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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 2(Fortsetzung)] Seit 1985 ist unübersehbar, daß der Zerfall der Strukturen, die sich in den 30er Jahren in der Sowjetunion herausgebildet haben, unaufhaltsam ist. Die Perestrojka (Umgestaltung) ist nichts anderes als der historische Versuch einer Strukturreform. Es ist der Versuch einer atomaren Supermacht, ihr mittelalterliches politisch-wirtschaftliches System abzuschaffen und den Übergang in das Zeitalter einer postindustriellen Zivilisation zu vollziehen. Charakteristisch für die Perestrojka ist, daß der Versuch, das System der politischen Institutionen zu reformieren, von oben, von der an der Macht befindlichen kommunistischen Partei mit Gorbatschow an der Spitze, und nicht von unten, d.h. von der zivilen Gesellschaft bzw. einer Revolution der Massen, initiiert wurde. Dabei stellt sich die Frage, ob die Staatspartei (KPdSU) in der Lage sein wird. die von ihr initiierte Umge- [Seite der Druckausg.: 3] staltung zu überleben, ob es zur Spaltung der KPdSU kommt und/oder künftig zwei Massenparteien bestehen werden. Das stalinistische System der 30er Jahre hat die bürgerlich-demokratischen und sozialistisch-sozialdemokratischen Keime der zivilen Gesellschaft, die sich um die Jahrhundertwende im zaristischen Rußland herausgebildet hatten, restlos vernichtet. Deshalb sind die zivile Gesellschaft und die Marktwirtschaft in der Sowjetunion von heute reine Ideologie. Sie sind keine Wirklichkeit, die den Rahmen der sowjetischen Gesellschaft von innen heraus sprengen könnte. Die Sowjetunion ist nicht aus inneren, sondern aus äußeren Gründen zur Strukturreform gezwungen worden. Die historischen Gründe, die in den 30er Jahren das sowjetische Macht- und Wirtschaftssystem eine Art Kapitalakkumulation ohne Sozialismus und Demokratie entstehen ließen, existieren heute nicht mehr. Es fehlt heute die äußere Bedrohung, die den inneren Zusammenhalt der Föderation und der Einparteiendiktatur garantiert. Auch die offizielle Ideologie, die das stalinistische System begründete, hat aufgehört zu existieren. Sie verlor ihre Legitimationskraft. Die unterschiedlichsten Ideen, alternativen Bewegungen und Zusammenschlüsse, die aus dem Nebeneinander verschiedener historischer Kulturen hervorgegangen waren und nun mehr offen aufeinander prallten, wetteiferten miteinander, das entstandene Vakuum auszufüllen. Es gelang weder der russischen noch der Nationalitäten-Bürokratie des Partei- und Staatsapparates der UdSSR, auf die Schwächen der Sowjetwirtschaft angemessen zu reagieren und die Bedeutung der Herausforderung in ihrem weltwirtschaftlichen Zusammenhang zu begreifen. Für sie geht es nicht um das wirtschaftliche Überleben, sondern lediglich um eine politisch-existenzielle Frage. Die Bürokratie paßt sich überall in der UdSSR der Perestrojka begrifflich an, sofern dies der Sicherung ihrer Positionen dient. Die Partei- und Staatsführung der UdSSR ist weder gewillt noch in der Lage, die Machtstrukturen in einer Weise umzugestalten, durch die direkte Formen einer örtlichen Demokratisierung gefördert werden. Die Entstehung demokratischer Verhältnisse in der UdSSR ist ohne die Herausbildung verschiedener Formen der lokalen Selbstverwaltung und damit auch einer zivilen Gesellschaft nicht möglich. Sie zu erreichen, setzt die radikale Abschaffung der bisherigen bürokratischen Strukturen und Elite-Interessen voraus. Dies ist bislang, mit Ausnahme von demagogischen Versuchen, nicht geschehen. Die populistischen Auftritte von Boris Jelzin gegen die bekannten Privilegien der [Seite der Druckausg.: 4] Parteibürokratie reichen allein nicht aus und bleiben wirkungslos. Es geht nicht nur um die Parteibürokratie. Vielmehr geht es um einen weit verzweigten Staats- und Verwaltungsapparat unterschiedlicher Ursprünge und Prägungen. Diese Riesenbürokratien leisten nicht nur Widerstand gegen Strukturveränderungen, sie üben auch unter sich eine Art innere Solidarität. Wie die Beispiele Ostdeutschland und Osteuropa zeigen, kommt diese innere Solidarität der Bürokratie dann zum Tragen, wenn das Mehrparteiensystem eingeführt wird. Angesichts der russischen Traditionen der Machtausübung ist jedoch zu bezweifeln, ob der Parlamentarismus auf der Grundlage des Mehrparteiensystems in der Sowjetunion, sollte er formell eingeführt werden, jemals funktionieren wird. Und wenn er nicht funktioniert, bleibt auch die freie Marktwirtschaft eine Utopie. Denn ein demokratischer Kapitalismus, wie im Westen, ist auch in der Sowjetunion ohne das Vorhandensein eines demokratischen nationalen Bürgertums ebenso unvorstellbar wie ein demokratischer Sozialismus ohne die Abschaffung der bürokratischen Strukturen stalinistischen Ursprungs. Die Möglichkeit der Herausbildung einer parlamentarischen Demokratie westeuropäischen Stils ist in der Sowjetunion im Gegensatz zu den ostmitteleuropäischen Ländern (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) auszuschließen. Bestenfalls die drei baltischen Staaten verfügen über Voraussetzungen, sich in Richtung westlicher Demokratien zu entwickeln. Für die Sowjetunion als Ganzes führt der Weg der Perestrojka eher zu einer formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur, einer Eliteherrschaft, die mit den Schlagworten des Übergangs zur Marktwirtschaft und der Rettung nationaler Werte und Ressourcen, den produzierenden Einheiten und Schichten das Eigentum raubt. Daß der Entwicklungsweg in der Sowjetunion in die soeben aufgezeichnete Richtung führt und mit großer Wahrscheinlichkeit in eine formale parlamentarisch bürokratische Diktatur mündet, ergibt sich aus der politischen Systemkrise, die gegenwärtig das Land erschüttert. Das wesentliche Merkmal der politischen Krise in der UdSSR ist der Zerfall der KPdSU, die bisher die alleinige Ordnungsmacht im Sowjetstaat darstellte. Dieser Zerfall vollzieht sich sowohl auf der Ebene der Unionsrepubliken als auch im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Reformkräften innerhalb der Partei, wobei sich diese beiden Hauptgruppierungen wiederum in verschiedene Strömungen und Inter- [Seite der Druckausg.: 5] essengruppen unterteilen lassen. Nach dem Verlust ihrer "führenden Rolle" ist die KPdSU ins politische Abseits geraten. Sie hat ihr Machtmonopol verloren. In fünf Unionsrepubliken (Estland, Lettland, Litauen, Armenien und Georgien) sowie in der Westukraine regieren die Kommunisten nicht mehr. Sie gerieten in die Opposition. In den drei baltischen Staaten kam es zur Spaltung in eine moskautreue und eine unabhängige kommunistische Partei. In anderen Unionsrepubliken erklärten die kommunistischen Parteien ihre Autonomie gegenüber der KPdSU-Zentrale in Moskau. Um ihre Machtposition zu behaupten, verband sich die lokale kommunistische Parteibürokratie vielerorts mit den nationalistischen Bewegungen und Volksfronten. Die KPdSU hat nicht nur die Kontrolle über die Sowjetgesellschaft verloren. Sie befindet sich auch in einem Auflösungsprozeß. Entscheidend ist dabei die Auflösung von der Basis her. 1990 gaben fast 3 Millionen der 19 Millionen Mitglieder ihre Parteibücher zurück. Weitere Millionen verhalten sich passiv, indem sie keine Beitragszahlungen leisten oder den Parteiversammlungen fernbleiben. In der Bevölkerung macht sich Antikommunismus breit. Sie widersetzt sich der Partei als Führungskraft und Autorität. Die Parteiorganisationen der KPdSU verlieren zunehmend die Kontrolle über Betriebe, Institutionen und kommunale Verwaltungen. In den Stadträten von Moskau. Leningrad und Kiew befinden sich die Kommunisten in der Minderheit. Zum gesunkenen Ansehen der Partei in der Öffentlichkeit kommt eine schwindende Finanzkraft aufgrund des Mitgliederrückgangs. In Republiken mit nichtkommunistischen Regierungen droht der Partei die Konfiszierung des Parteivermögens. Die Präsidialdekrete Gorbatschows zur "Unterbindung der Schändung von Denkmälern im Zusammenhang mit der Geschichte des Staates und der Verunglimpfung von Staatssymbolen" sowie zum "Schutz des Staats- und Parteieigentums" vom Oktober 1990 konnten die schleichende Entmachtung der Partei bislang nicht verhindern. Die Krise der KPdSU führte auch zur Krise der Ideologie, der Dogmen des Marxismus-Leninismus. Zwar hat Gorbatschow versucht, seine Perestrojka-Politik ideologisch zu begründen (>Prawda<, 26. November 1989), doch blieben seine Gedanken über die Erneuerung des Sozialismus ziemlich nebelhaft. Was sich bislang konkret herausgebildet hat, sind Begriffe wie "allgemeinmenschliche Werte" anstelle von kommunistischen Idealen sowie "globale Probleme der Gegenwart", die vornehmlich für die Außenwelt bestimmt sind. Da auch nach Ansicht Gorbatschows die Erneuerung des Sozialismus unter Führung der KPdSU im Rahmen eines Einparteiensystems kombiniert mit einer Art Meinungspluralismus, stattfinden soll, sind wesentliche Änderungen am ideologi- [Seite der Druckausg.: 6] schen Gerüst der Partei nicht zu erwarten, zumal die wieder erstarkten konservativen Kräfte in der KPdSU die völlige Abschaffung der Grundsätze des Marxismus-Leninismus ablehnen. Was heute neu ist beim Versuch, den Machtanspruch der KPdSU ideologisch zu begründen, sind die vermehrt positiven Einschätzungen der Feinde Lenins und der Oktoberrevolution, der Russisch-Orthodoxen Kirche und des Zaren Alexander II. Dadurch soll offenbar ein Bündnis der KPdSU mit großrussischen nationalistisch-konservativen Kräften zur Erhaltung der Macht vorbereitet werden. Gorbatschow oder Jelzin im Gewand des "guten" Zaren? Die Polarisierung in Konservative und Reformkräfte innerhalb der Partei begann bereits vor dem 28. Parteitag der KPdSU im Juli 1990. Die sogenannten Zentristen um Gorbatschow konnten keinen der beiden Flügel zufriedenstellen. Die Reformkräfte, die sich für die Umwandlung der KPdSU in eine parlamentarische Partei und die Einführung des Mehrparteiensystems einsetzten, bildeten im Januar 1990 die "Demokratische Plattform der KPdSU". Als Startschuß zur Gegenoffensive der Konservativen gilt der offene Brief der KPdSU (>Prawda<, 11. April 1990), der zugleich diese Hexenjagd gegen die Reformkräfte innerhalb der Partei einleitete. Teile der "Demokratischen Plattform", die sogenannten Radikalreformer, wurden aus der Partei ausgeschlossen (wie Wadim Lopatin oder Igor Tschubais) bzw. verließen freiwillig die Partei (wie Jurij Afanassjew oder Nikolaj Trawkin). Sie gründeten im November 1990 die "Republikanische Partei". Seitdem wird die KPdSU von den neu formierten konservativen Kräften beherrscht. Im ZK der KPdSU dominiert die sogenannte "Marxistische Plattform" mit Jegor Ugatschow im Hintergrund. In Rußland steht die mehrheitlich konservativ ausgerichtete neugegründete KP der RSFSR (mit Iwan Poloskow an der Spitze) der Bewegung "Demokratisches Rußland" um Boris Jelzin, in Moskau und Leningrad der konservative Parteiapparat (unter Führung von Jurij Prokofjew bzw. Boris Gidaspow), den nichtkommunistischen Bürgermeistern Gawril Popow bzw. Anatolij Sobtschak gegenüber. Die Ultra-Konservativen sammeln sich in der Allunionsgesellschaft "Jedinstwo. Für Leninismus und kommunistische Ideale" (mit Nina Andrejewa aus Leningrad an der Spitze), um eine "Bolschewistische Plattform" in der KPdSU zu bilden. Des weiteren entstanden neostalinistische "Initiativkomitees zur Nationalen Rettung", um die verlorenen Schaltstellen der Macht in den Unionsrepubliken, Stadt- und Gebietssowjets für die Partei zurückzuerobern. Der große Widerspruch in der jüngsten Entwicklung liegt darin, daß zwar einerseits der Zerfall der Partei durch die Bildung von Fraktionen, die Trennung zwischen Zentrum und Republiken und die Zersetzung der Basis voranschreitet, andererseits aber die [Seite der Druckausg.: 7] Parteibürokratie unangetastet bleibt. Sie ging sogar aus dem 28. Parteitag vom Juli 1990 gestärkt hervor. Dies ist auch ein Grund, weshalb die Partei nicht in der Lage ist, die entsprechenden Konsequenzen aus der Revision des Artikels 6 der Verfassung (über die führende Rolle der KPdSU) zu ziehen. Zwar wurde das Politbüro durch Reorganisation als oberstes kollektives Entscheidungsorgan entmachtet und dadurch die Position des Generalsekretärs Gorbatschow im Rahmen einer "Ein-Mann-Show" gestärkt, doch blieb das neue Zentralkomitee der KPdSU mehr als je zuvor ein Forum der Apparatschiks. Vor allem aber ist entscheidend, daß das eigentliche Machtzentrum der Partei, das Sekretariat und seine Abteilungen mit den Protagonisten der Breshnew-Ära (Falin, Wolskij, Portugalow u.a.) sowie der militärisch-industrielle Komplex nicht angetastet wurden. Indem Gorbatschow sich mit Figuren der alten Parteibürokratie und -hierarchie verband, die um jeden Preis an ihren Privilegien festhalten und vor jeder Veränderung zurückschrecken, wurde er im In- und Ausland unglaubwürdig im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit seiner Absichten, essentielle politische Reformen anzustreben. Um echte politische Reformen durchführen zu können, hätte Gorbatschow auf den Posten des Generalsekretärs der KPdSU verzichten müssen. Indem er dies nicht tat, wurde klar, daß er in die Fänge der konservativen Bürokratie des zentralen Parteiapparates geraten ist und somit keine politischen Reformen in Richtung parlamentarische Demokratie anstrebt, sondern vielmehr nach dem Scheitern der ersten eine zweite Auflage des Sozialismus vorbereitet. Von einer Erneuerung der Partei oder gar des Sozialismus kann daher keine Rede sein, denn dies würde den Anfang vom Ende der Parteibürokratie bedeuten. Auch im Sinne der Prinzipien eines Rechtsstaates hätte Gorbatschow auf seinen Posten als Generalsekretär der KPdSU verzichten müssen. Es gehört zu den demokratischen Gepflogenheiten, daß Staatsoberhäupter (Präsidenten oder Monarchen) nicht parteigebunden, sondern für alle Bürger da sind. Deshalb legen Staatspräsidenten während ihrer Amtszeit ihre Parteiämter nieder und lassen ihre Parteimitgliedschaft ruhen, wie dies inzwischen sogar in Osteuropa, von Polen bis Albanien, üblich ist. Gorbatschow hat dies nicht getan. Er ist demnach nicht für alle Bürger, sondern nur für die Kommunisten da. Er ist, wie Breschnew, Staats- und Parteichef in einer Person geblieben. An den alten Grundstrukturen kommunistischer Machtausübung wurde damit nicht gerüttelt. Der "humane demokratische Sozialismus", den die KPdSU unter Führung von Gorbatschow programmatisch verkündet, ist eine leere Worthülse. Dieser Slogan diskreditiert zugleich die Sozialdemokratie in aller Welt. Warum? Die KPdSU hat es abgelehnt, [Seite der Druckausg.: 8] sich in eine parlamentarische Partei umzuwandeln, den Posten eines Parteivorsitzenden und ein Präsidium zu schaffen. Sie bleibt weiterhin eine Avantgarde-Partei, die "herrschende Kraft" im Lande. Sie ist nicht bereit, auf den "demokratischen Zentralismus" und die Parteikomitees in den Betrieben und Streitkräften zu verzichten. Sie hält laut ZK-Beschluß (>TASS<, 29. April 1991) an der "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" sowie dem Rätesystem fest und ruft zum Kampf gegen "antisozialistische Kräfte" auf, die die Gesellschaftsordnung verändern und den sozialistischen Staat zerstören wollen. Die KPdSU strebt keine Marktwirtschaft an, sondern lediglich den "Übergang zu Marktbeziehungen" im Rahmen der "sozialistischen Wahl". Sie lehnt die Überführung von Grund und Boden in Privateigentum ab und gibt den "kollektiven Eigentumsformen" Priorität (ZK-Beschluß vom 9. Oktober 1990 nach >TASS<, 14. Oktober 1990). Der wieder erstarkten Parteibürokratie ist es gelungen, ihre Machtpositionen im zentralen Staats-, Verwaltungs- und Wirtschaftsapparat sowie in der Armee und anderen bewaffneten Organen nicht nur zu behaupten, sondern auch weiter auszubauen. Die erhoffte politische Wende mit demokratischen Reformen ist nicht eingetreten. Der konservative Parteiapparat hat sich nicht nur konsolidiert, er sucht auch nach Wegen, sich der neuen Lage anzupassen. Dazu gehören die Schaffung neuer Parteikomitees in der Armee, im KGB und bei den Truppen des Innenministeriums sowie die zunehmende kommerzielle Tätigkeit der KPdSU. Um Parteigelder zu retten und das Parteivermögen von Staatseigentum abzutrennen, werden Staatsbetriebe in Konzerne oder Joint Ven-tures umgewandelt, an deren Spitze Parteibonzen stehen eine bereits von den Staatsparteien Osteuropas und der früheren DDR praktizierte Methode. Zu den Ursachen der politischen Krise gehört der mißlungene Versuch Gorbatschows, die Machtkonzentration von der Partei in den staatlichen Bereich zu verlagern. Den Auftakt bildete die Einführung eines irrationalen Zweistufensystems der Volksvertretung, dem Kongreß der Volksdeputierten und den Obersten Sowjet. Die teilweise freien Wahlen zum neuen Kongreß der Volksdeputierten am 26. März 1989 verliefen jedoch nicht im Sinne der Parteinomenklatur. Mehrere hohe Parteifunktionäre fielen durch. In den Entwürfen zum neuen Unionsvertrag und zur neuen Verfassung ist daher die Institution des Kongresses der Volksdeputierten nicht mehr vorgesehen. Im Kongreß der Volksdeputierten war nämlich die erste ernstzunehmende Opposition entstanden, die "Interregionale Gruppe der Volksdeputierten", die Reformkräfte aller Schattierung vereinigte. [Seite der Druckausg.: 9] Übrig bleibt der Oberste Sowjet, der heute nicht in der Lage ist, eine parlamentarische Kontrolle über die Exekutive im Sinne eines Rechtsstaates auszuüben. Der Oberste Sowjet (Vorsitzender Anatolij Lukjanow) wird von orthodox-konservativen Kräften beherrscht. Tonangebend ist die Abgeordnetengruppe "Sojus" unter Führung von Blo-chin, Komarow. Petruschenko, Kogan und des "schwarzen Obersten" Alksnis, die vor Jahren noch gemäßigt konservativ um die Gunst Gorbatschows gebuhlt hatte. Inzwischen hat sich "Sojus" zu einer aggressiven, ultrakonservativen Bewegung mit der Gruppe "Rußland" (Rossija) als Ablegerin im Parlament der RSFSR entwickelt. Zu ihren Forderungen gehören der Rücktritt Gorbatschows, die Ausrufung des Ausnahmezustandes, die Schaffung eines Einheitsstaates und einer Diktatur der Militärs (nach dem chilenischen Modell Pinochets). Der Oberste Sowjet und der Kongreß der Volksdeputierten stimmten im November/Dezember 1990 dem Ausbau der Präsidialmacht Gorbatschows zu. Man schuf das Amt eines Vizepräsidenten, einen Sicherheitsrat und ein Ministerkabinett, das dem Präsidenten direkt unterstellt ist. Präsident Gorbatschow wurde mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Seine gesetzlich gestützte Machtfülle geht weit über die Kompetenzen des früheren Diktators Stalin hinaus. Der Oberste Sowjet verzichtete darauf, die Dekrete des Präsidenten zu bestätigen. Sie erlangen damit unmittelbare Gesetzeskraft, ohne ein parlamentarisches Verfahren durchlaufen zu müssen. Damit wurde die Exekutivgewalt einseitig gestärkt. Der Oberste Sowjet hat somit auch im neuen Präsidialsystem keine Kontrollfunktionen. Die Legislative und Exekutive sind in den Händen Gorbatschows konzentriert. Unter diesen Gegebenheiten kann in der Sowjetunion von der Herausbildung eines Rechtsstaates, einer parlamentarischen Demokratie, geschweige denn eines demokratischen Bewußtseins als erklärtes Ziel der Perestrojka Gorbatschows, keine Rede sein. Gorbatschow hat hier vielmehr die Grundlagen für die Entstehung einer formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur gelegt. Seitdem regiert Präsident Gorbatschow mit einer Flut von Präsidialdekreten. Er verfaßt die Verordnungen und führt sie selbst aus sofern er Mittel und Kraft dazu hat. Dabei wird oft die Tatsache übersehen, daß Gorbatschow, der sich im Westen als Demokrat gibt, mit seinen Dekreten immer häufiger gegen die sowjetische Verfassung und geltenden Rechtsnormen verstößt und sich über Beschlüsse von Kommunalverwaltungen und Republikparlamenten hinwegsetzt. Zu den jüngsten Gesetzesverstößen Gorbatschows zählten z.B. die Ernennung des Polizeichefs von Moskau sowie die direkte Unterstellung der Moskauer Polizei unter die Zentrale. [Seite der Druckausg.: 10] Als feste Größe ging aus dem bisherigen sogenannten Reformkurs Gorbatschows an den nur noch westliche Staatsmänner glauben das Monstrum eines Staats- und Regierungsapparates hervor. Die nicht angetastete riesige zentrale Verwaltungsbürokratie mit rund 20 Millionen Apparatschiks ist der Garant dafür, daß politische und wirtschaftliche Reformen im Sinne einer Systemänderung, die den Apparat zu einem großen Teil überflüssig machen würden, nicht stattfindet. Schon der frühere Ministerpräsident Ryschkow wußte zu verhindern, daß die zahlreichen überflüssigen Ministerien von einem Tag auf den anderen aufgelöst wurden. So ist an der neuen Regierung Gorbatschow lediglich der Name neu: Ministerkabinett. Ansonsten unterscheidet sie sich nicht vom alten Ministerrat. Die Ministerien, Behörden und Staatskomitees bestehen in vollem Umfang weiter. Sie wurden lediglich umgegliedert oder umbenannt. Das Ministerkabinett hat im Vergleich zum alten Ministerrat weder eine neue Struktur noch eine neue Konzeption. Auch die Kompetenzfragen blieben ungeklärt. Dagegen wurden das alte administrative Kommandosystem und die hierarchische Ordnung beibehalten. Am System der staatlichen Leitung hat sich im wesentlichen ebensowenig geändert wie an der personellen Zusammensetzung des Ministerkabinetts. Die Minister wurden fast alle vom vorausgegangenen erfolglosen Ministerrat übernommen. Die meisten stammen noch aus der Nomenklatur der Breschnew-Ära. Personen, die in gewissem Maße die Fortsetzung der Perestrojka hätten garantieren können, verschwanden allmählich aus der Umgebung Gorbatschows (Schatalin, Petrakow, Abalkin, Schewardnadze, Ja-kowljew), sei es durch Auflösung des Präsidialrates oder Ablösung (z.B. Ersetzung Bakatins durch Pugo als Innenminister). Die orthodox-konservative Regierungs- und Verwaltungsbürokratie konnte dagegen ihre Machtpositionen festigen. Nach der Schwächung der Strukturen der Parteibürokratie rückte der militärisch-industrielle Komplex, der nach wie vor 80 % der Schwerindustrie beherrscht, im Staatsund Regierungsapparat in den Vordergrund und verstärkte seinen Einfluß auf die politischen Entscheidungen. Folglich nahm auch der Einfluß des KGB und der Militärs auf die Politik Präsident Gorbatschows zu. Die Militarisierung des Systems kam in den Präsidialdekreten über die "Gründung eines Komitees zur Koordinierung der Tätigkeit der Rechtsschutzorgane" und das "Zusammenwirken von Miliz und Streitkräften der UdSSR" vom 29. Januar 1991 zum Ausdruck. Die darin enthaltenen nahezu unbeschränkten Vollmachten für das KGB laufen allen rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Prinzipien zuwider. [Seite der Druckausg.: 11] Daß die konservative Bürokratie in den zentralen Machtorganen kein Interesse an Demokratisierung hat, zeigt die Situation in den kommunalen Körperschaften. Präsident Gorbatschow hält weiterhin am bisherigen Räte-System (Sowjets) fest, das eine echte kommunale Selbstverwaltung nicht zuläßt. Ohne sie kann sich jedoch in den Kommunen kein Bürgertum herausbilden. Ohne Bürgertum können wiederum weder demokratische noch marktwirtschaftliche Verhältnisse entstehen. Das Räte-System funktionierte bislang, indem die Partei in den Sowjets die reale Macht ausübt. Zwar ist heute in zahlreichen kommunalen Körperschaften nicht die KPdSU, sondern die Opposition in der Mehrheit (Moskau, Leningrad, Swerdlowsk, West-Ukraine u.a.), doch konnte sich die letztere bislang nicht entfalten, weil es noch kein Gesetz über kommunale Selbstverwaltung gab. Ein solches Gesetz wurde erst jetzt in der RSFSR verabschiedet. Im übrigen hat es die Parteibürokratie geschafft, sich problemlos in die Verwaltungsbürokratie des Räte-Systems hinüberzuretten. Vor allem in den mittelasiatischen Republiken gelang den Nutznießern des Einparteiensystems der Sprung in die Räte-Strukturen. In Tadschikistan, Turkmenien, Usbekistan aber auch in Aserbaidschan wurden die bisherigen 1. Sekretäre der Gebiets-, Kreis- und Stadtkomitees der KPdSU plötzlich Vorsitzende von Gebiets-, Kreis- und Stadtsowjets. Ein weiterer Ausdruck der politischen Krise in der Sowjetunion ist der erbitterte Machtkampf in den Führungsgremien der Partei und des Staates. Allerdings handelt es sich nicht ausschließlich um einen Machtkampf zwischen Gorbatschow und Jelzin, wie dies in westlichen Medien unzuläßig vereinfacht dargestellt wird. Die Zukunft der Sowjetunion hängt nicht in erster Linie von den Praktiken und dem taktischen Geplänkel einzelner Personen ab, selbst wenn es sich dabei um markante Politiker handelt. Die wahre Frontlinie ist nicht zwischen Gorbatschow und Jelzin zu ziehen, sondern zwischen der alten und neuen bürokratischen Elite einerseits und den Radikalreformern andererseits. Zweifellos halten heute alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der UdSSR die Person Gorbatschows für überflüssig. Diese Kräfte wenden sich jedoch nicht gegen einen aktiven, sondern gegen einen unbeweglichen und zu spät reagierenden Staatsführer. Noch vor kurzem war Gorbatschow als Zentrist das Zünglein an der Waage und das Sicherheitsventil. Er garantierte eine relative Ruhe bei der Umgestaltung. Heute steht er jedermann im Wege, sowohl den Konservativen als auch den Reformkräften, aber auch den Republiken, die aus der Union austreten wollen. Die Reformkräfte wurden Gorbatschows Gegner, die Konservativen seine Feinde. Weil er nicht [Seite der Druckausg.: 12] zwischen beiden gewählt hatte, sondern bis zuletzt im Zentrum bleiben wollte. Hätte er aber eine Wahl gehabt? Vielleicht doch! Wenn er es mit den Reformen ernst gemeint hätte, hätte Gorbatschow sich zugunsten der Reformkräfte in der Partei entscheiden müssen. Notfalls hätte er, wie Jelzin, die Partei verlassen müssen, zumal er das Amt des Staatspräsidenten bekleidet. Gorbatschow hat dies, vielleicht um eine Spaltung der Partei zu verhindern, nicht getan. Er beharrte auf einer zentristischen Position, die es heute nicht mehr gibt. Es fehlen sowohl die Schichten und Interessengruppen, auf die sich eine zentralistische Position stützen könnte, als auch die einfachsten Voraussetzungen für einen politischen Kompromiß zwischen Rechten und Linken. So haben die Radikalreformer die Partei verlassen, während die sogenannten Zentristen und Gemäßigten zusammen mit der großen schweigenden Mehrheit in das Lager der Konservativen abgedriftet sind. Nach dem Sieg von Boris Jelzin bei den Präsidentschaftswahlen in Rußland am 12. Juni 1991 ist seine Person zweifellos neben Gorbatschow zu einem bestimmenden Faktor für die Zukunft der gesamten Sowjetunion geworden. Oberflächlich gesehen, scheint es, als ob Gorbatschows Schicksal künftig von den politischen Entscheidungen Jelzins abhängen würde. Schließlich war es Jelzin, der Gorbatschow zu Hilfe eilte und bewirkte, daß die Streiks der Bergarbeiter beendet wurden. Er war es auch, der dem neuen Unionsvertrag zustimmte, ohne den Gorbatschow nur über den Kreml und die Stadt Moskau hätte herrschen können. Doch ist die .Entstehung einer Doppelherrschaft GorbatschowJelzin bzw. zweier Machtzentren in der Sowjetunion vorerst nicht zu erwarten. Nicht, solange die unteilbare Armee, das KGB, der militärisch-industrielle Komplex und nicht zuletzt der konservative Parteiapparat hinter Gorbatschow stehen und seinem Willen gehorchen. Diese Realität scheint auch Boris Jelzin erkannt zu haben. Der aus der KPdSU ausgetretene Jelzin wurde von der Bewegung "Demokratisches Rußland", einem Konglomerat der Reformkräfte, als Präsidentschaftskandidat aufgestellt. Diese Reformkräfte bildeten jedoch eine schwache gesellschaftliche Basis, um Jelzins Wahlsieg abzusichern. Er wählte deshalb den nationalistisch-kommunistischen "Afghanistan-Veteran Alexander Ruzkoj, der im russischen Parlament die Fraktion "Kommunisten für Demokratie" anführt, zu seinem Vizepräsidenten. Jelzin tat das gleiche wie zuvor Gorbatschow, als dieser, um seine gesellschaftliche Basis zu stärken, Gennadij Janajew, den bewährten Mann der konservativen Parteibürokratie und des KGB, zum Vizepräsidenten der UdSSR benannte. [Seite der Druckausg.: 13] Die Entscheidung Jelzins erscheint folgerichtig. Schließlich konnte er auf diese Weise 44,5 Millionen der 106,5 Millionen Wahlberechtigten Rußlands für sich gewinnen. Es zeigte sich, daß Millionen von Bürgern Rußlands in ihm, wie vor fünf Jahren in der Person Gorbatschows, den kommenden "guten" Zaren sahen. Andererseits nahm Jelzin durch seine Entscheidungen, den Bergarbeiterstreik zu stoppen, dem neuen Unionsvertrag zuzustimmen und einen kommunistischen Vizepräsidenten zu ernennen, in Kauf, daß die Reformkräfte ihm nicht mehr vertrauen und sich von ihm abwenden. So wird sich um den neuen Präsidenten Rußlands eine neue bürokratische Elite herausbilden. Und ein Kompromiß zwischen der neuen bürokratischen Elite um Jelzin und der alten bürokratischen Elite um Gorbatschow könnte zur Grundlage für die Entstehung einer neuen formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur in der Sowjetunion werden. Jelzin hat Gorbatschow bereits im November 1990 die Bildung einer Koalitionsregierung der nationalen Einheit als "völlig neues System der Staatsmacht" vorgeschlagen (>TASS<, 13. November 1990). Heute haben Gorbatschow und Jelzin noch eine letzte Chance, gemeinsam eine Systemänderung herbeizuführen, vor allem, wenn sie sich auf Leute wie die Bürgermeister von Moskau und Leningrad stützen. Die Wahlergebnisse in Rußland haben gezeigt, daß das Volk etwas Neues will. Entscheidend ist dabei, ob es gelingt, die Macht der konservativen Parteibürokratie zu brechen. Die gemäßigten Mitte-Links-Reformer in der Fraktion "Kommunisten für Demokratie" um Ruzkoj. Schewardnadze, Bakatin und Je-kowljew sammeln sich schon mit dem Ziel, im Herbst 1991 eine neue Partei zu gründen. Ob es zu einer Spaltung der KPdSU kommt, wird die Zukunft zeigen. Die Ultra-Konservativen um Nina Andrejewa haben am 15. Juni 1991 bereits die Gründung einer "Leninistischen Arbeiterpartei" verkündet. Unklar ist noch, ob es gelingt, Schewardnadzes "Bewegung für Demokratische Reformen" in eine politische Partei umzuwandeln. Diese neue Organisation hat nur einen Sinn, wenn sie als Partei der Systemänderung auftritt. Kommt es nicht zur Spaltung der KPdSU, d.h. stellt sich die Bewegung nicht als Partei frontal gegen die KPdSU, so ist zu fragen, welchen Sinn die Bewegung der ehemaligen Politbüromitglieder Schewardnadze und Jakowljew, eigentlich hat, was sie überhaupt Neues bringt. Ein weiterer Grund, der die Entstehung einer formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur in der Sowjetunion in den Bereich des Möglichen rückt, liegt in der Schwäche der demokratischen Opposition. Ihr fehlt die gesellschaftliche Massenbasis. Die zahl- [Seite der Druckausg.: 14] reich entstandenen politischen Parteien und Gruppen haben kaum Mitglieder. Ihr Programm für eine Systemänderung, wenn sie überhaupt eines besitzen, ist konfus und unklar. Schon aus diesem Grunde ist der Spielraum für eine demokratische Alternative in der Sowjetunion liberale Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung sehr eng. Hinzu kommt die noch unterentwickelte politische Kultur im Lande sowie die Tatsache, daß die KPdSU trotz ihrer Schwächung die bedeutendste politische Kraft darstellt. Zwar ist nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die "gesellschaftlichen Vereinigungen" die Schaffung eines Mehrparteiensystems in der Sowjetunion prinzipiell möglich, doch wurde bisher auf Unionsebene neben der KPdSU nur eine Partei, die vermutlich vom KGB lancierte "Liberal-Demokratische Partei", offiziell zugelassen. Sie ist jedoch weder liberal noch demokratisch, sondern, wie das demagogische Auftreten ihres Anführers Schirinowskij bei den Präsidentenwahlen Rußlands gezeigt hat, eher neostalinistisch. Es ist auch schwer, zwischen den zahlreichen neuen politischen Gruppierungen von den Konservativen bis zu den Radikaldemokraten, klare Frontlinien zu ziehen. Obwohl sich in der Parteienlandschaft Rußlands bereits wie im 19. Jahrhundert vier Hauptströmungen herausgebildet haben sozialistisch-sozialdemokratisch, westlich liberal, nationalistisch und russisch orthodox-monarchistisch ist die Demokratisierung der Verhältnisse in der Sowjetunion nur auf einem spezifischen Weg möglich. Zu einer Konsolidierung der demokratischen Kräfte, die sich in der Bewegung "Demokratisches Rußland" und der "Interregionalen Gruppe der Volksdeputierten" zusammengeschlossen haben, kam es bisher nicht. Persönliche Ambitionen der hier vertretenen Parteien und Gruppen, Fraktionskämpfe und Abspaltungen verhinderten bisher die Ausarbeitung eines schlagkräftigen Aktionsprogramms. Es wurde sowohl versäumt, die schweigende Mehrheit zu gewinnen als auch die erforderlichen Bindungen zur Arbeiterschaft und den nationalen Bewegungen der Republiken herzustellen. Die demokratischen Bewegungen der mittelasiatischen Republiken und Kasachstans trafen sich im Mai 1991 gesondert in Duschanbe. Die schwachen demokratischen Kräfte stoßen auch auf objektive Schwierigkeiten, nämlich auf die Tatsache, daß sie weiterhin im Rahmen totalitärer Strukturen wirken müssen. Sie sind den ständigen Angriffen der KPdSU ausgesetzt, die heute als Verteidigerin der Demokratie und Stabilität auftritt. Sie wirft den Reformkräften vor, das Land in eine Katastrophe geführt zu haben, obwohl die KPdSU es war, die 70 Jahre lang als Staatspartei für die Entwicklung im Lande verantwortlich war. Auch Präsident Gor- [Seite der Druckausg.: 15] batschow ließ es sich bei seinen Auftritten nicht nehmen, die demokratischen Kräfte als "sogenannte Demokraten" oder "Pseudodemokraten" zu verhöhnen und zu diffamieren. Sollte es gelingen, neben der KPdSU eine zweite Massenpartei auf Unionsebene zu schaffen, auf der Grundlage von Kompromissen zwischen der Sammelbewegung "Demokratisches Rußland" und den gemäßigten Reformkräften in der KPdSU (Fraktion "Kommunisten für Demokratie"), so könnte diese neue "Vereinigte Demokratische Partei" Gorbatschow als neue Massenbasis dienen. Ob Gorbatschow schließlich die Fronten wechselt oder nicht, ist letztlich für den Sachverhalt unerheblich. In jedem Fall handelt es sich um einen Ansatz zur Neuverteilung der Macht zwischen der alten und neuen bürokratischen Elite, um die Entstehung eines neuen Herrschaftssystems, einer formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur. Zunächst sieht es allerdings so aus, als ob Jelzins Pakt mit Gorbatschow die demokratische Opposition eher geschwächt hat. Zwar liegt es im Bereich des Möglichen, daß sich Gorbatschow, gestützt auf die "Bewegung für Demokratische Reformen", und Jelzin, gestützt auf die "Vereinigte Demokratische Partei", auf eine gemeinsame Machtausübung einigen. Ebenso ist vorstellbar, daß Gorbatschow und/oder Jelzin an der Spitze einer formal parlamentarischen bürokratischen Diktatur einer demokratischen Opposition, der "Vereinigten Demokratischen Partei" von Trawkin und Schata-lin, gegenüberstehen werden. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001 |