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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 15 (Fortsetzung)] Die Sowjetunion befindet sich am Rande einer wirtschaftlichen Katastrophe. Die Talfahrt der Wirtschaft ist aus den veröffentlichten Daten ersichtlich. Das Bruttosozialprodukt ging bereits 1990 gegenüber dem Vorjahr um 2 %, das Nationaleinkommen um 4 % und die Arbeitsproduktivität um 3 % zurück. Der Außenhandelsumsatz sank um 6,9 %. Der Negativsaldo im Außenhandel stieg auf 10 Mrd. Rubel. Das Defizit im Staatshaushalt erhöhte sich 1990 gegenüber dem Vorjahr um 22,6 Mrd. auf 58,1 Mrd. Rubel. Im l. Quartal 1991 sank die Leistung der Sowjetwirtschaft weiter. Das Bruttosozialprodukt ging gegenüber dem Vergleichszeitraum 1990 um 8 % zurück, der Außenhandel schrumpfte um ein Drittel, die Exporte der Betriebe verringerten sich um 18 %. Die In- [Seite der Druckausg.: 16] vestitionen sanken um 16 %, die Arbeitsproduktivität um 9 %. Die Erdölproduktion ging ebenfalls um 9 % zurück. Nach den Arbeiterstreiks und dem Zusammenbruch des RGW-Marktes ist für 1991 ein weiterer Rückgang der Wirtschaftsleistung zu erwarten. Das Budgetdefizit, das für 1991 mit 26,7 Mrd. Rubel veranschlagt wurde, lag bereits im l. Quartal 1991 bei 26,9 Mrd. Rubel, da die Republiken nur 39 % der vorgesehenen Zahlungen leisteten. Inzwischen haben sich die Lebenshaltungskosten drastisch erhöht, während sich die Versorgungslage weiter verschlechtert hat. Rund ein Viertel der Sowjetbürger (70 Millionen) lebt heute unter dem Existenzminimum. Die Auslandsverschuldung wird bis Ende 1991 voraussichtlich auf über 40 Mrd. Valuta-Rubel (70 Mrd. Dollar) steigen. Das Land befindet sich in einer tiefen Depression und am Rande einer Hyperinflation. Die Ausarbeitung von immer neuen Wirtschaftsprogrammen zur Bewältigung der Krise scheint unter der Regierung Gorbatschow zu einer Art Volkssport geworden zu sein. 1990 beauftragte Gorbatschow eine Gruppe von Reformökonomen mit dem Entwurf eines Wirtschaftsprogramms. Der im September 1990 veröffentlichte sogenannte Schatalin-Plan lief auf eine Schocktherapie, den radikalen Übergang zur Marktwirtschaft in "500 Tagen", hinaus. Ihm stand das Reformprogramm des damaligen Ministerpräsidenten Ryschkow gegenüber. Der Ryschkow-Plan sah den Übergang zu einer "regulierten Marktwirtschaft" vor. Durch ihn sollte der bestehende Staats- und Wirtschaftsapparat gerettet und jeglicher Versuch der Privatisierung erschwert werden. Als Konglomerat der beiden Pläne entstand im Oktober 1990 der kurzlebige sogenannte Gorbatschow-Plan ("Grundrichtlinien für die Stabilisierung der Volkswirtschaft und den Übergang zur Marktwirtschaft"), der das Rezept für das organisierte Chaos darstellte. Danach erschienen auch die Pläne von Ryschkow und Schatalin nicht mehr durchführbar. Zur Zeit gilt das Antikrisenprogramm des Ministerkabinetts, der sogenannte Pawlow-Plan, der im April 1991 veröffentlicht wurde. Der Pawlow-Plan ist Gorbatschows fünfter Versuch eines Reformprogramms. Als Fortschritt ist zu verzeichnen, daß diesem Plan zumindest neun Republiken (einschließlich Jelzins Rußland) im Prinzip zugestimmt haben. Das Antikrisenprogramm sieht u.a. die Reduzierung des Haushaltsdefizits und der Kreditvergabe, die Aufteilung der In- und Auslandsschulden zwischen Zentrum und Republiken, die Verlegung der außenwirtschaftlichen Tätigkeit in die Kompetenz der Republiken sowie die Einführung der Binnenkonvertibilität des Rubels ab 1. Januar 1992 vor. Außerdem ist von "Entmonopolisierung" und "Entstaatlichung" der Wirtschaft die Rede, wobei die zentrale Staats- und Wirtschaftsbürokratie jedoch einen Mecha- [Seite der Druckausg.: 17] nismus zur Aufteilung der Aktien und Anteile an den Staatsbetrieben anstrebt, durch den ihre Positionen und ihr Einfluß aufrechterhalten werden können. Die Inflation der Wirtschaftsprogramme ist auch mit dem Pawlow-Plan noch nicht beendet. Er stieß auf Ablehnung bei der ultrakonservativen Partei- und Staatsbürokratie. Ihr Vertreter, der "schwarze Oberst" Alksnis. pries statt dessen das Wirtschaftmodell des chilenischen Diktators Pinochet. Außerdem wurde im Juni 1991 der sogenannte Jawlinski-Plan der Harvard-Universität zur Gesundung der Sowjetwirtschaft vorgelegt. Er sieht in zwei Stufen (19911993 und 19941997) die innere Konvertierbarkeit des Rubels, Freigabe der meisten Preise, die Privatisierung zunächst der kleinen Unternehmen, die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion, die Aufhebung der staatlichen Monopole und schließlich strukturelle Veränderungen vor. Dieser Plan wurde jedoch von der sowjetischen Regierung abgelehnt und auch von der US-Regierung als kaum durchführbar bezeichnet. So erschien der Präsident der UdSSR beim Wirtschaftsgipfel (G-7) im Juli 1991 in London mit einem neuen Gorbatschow-Plan, einem Konglomerat aus den Plänen Pawlows und Jawlinskis, das auf ein neues Rezept für das Chaos hinausläuft. Präsident Gorbatschow ist nicht in der Lage, die chaotischen Zustände in der Sowjetwirtschaft in den Griff zu bekommen. An der schwerfälligen, überzentralisierten Kommandowirtschaft hat sich seit Stalins Zeiten kaum etwas geändert. Als Gorbatschow 1985 die Macht übernahm, unterschied sich das Wirtschaftssystem im wesentlichen nicht von dem des Jahres 1937. Eine grundsätzliche Systemänderung konnten auch die halbherzigen und erfolglosen Experimente der letzten fünf Jahre (19861991) unter Gorbatschow nicht herbeiführen. Eine radikale Änderung des Wirtschaftssystems, d.h. der Übergang zur Marktwirtschaft, ist ohne Änderung des politischen Systems, d.h. ohne Einführung der parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage des Mehrparteiensystems, nicht möglich. Da die entsprechenden politischen Reformen, auch aus objektiven Gründen, ausblieben, bleibt die Schaffung einer Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild Illusion. Die konservative Wirtschaftsbürokratie, die sich an den Schaltstellen der Macht befindet, will auch gar keine Systemänderung im Sinne einer Marktwirtschaft. Sie will lediglich das bestehende System verbessern, modernisieren bzw., wie es offiziell heißt, "erneuern". Der immer seltener verwendete Begriff Marktwirtschaft klingt heute bereits wie ein leeres Schlagwort ohne konkreten Inhalt. Gorbatschows Regierung ist bestrebt, sogenannte "kontrollierte Marktbeziehungen" herzustellen. Das bedeutet Simulierung eines Marktes [Seite der Druckausg.: 18] und Schaffung einer regulierten bzw. gemischten Wirtschaft, in der das Staats-, Volks- und "kollektive" Eigentum überwiegen. In Fragen des Privateigentums, des Besitzes an Grund und Boden, der Privatisierung und finanziellen Stabilität, die aus der Sicht der Marktwirtschaft entscheidend sind, bezog Gorbatschow bisher keine klare Position. Er kann die enormen Probleme der Sowjetwirtschaft nicht allein dadurch lösen, daß er die zentrale Macht von der Partei auf die staatliche verlagert. Der konservative Staats- und Wirtschaftsapparat blieb bisher unverändert bestehen. Seine vier Hauptsäulen bestimmen den wirtschaftspolitischen Kurs: das Präsidialamt, das Ministerkabinett, die Armee und die Rüstungsindustrie. Hinter den meisten Joint Ventures verbirgt sich das KGB. Die zentrale Bürokratie sieht sich konfrontiert mit dem langen Marsch der Republiken in Richtung wirtschaftliche Selbstständigkeit. Dazu zählen die Verweigerung der Zahlungen zur Finanzierung des zentralen Haushalts, eine eigenständige liberale Wirtschaftspolitik (Litauen), eigene Privatisierungsprogramme (Rußland, Georgien) und die Aufnahme direkter Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland. Die Republiken weigern sich, von ihnen produzierte Waren auf Anordnung Moskaus weiterzuleiten. Sie verhindern den Transit von Waren in "feindliche" Republiken (Aserbaidschan, Armenien) oder beschlagnahmen einfach Waren, die nicht für sie bestimmt sind. In den territorialen Verwaltungseinheiten (Gebiete, Kreise, Kommunen) entwickelte sich ein unabhängiges Warenaustauschsystem, wobei, sich lokale Führer als Warenbe-schaffer betätigen. Innerhalb der zivilen Gesellschaft entstanden neue Wirtschaftsgruppierungen auf der Basis von Clans, Stämmen und Nationalitätengruppen oder auch einfach Mafiabanden, die sich innerhalb der Schattenwirtschaft ausbreiten. Anfang 1991 konnte man z.B. im Gebiet Rjasan aufgrund der dort geltenden "Warenbörse" für einen Waggon Zucker einen Hebekran oder für einen Waggon Holz drei Tonnen Rindfleisch erwerben. Zwar ist oft von der Einführung verschiedener Eigentumsformen in der Sowjetunion die Rede, in Wirklichkeit ist jedoch für die Sowjetführung unter Gorbatschow das Privateigentum nach wie vor unakzeptabel. Das am 6. März 1990 verabschiedete Gesetz über "das Eigentum in der UdSSR" entspricht nicht den Erfordernissen einer Marktwirtschaft. Nach sowjetischen Vorstellungen bestimmen weiterhin das Staatseigentum und das "kollektive" Eigentum die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Grund und Boden bleiben Staatseigentum. Sie können lediglich zum Zwecke der Nutzung zur Verfügung gestellt bzw. gepachtet werden. Zwar sieht das Gesetz auch den Begriff [Seite der Druckausg.: 19] "Eigentum der Bürger" vor, der inhaltlich dem Privateigentum entspricht. Diese Eigentumsform kommt jedoch nur für Kleinunternehmen und Nebenwirtschaften in Frage. Mit diesem Zugeständnis versucht die Regierung, der drohenden Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Im Gegensatz zur Union lassen die Gesetze Rußlands (12. November 1990), Estlands (1988) und Litauens (1989) Privateigentum auch an Grund und Boden ausdrücklich zu. Die restriktive Haltung Moskaus hinsichtlich der Entstaatlichung wurde im Gesetz über die "allgemeinen Grundlagen des Unternehmertums der Bürger in der UdSSR" vom 12. April 1991 deutlich. Es sieht die Umwandlung von Staatsunternehmen in "kollektives" Eigentum sowie die Privatisierung von Unternehmen mit zahllosen Einschränkungen vor. Dabei handelt es sich vornehmlich um eine "kleine Privatisierung". Sie betrifft Handelsunternehmen, Gaststätten, kleine Industriebetriebe und soziale Dienstleistungen. Ein Drittel dieser Unternehmen soll bis Ende 1991 aus dem Staatssektor herausgelöst werden. Das sogenannte "Privatisierungsgesetz" vom 1. Juli 1991 sieht ihrerseits die Entstaatlichung von 50 % der Industriebestriebe bis Ende 1992 vor. Über die Form dieser Entstaatlichung entscheidet jedoch der Fonds des Staatseigentums der Regierung. Die Staatsbetriebe können in Pachtbetriebe, Genossenschaften, Belegschaftseigentum, Aktiengesellschaften u.a. umgewandelt werden. Es wird vermutet, daß der Staat bestrebt sein wird, die Kapitalmehrheit der Betriebe zu behalten. Indem die Regierung Gorbatschows das "kollektive" Eigentum anstelle des Privateigentums in den Vordergrund rückt, stärkt sie zugleich die Machtpositionen der konservativen Betriebsdirektoren. Das bedeutet: keine Erneuerung. Im Gesetz der RSFSR vom 3. Juli 1991 kommt das Privateigentum dagegen im Vergleich zum Unionsgesetz besser zur Geltung. Das russische Gesetz sieht u.a. die Herausgabe von Staatspapieren bzw. den Verkauf von Staatseigentum auf Versteigerungen vor. Da das Privateigentum an Grund und Boden verboten ist, kann die Marktwirtschaft in der Sowjetunion weder in der Industrie (nach der Umwandlung der Betriebe) noch in der Landwirtschaft (nach dem Präsidialdekret Gorbatschows vom 5. Januar 1991 über die Bodenreform) funktionieren. Bis Ende 1990 gab es in der Sowjetunion lediglich 40.600 "private" Bauernhöfe, die aufgrund von Pachtverträgen insgesamt 700.000 ha Land bewirtschafteten. Zwar erwartet der sowjetische Ministerpräsident Pawlow für 1991 lediglich eine Getreideernte von 180-190 Millionen t, so daß 77 Millionen t Getreide importiert werden müssen, doch hält er trotzdem an dem nicht-lebensfähigen [Seite der Druckausg.: 20] Kolchossystem fest. 1990 blieben 5 Millionen ha Mais und 1 Million ha Sonnenblumen einfach auf den Feldern liegen. Demgegenüber würde die Vergabe von Boden als Privateigentum an Bauern oder auch an die städtische Bevölkerung sowie ehemaliger Offiziere Millionen von neuen Arbeitsplätzen schaffen. Wenn auch überall im Lande Mangel herrscht, so mangelt es doch nicht an Boden, auch nicht an gutem Boden. Trotzdem will Gorbatschow Grund und Boden nur verpachten und nicht privatisieren. Welcher Bauer will aber Boden pachten, wenn er weiß, daß der Pachtvertrag jederzeit vom Dorfvorsitzenden gekündigt werden kann? Inzwischen kam auch der Teil des Antikrisenprogramms zum Tragen, der als "Preisreform" bezeichnet wurde. Dies begann mit einer wenig sinnvollen Aktion: Die 50- und 100 Rubel-Scheine wurden unvermittelt aus dem Verkehr gezogen. Pawlow begründete die Maßnahme mit einer angeblichen antisowjetischen Verschwörung des Westens. Sie traf jedoch in erster Linie die Rentner und andere Personen mit niedrigem Einkommen und nicht die Spekulanten. Eine weitere Maßnahme der sogenannten Preisreform: die Erhöhung der Einzelhandelspreise ab 2. April 1991. Statt die Preisbildung dem Markt zu überlassen, verdoppelte bzw. verdreifachte der Staat die Lebensmittelpreise. Ziel dieser Aktion: Die Produktion zu stimulieren und die staatlichen Subventionen abzubauen. Härtefälle sollen durch Kompensationszahlungen, die 85 % der Preiserhöhungen abdecken, ausgeglichen werden. Diese administrative Verfügung wurde notwendig, weil die Regierung bereits ab 1. Januar 1991 die staatlichen Aufkaufpreise verdoppelt hatte. Dadurch stiegen die staatlichen Preissubventionen auf ein Fünftel des Bruttosozialproduktes (rund 200 Mrd. Rubel). Diese Belastung konnte die Sowjetwirtschaft nicht verkraften. Allein durch die Preiserhöhungen ist jedoch die Gefahr des wirtschaftlichen Zusammenbruchs noch nicht gebannt, da diese nicht durch Wirtschaftsreformen flankiert wurden. Die erwünschten Effekte der Preiserhöhung, Subventionsabbau und Anreiz zur Produktionssteigerung, sind nur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu erwarten. Sicher ist dagegen unter den gegebenen Bedingungen die nächste Preiserhöhung. Die Finanzkrise in der Sowjetunion verschärft sich zunehmend. Das Haushaltsdefizit hat den für 1991 eingeplanten Fehlbetrag bereits im l. Quartal überschritten. Über die Verteilung der öffentlichen Einnahmen zwischen Zentrum und Republiken wurde keine Einigung erzielt. UdSSR und RSFSR streiten weiter um Verfügungsrechte über Steuergelder. Die RSFSR, die mit einem eigenen Steuergesetz niedrigere Einkommens- und [Seite der Druckausg.: 21] Gewinnsteuertarife eingeführt hat, zahlt einen erheblich geringeren Betrag in die Haushaltskasse der Union ein als geplant. Folglich müssen Republiken, die bisher Subventionen aus dem Unionshaltshalt erhielten, Mittelkürzungen hinnehmen. Gorbatschow erließ daher am 29. Dezember 1990 Dekrete über die Schaffung eines Unions-Stabili-sierungsfonds, der zweckgebunden eingesetzt werden soll, um das Funktionieren von Schlüsselindustrien zu sichern und über die Einführung einer Verkaufssteuer, um Sozialprogramme zu finanzieren. Diese Steuer fand in den Republiken bislang keine Zustimmung. Auch in den Stabilisierungsfonds zahlten die Republiken im l. Quartal 1991 statt der vereinbarten 12 Mrd. Rubel nur 1,8 Mrd. Rubel ein. Gorbatschow sah sich gezwungen, von der Staatsbank der UdSSR einen Kredit von 5 Mrd. Rubel für den Fonds aufzunehmen. Im Juni 1991 drohte die Zentralregierung den Republiken, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, mit Wirtschaftssanktionen. Die Widersprüche, die sich aus dem Antikrisenprogramm für das Verhältnis zwischen Zentrum und Republiken sowie für die Beziehungen der einzelnen Republiken untereinander ergeben, werden immer offenkundiger. Sie betreffen vor allem die Steuerpolitik. Die RSFSR bestreitet das Recht des Zentrums, direkt Steuern zu erheben. Nach Ansicht der RSFSR sollen die Republiken die Steuern selber erheben und dann einen Teil an das Zentrum abführen. Aufgrund der wachsenden Inflation und des Mangels an Kapital für die Privatisierung verfügte Gorbatschow mit Präsidialerlaß vom 22. März 1991 ab 1. April 1991 eine allgemeine Steuersenkung sowohl für Unternehmen als auch für die Bürger. Nach den neuen Bestimmungen liegt die steuerliche Höchstgrenze nunmehr bei 30 % des Einkommens (bisher 60 %). Monatseinkommen bis 160 Rubel sind steuerfrei. Die Gewinnsteuer der Unternehmen (Höchstgrenze 35 %) soll zu 17 % in den Unionshaushalt und zu 18 % in den Republikhaushalt fließen. Das einzige Produkt, das in der Sowjetunion heutzutage keine Mangelware ist, ist der Rubel, der in großen Mengen gedruckt wird. Als offizielles Zahlungsmittel funktioniert er jedoch kaum mehr. In ökonomischer Selbstverteidigung wurden in den Republiken und Großstädten Coupons, Karten bzw. Einkaufshefte als Rubel-Ersatz eingeführt, damit bestimmte Mangelwaren nur von den Ortsansässigen gekauft werden können. Ungeachtet dieser Situation trat am 1. April 1991 ein Gesetz über die Devisenregulierung in Kraft (nach dem ihm nur sechs der 15 Republiken und auch diese nur mit Einschränkungen zugestimmt hatten). Es geht von einer einheitlichen Währung, ei- [Seite der Druckausg.: 22] nem einheitlichen Währungssystem und Währungsgebiet der UdSSR aus. Das Problem ist dabei, daß es bisher keine einvernehmliche Aufteilung der Kompetenzen zwischen Union und Republiken im Bereich der Devisenregulierung gegeben hat. Die Ukraine z.B. möchte zwar dem Unionsvertrag beitreten, gleichzeitig aber eine eigene nationale Währung einführen. Ob das Devisenregulierungs-Gesetz tatsächlich dazu beiträgt, die bestehenden Devisenbörsen in der UdSSR aufzuwerten und dem Rubel den Weg zur internen Konvertibilität zu ebnen oder ob nun die Inflationsrate weiter ansteigt (bis Ende 1991 um 100 %), bleibt abzuwarten. Zur Zeit kommen drei Wechselkurse zur Anwendung:
Widersprüchlich sind zum Teil auch die Gesetze der Union und der Republiken über ausländische Investitionen, wenn auch die Registrierung von Joint Ventures ab 1. Januar 1991 in die Zuständigkeit der Republiken fällt. Zur Zeit sind in der Sowjetunion etwa 3.000 Joint Ventures registriert. Davon sind jedoch nur etwa ein Drittel aktiv. Die meisten Joint Ventures wurden im Dienstleistungsbereich, vor allem im Handel, gegründet. Am Vorabend von Gorbatschows Reise zum Wirtschaftsgipfel in London verabschiedete das sowjetische Parlament ein neues Gesetz, das es Ausländern ermöglicht, in der UdSSR Firmen mit 100%iger Auslandsbeteiligung zu gründen, Konzessionen für die Ausbeutung von Bodenschätzen zu erhalten, Devisengewinne im Ausland zu transferieren und Rubelgewinne in der UdSSR zu investieren. Dieser Schritt zeigt, daß die Sowjetunion bemüht ist, außenwirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, um ohne Systemänderung aus der wirtschaftlichen Talfahrt herauszukommen. Wenn Gorbatschow jedoch gegenüber dem Westen von Demokratie, Pluralismus, gemischter Wirtschaft, Privateigentum, Privatisierung und Berechenbarkeit der sowjetischen Außenpolitik redet, dann meint er von Anfang bis Ende Sozialismus. Er hat keine Kraft mehr, das alte System abzubauen und es durch ein neues zu ersetzen. Dazu ist er auf ausländische Hilfe angewiesen. Um Ware-Geld-Beziehungen herzustellen, muß die innere Konvertibilität des Rubels hergestellt werden. Dies setzt ein riesiges Warenangebot auf dem Binnenmarkt voraus, das nur aus dem Westen kommen kann. Als Gegenleistung bietet sich die Sowjetunion als Energie- und Rohstoffbasis des Westens an. Was Gorbatschow vom Westen will, sind also keine neuen Kredite, sondern kapitalintensive Investitionen in der [Seite der Druckausg.: 23] UdSSR. Hilfe für den Aufbau eines Konsumgütermarktes (bei gleichzeitigem Festhalten an der Schwerindustrie als Grundlage des militärisch-industriellen Komplexes) sowie für die Eingliederung der Sowjetwirtschaft in die Weltwirtschaft. Das Dilemma Gorbatschows liegt darin, daß der Westen bereit ist, mit einer einheitlichen, überschaubaren und zentral geleiteten Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Gorbatschows Verhandlungen mit den "kleinen Sechs" (Estland, Lettland, Litauen, Armenien, Georgien und Moldowa) gestalten sich jedoch ebenso schwierig wie mit den "großen Sieben" auf dem Wirtschaftsgipfel. Würde sich die Zentrale nach jugoslawischem Vorbild zur Waffengewalt entschließen, würde Gorbatschow die ihm noch vom Westen entgegengebrachten Sympathien aufs Spiel setzen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001 |