dampfkraft betriebene ‘Wasserkunst’. Die Verhältnisse bei der städtischen Be- und Entwässerung wurden dadurch langsam verbessert, nachdem es bis in die 60er Jahre in immer kürzeren Abständen zu Choleraepidemien gekommen war [Diesen Epidemien könnten vielleicht die kleine Schwester Dorothee 1843 und der Vater 1855 zum Opfer gefallen sein.] (Kommer 1981b, S. 185ff.). Von einer Industrialisierung kann in dieser Zeit trotz der umfangreichen Erneuerungen im Wirtschaftsleben allerdings noch nicht gesprochen werden. Kaufleute und Handwerker (und ihre Gehilfen) bildeten noch immer den Großteil der Bevölkerung.

Das Lübecker Stadtgebiet war zu der Zeit in vier Quartiere geteilt: das Jacobi-Quartier im Nordosten, das Marien-Magdalenen-Quartier im Nordwesten, das Marien-Quartier im Südwesten und das Johannis-Quartier im südöstlichen Teil der Stadt. Die Familie des Schneidermeisters Dietz zog in der Zeit des städtischen Umbruchs und der Veränderungen recht häufig um. Das Lübeckische Adreßbuch verzeichnete sie (wie oben schon erwähnt) für die Jahre 1844 bis 1846 im Haus Nr. 89 des Johannis-Quartiers in der Fleischhauerstraße [Die Häuser wurden in den Quartieren durchnummeriert. Im Jacobi-Quartier lebten damals - nach Angaben des Adreßbuches (1860) 6.152 Einwohner, im Marien-Magdalenen-Quartier 6.374, im Marien-Quartier 7.162 und im Johannis-Quartier 6.984 Einwohner. Zu allen angegebenen Adressen vgl. den Stadtplan von Lübeck (1872) im Anhang 2.] (Adreßbuch L. 1844, 1846). Im Hause wohnten sechs Familien zusammen. 1846 wurde hier auch noch der jüngere Bruder Georg geboren. Wahrscheinlich schon in der nächsten Wohnung kam 1848 die kleine Schwester Doris [Anna Catharina Dorothea Dietz.] zur Welt, als die Familie in das Marienquartier, Haus Nr. 964 am Klingberg, umgezogen war, für das das Lübecker Adreßbuch drei Partien angab. Die Gründe für die recht zahlreichen Wohnungswechsel waren nicht mehr nachzuprüfen [Dennoch kann angenommen werden, daß die Familie etwas unstetig lebte (oder leben mußte?). Es scheint fraglich, ob der .i. Schneidermeister Dietz; immer nur Erfolg in seinem Gewerbe hatte. ] .

In der alten Hansestadt „hielten sich [...] die gewachsenen vorindustriellen Strukturen länger als in den industriellen Großstädten. Dadurch wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse und Formen konserviert" (Kommer 1981a, S. 150). Ein Handwerksmeister war in diesen Strukturen zur oberen Mittelschicht zu rechnen. Dafür spricht auch die Lage der Straßen, in denen die Familie Dietz gewohnt hat. Die hier angegebenen Adressen befinden sich am Rande der ‘besseren’ Wohngegend (dem Sandhügel in der Mitte der Stadt, wo die Häuser breiter waren und nicht so eng nebeneinander standen) und überwiegend im östlichen Teil der Stadt. Dort „wohnten viele Handwerker, aber auch solche Leute, die durch ihre Tätigkeit nicht so stark an einen bestimmten Ort gebunden waren. Im Prinzip konnte nämlich jeder wohnen, wo er wollte, vorausgesetzt, er hatte die Mittel dazu" (Kommer 1981b, S. 184).

Lübecks wirtschaftliche Veränderung fand schließlich ihre gesellschaftliche Entsprechung: Die bürgerliche Revolution wirkte sich im zersplitterten Deutschland auch bis in die Hansestadt aus – allerdings recht schwach. Immerhin diskutierte man über eine Veränderung in der bis dahin ständisch organisierten Bürgervertretung. Hoffnungen der Handwerker, der zahlreichen Gesellen und der Einwohner jüdischen Glaubens auf Gleichberechtigung und eine Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für alle Bürger Lübecks und die Gewerbefreiheit wurden jedoch vorerst enttäuscht. Die „Neuen Lübeckischen Blätter" veröffentlichten 1848 einen scharfen Kommentar zu dem von den Interessen der Zünfte und der Kaufmannschaft geleiteten Beschluß : „So darf man die Frevelthat als ein Ergebniß reaktionärer Bestrebungen Zünftiger gegen befürchtete Ergebnisse der freiheitlichen Bestrebungen der Gegenwart ansehen" (zit. in: Ahrens 1988, S. 614). Heinrich Dietz war gerade fünf Jahre alt, als seine Heimatstadt nach diesem umstrittenen Bürgerschaftsbeschluß Tumulte erlebte, die Thomas Mann in seinem Roman über die Familie Buddenbrook als ‘Revolutschon’ so amüsant geschildert hat [Die erschrockene Konsulin Buddenbrook: „Sollte es ... O mein Gott, ja, die Revolution ... [...] Anton, geh hinunter! Schließe die Haustür! Mach alles zu! Es ist das Volk!" – „Je, Herr Kunsel, [...] Dat is nu so wied [...] Wi maaken nu Revolutschon. [...] Revolutschon mut sien, dat is tau gewiß." – „Na Lüd" beruhigte schließlich Konsul Buddenbrook, „ick glöv, dat is nu dat beste, wenn ihr alle naa Hus gaht!" Und das tat man dann auch (Mann 1982, S. 134 und 143f.).] .

Auch in Lübeck waren politische Veränderungen jedoch nicht mehr zu verhindern. Schon kurze Zeit darauf, im Dezember 1848, trat eine neue ‘Verfassung des Lübeckischen Freistaates’ in Kraft, die allen Bürgern in den elf Bezirken, die zum Stadt- und Landgebiet gehörten, gleiches Wahlrecht gab, außerdem den Juden das Recht, Bürger zu werden. Hinzu kam: „Die Bürgerschaft tagte öffentlich, ihre Verhandlungen und Beschlüsse durften in den Zeitungen bekanntgemacht werden" (Ahrens 1988, S. 615). Eine Trennung von Verwaltung und Justiz konnte aber erst später verwirklicht werden.

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2.1.2. Schulbesuch

1850 [„Seit 1839 hatte in Lübeck die allgemeine Schulpflicht für Kinder vom vollendeten 7. Lebensjahr an bis zur Konfirmation gegolten." Erst 1866 wurde das Lübecker Schulgesetz auf einen Beginn vom 6. Lebensjahr an erweitert (Ahrens 1988, S. 665f.). Einige biographische Quellen legen 1849 als Schulbeginn nahe (ESZ [1981, S. 29] und Schröder [1986, S. 96] ohne weitere Belege). Da Heinrich Dietz aber eine Privatschule besuchte, ist zweifelhaft, daß er ein Jahr vor dem gesetzlich festgelegten Alter eingeschult wurde. ] wurde Heinrich Dietz bei Franz Heinrich Petri [Auch ‘Petro-Knabenschule’ (Munzinger-Archiv 1914, S. 2392a), ‘Petri-Knabenschule’ (Kürschner 1912; Schwäbische Tagwacht 1913) oder ‘Knabenschule in St. Petri’ (ESZ 1981, S.29). Ob den Schülern allerdings in der niederen Schule für Knaben im Kirchspiel St. Petri ausreichend Lese- und Schreibkenntnisse für eine Schriftsetzerlehre vermittelt wurden, ist unwahrscheinlich, so daß diese Angabe nicht zutreffen sein dürfte.] eingeschult. Petri hatte 1840 im Haus Nr. 127 des Maria-Magdalenen-Quartiers in der Beckergrube eine ehemalige Realschule von Borchers übernommen und betrieb dort seine ‘Lehranstalt für Knaben’ (Adreßbuch L. 1852). Diese „Höhere Privatknabenschule" existierte bis 1878 und „stand in hohem Ansehen" (Bangert 1926, S. 145). Heinrich Dietz schätzte seine Schulbildung selbst sehr gering ein. Er wäre kein Gelehrter, schrieb er später an Karl Kautsky, hätte nur „eine entsetzlich schlechte Schulbildung genossen [...], deren Folgen auf Tritt und Schritt mir Knüppel zwischen die Beine werfen. [...] Mein ruheloses, im technischen Betrieb ganz aufgehendes Leben gestattete mir nicht, Lücken auszufüllen und Ecken abzuschleifen. Ich mußte eben alles im Fluge erhaschen" [Gegen diese Einschätzung spricht aber die sehr gute Handschrift, mit der Heinrich Dietz seine zahlreichen Briefe verfaßte. Er konnte sich flüssig ausdrücken und schrieb – den damaligen Verhältnissen angepaßt – ein korrektes Deutsch.] (7. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 155).

Zwischen 1850 und 1852 zog die Familie Dietz noch zweimal um. Man war zunächst zurück ins Johannis-Quartier, ins Haus Nr. 689 in der Ägidienstraße, zuletzt in das schmale Torhaus zum Stift an der Glockengießerstraße, Nr. 266 des Jacobi-Quartiers gezogen. In dieser Straße gab es mehrere Arbeits-, Fabrik- und Lagerhäuser, eine Reihe von Höfen, Gängen und – im Vergleich zu den vorher angegebenen Adressen – viele Wohnbuden [Dieses Torhaus steht heute noch und wurde inzwischen mehrfach restauriert. Für eine mindestens fünfköpfige Familie, die dort mit einer weiteren Mietpartei untergebracht war, scheinen die Verhältnisse sehr beengt gewesen zu sein. Das läßt einen sozialen Abstieg vermuten.] . Der ältere Bruder war inzwischen 14 Jahre geworden, folgte seinem Vater nach und begann eine Schneiderlehre. Der Vater selbst übernahm 1854 eine Funktion in der Innung und zog deswegen als ‘Wirth auf dem Schneideramtshause’ mit seiner Familie in das Innungshaus an der großen Schmiedestraße, Nr. 988 des Marien-Quartiers ein (Adreßbuch L. 1854). Dort starb er ein Jahr später, am 31. August 1855, im 51. Lebensjahr. Die Witwe blieb mit den kleinen Kindern zurück und heiratete 1856 in zweiter Ehe den langjährigen Amtsältesten und ebenfalls verwitweten Schneidermeister Peter Klein. Heinrich Dietz konnte die Schule weiter besuchen und schloß sie zu Ostern 1857, mit seiner Konfirmation [Für die Rekonstruktion des Aufenthaltes in St. Petersburg (dazu siehe weiter unten, Kap. 2.2) spielt der Zeitablauf eine Rolle. Ausgangspunkt ist die Begegnung mit Cernysevskij, die spätestens 1862 stattgefunden haben muß. Davor lagen nach Heinrich Dietz’ Aussage fünf Jahre Lehrzeit und ein Schulbesucht bis zur Konfirmation, die üblicherweise um die Vollendung des 14. Lebensjahres stattfand. Daß Heinrich Dietz schon 1856, d.h. im Alter von 12 ½ Jahren, konfirmiert wurde – und dann ja auch die Schule abgeschlossen hatte – ist ganz unwahrscheinlich.] , ab.

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2.1.3. Lehrzeit

Lehrverträge wurden auch 1874 noch mündlich geschlossen, danach wohnten die Lehrlinge üblicherweise im Hause des Lehrherrn. Der nun 14jährige Heinrich Dietz verließ sein (Stief)-Elternhaus und wurde „auf fünf Jahre Lehrzeit, bei einem Taler monatlich Kostgeld" (Dahms 1924, S. 7) in einer der vier Lübecker Buchdruckereien als Schriftsetzerlehrling untergebracht [Fünf Jahre Lehrzeit nach: Dietz 1902. Krahl berichtete über die: „in den wenigsten Fällen vierjährigen, meist jedoch erheblich längeren Lehrzeit" (1916, S. 61, S. 436; vgl. auch Corr. 7[1869]Nr. 13 vom 26. März, Beilage). Daß Heinrich Dietz eine Schriftsetzerlehre beginnen konnte, setzte gute Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift voraus. Das bedeutet, daß er die Schule mit Erfolg abgeschlossen und sicher nicht vorzeitig beendet hatte.] (vgl. Buchdrucker-Verein 1924). Während seiner Lehrzeit wurde Heinrich Dietz auch in die lebendigen Traditionen eingeführt, die noch einen großen Teil des Gewerbes ausmachten, mit speziellen Gebräuchen und einer eigenen, manchmal recht deftigen Sprache. Bei welchem der Buchdrucker’prinzipalen’ Heinrich Dietz als ‘Stift’ gelernt hat, mit ‘Winkelhaken’ und ‘Gevierten’ umzugehen, ‘Leichen’ und ‘Eierkuchen’ zu vermeiden und ‘Register zu halten’ [Prinzipal: Druckereibesitzer; Stift: Lehrling; Winkelhaken: Werkzeug der Setzer zum Aneinanderreihen der Lettern [= Buchstaben]; Geviert: Anschlußstück zum Schriftsatz; Leichen: Auslassungen beim Satz; Eierkuchen: zusammengefallener Satz; Register halten: Vorder- und Rückseite stimmen korrekt überein (Dröge, S. 279ff.; vgl. auch Nadolsky 1987).] , ist nicht mehr nachzuweisen (vgl. Buchdrucker-Verein 1924, S. 28f).

Lübeck beherbergte die älteste Buchdruckerei auf deutschem Boden – gegründet 1474 –¸Schmidt(-Römhild)& Erdmann. Sie lag in der oberen Mengstraße im Marien-Magdalenen-Quartier Nr. 11 und arbeitete – wie heute – für den Rat der Stadt [Alle Adressen vgl. Adreßbuch L. 1858, alle Gründungsdaten vgl. Buchdrucker-Verein 1924, S. 95. Ein Vergleich dieser Anschriften mit dem Wohnort der Familien Klein/Dietz um den Lehrbeginn herum läßt leider keinen Schluß auf eine bestimmte Druckerei zu. Auch die Petri-Knabenschule lag nicht in der Nähe der Wohnungen. [Im übrigen waren alle Entfernungen in der Lübecker Altstadt bequem zu Fuß zu bewältigen.] . Die Buchdruckerei der Gebrüder Borchers befand sich noch 1858 in der Königstraße, später kaufte man ein angrenzendes Grundstück an der Hundestraße hinzu. Ihr Geschäft bestand seit 1524 und druckte seit 1751 die „Lübeckischen Anzeigen", später die alte (1849 bis 1866) und die neue „Lübecker Zeitung" (ab 1872) sowie die Lübecker Adreßbücher. Das Borchersche Haus wurde deshalb auch das ‘Adreßhaus’ genannt (Dahms 1924, S. 7). Rahtgens Buchdruckerei lag an den Schüsselbuden. 1848 hatte Johannes Bock eine kleine Buchdruckerei gegründet – in der oberen Fleischhauerstraße [Die Druckerei ging später in den Besitz von Charles Coleman über, er gab ab 1880 die „Lübecker Presse", ab 1881 die „Nordische Presse" und ab 1882 den „Generalanzeiger für Lübeck und Umgebung" heraus (Festschrift Coleman 1928, S. 15). ] .

Untereinander machte man sich keine große Konkurrenz, die Aufgabengebiete waren klar umrissen: „Jeder der Inhaber suchte seinen Besitzstand zu wahren und zu pflegen und dachte nicht daran, den anderen Kollegen die Arbeit abzujagen" (Rey/ Schmidt-Römhild 1924, S. 44).

Heinrich Dietz’ Lehrzeit endete, wie traditionell üblich im Druckerhandwerk, mit der ‘Freisprechung’ (Nadolski 1987, S. 70f.). Den eigentlichen Abschluß der Lehre aber bildete die Zeremonie des Gautschens, ohne die – und das damit verbundene Festgelage – kein frischgebackener ‘Typenfänger’ [Schriftsetzer.] von seinen Zunftkollegen akzeptiert wurde [Das genaue Datum der Freisprechung ist nicht mehr festzustellen, denn die Buchdrucker waren nicht als Handwerkszunft organisiert. Eine Innung bildete sich in Lübeck erst 1889. ] . Der Setzergehilfe [Im Buchdruckerhandwerk hießen die Gesellen ‘Gehilfen’. Fast alle Quellen bezeichnen Heinrich Dietz als ‘Buchdrucker’ (z.B. Vorwärts 1913; G. Schöpflin 1947, S. 7) oder umschreiben seine Ausbildung als ‘Erlernen des Buchdruckergewerbes’ (z.B. Schwäbische Tagwacht 1913; Keil 1956). Es deutet aber nichts darauf hin, daß Heinrich Dietz nach Abschluß der Lehre ein ‘Schweizerdegen’ war: Das ist im Sprachgebrauch der Drucker jemand mit doppelseitigem Schliff, d.h. mit Ausbildung als Schriftsetzer und Buchdrucker (vgl. Nadolski 1987, S. 137). Er selbst bezeichnete sich später, z.B. für die Angaben des Altonaer und Hamburger Adreßbuch, als Schriftsetzer. ] Heinrich Dietz verließ nach beendeter Lehrzeit zu Ostern 1862 seine Heimatstadt und ging mit 19 Jahren auf die Wanderschaft. Gelernt hatte er ein privilegiertes Handwerk, das nicht selten mit Schlagworten wie ‘Arbeiterintelligenz’ oder ‘Arbei- teraristokraten’ belegt wurde (vgl. z.B. Beier 1966, S. 101; Beier 1976; Kutz-Bauer 1988, S. 182): „Die Buchdruckerkunst wirkt auch bildend auf ihre Arbeiter. Die unausgesetzte geistige Tätigkeit schärft den Verstand, ihre Vielseitigkeit übt die Auffassung, und gute Muster bilden den Stil" (Faulmann 1882, S. If., zit. bei Dröge 1978, S. 40). „Man hat nicht zu Unrecht von den Buchdruckern als von der ‘Intelligenz der Arbeiterschaft’ gesprochen, wenn sie auch immer wieder der Kritik der Zeitgenossen standhalten müssen. ‘Setzer-Größenwahn’ und ‘Arbeiteraristokrat’ sind in dieser Hinsicht noch die gelindesten Urteile" (Oschilewski, 1935, S. 4).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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