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Herausforderungen und Chancen deutscher Friedenspolitik in der 90er Jahren / Eckhard Lübkemeier. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1991. - 28 S. = 53 Kb, Text . - (Studie der Abteilung Außenpolitikforschung im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung ; 49). - ISBN 3-86077-013-6
Electronic ed.: Bonn: FES Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT








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Friedenspolitik in einer veränderten Welt

Deutsche Außenpolitik steht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vor großen Herausforderungen und Chancen. Das Wesen dieses Konflikts war ein macht- und ordnungspolitischer Gegensatz zwischen westlicher Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und kommunistischer Diktatur und Kommandowirtschaft andererseits. Er löste den Kalten Krieg aus und führte zur Errichtung des Eisernen Vorhangs mitten durch Deutschland und Europa.

Die Ost-West-Konfrontation stand an der Wiege der Bundesrepublik Deutschland und bestimmte jahrzehntelang maßgeblich ihre Politik. Inzwischen haben die Deutschen ihre Einheit in Freiheit erlangt, der Kommunismus ist zusammengebrochen und die Prinzipien der Demokratie und sozialen Marktwirtschaft sind zu Leitbildern für die Entwicklung in ganz Europa geworden.

Auch in Europa ist jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges der ewige Frieden noch nicht erreicht. Frieden wird erst möglich, wenn menschliche Grundbedürfnisse befriedigt und Grundrechte gewährleistet werden, wenn individuelles und kollektives Handeln in dem Bewußtsein geschieht, daß man zum gemeinsamen Überleben aufeinander und auf eine intakte Umwelt angewiesen ist.

Dieser Friedensbegriff darf nicht mit Konfliktfreiheit verwechselt werden. Interessengegensätze wird es immer geben, schon weil unbegrenzte menschliche Bedürfnisse auf begrenzte Mittel treffen. Wirklicher Frieden herrscht deshalb bereits dann, aber auch erst dann, wenn Konflikte gewaltlos und mit der Bereitschaft zum Kompromiß ausgetragen werden. In einer solchen Situation sind militärische Vorkehrungen gegeneinander überflüssig geworden. Soweit es sie noch gibt, dienen sie ausschließlich dazu, die Mitglieder einer Friedensgemeinschaft nicht gegen Bedrohungen aus ihrer Mitte, sondern durch Dritte zu schützen.

Außenpolitik am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts muß Friedenspolitik mit dem Doppelziel sein, Frieden zu erhalten und Frieden zu schaffen. Beide Ziele müssen gleichzeitig und gleichrangig verfolgt werden, weil in einer zusammenrückenden Welt ein "Meer von Not und Gewalt" eine ständige Gefahr für die "Inseln des Friedens" darstellt.

Die Europäische Gemeinschaft ist ebenso ein Beispiel für eine bestehende Friedensgemeinschaft wie das Verhältnis der EG-Mitglieder und der nordamerikanischen Staaten zueinander. Krieg oder die Androhung von Gewalt zwischen ihnen sind undenkbar geworden. Es gilt, diese historische Leistung zu bewahren und aus ihr zu lernen, wie mit den Herausforderungen umzugehen ist, die sich heute stellen.

Viele dieser Herausforderungen sind Entwicklungen, die nicht auf das Ende des Ost-West-Konflikts zurückgehen. Dazu gehört z. B. die Bedrohung der Umwelt durch die Lebens- und Produktionsweise in den reichen Industrieländern. Andere Herausforderungen wie die Unterstützung des Reformprozesses der post-kommu-nistischen Demokratien hängen dagegen unmittelbar mit der Aufhebung der Teilung Europas zusammen.

Neben diesen neuen Aufgaben gibt es drei weitere Gründe für den neuartigen Charakter der Herausforderungen. Der erste besteht in der Kumulation von Krisen und Problemen mit grenzüberschreitenden Wirkungen, gekoppelt mit der Geschwindigkeit, in der sich gewaltige Veränderungen (z.B. Verdoppelung des Wissens alle 13-15 Jahre) vollziehen.

Zweitens liegt es heute in der Macht der Menschheit, sich selbst zu zerstören. Die Atombombe symbolisiert dies seit 1945 wie keine andere menschliche Erfindung. Die Gefahr, daß das atomare Damokles-Schwert fällt, ist nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts geringer denn je. Gewachsen ist indes die Gefahr einer Überforderung der Ökosphäre mit der Folge irreversibler Schädigungen der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz. Die Welt wird enger, komplexer und verwundbarer, aber öffentliches Bewußtsein und politisches Handeln haben mit dem Tempo dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten.

Das Neuartige der heutige Lage liegt drittens darin, daß Weltpolitik nicht mehr durch den Ost-West-Antagonismus beherrscht wird. Jetzt kann den neuen und alten Herausforderungen in einer Umgebung begegnet werden, die nicht mehr durch die bipolare Erstarrung geprägt wird.

Zu Resignation besteht deshalb kein Anlaß. Die Probleme, Risiken und Gefährdungen dürfen nicht unterschätzt werden, aber das Ende des Kalten Krieges bringt auch neue Möglichkeiten und Mittel ihrer Bewältigung. Friedenspolitik kann diese Chancen offensiv für einen menschenwürdigen Fortschritt nutzen.

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Friedenspolitik und Sicherheitspolitik

Auf internationaler Ebene entsteht ein Sicherheitsproblem dann, wenn sich Staaten Gefahren für ihre Selbstverwirklichung ausgesetzt sehen. Diese Gefahren haben eine objektive und eine subjektive Komponente, d.h., es kommt nicht nur darauf an, daß sie tatsächlich oder potentiell existieren, sondern ob und wie sie wahrgenommen werden.

Zudem müssen die Gefahren massiv in dem Sinne sein, daß vitale Interessen und Bedürfnisse auf dem Spiel stehen. Was vitale Interessen und Bedürfnisse sind, in welcher Hierarchie sie zueinander stehen und mit welchen Mitteln den tatsächlichen oder potentiellen Gefahren begegnet werden sollte, kann politisch umstritten sein. Unstrittig dürfte hingegen sein, daß Sicherheitspolitik sich nicht um marginale Gefährdungen zu kümmern hat.

Sicherheitspolitik wird also erst notwendig, wenn "die Freiheit der eigenen Entwicklung" (Löwenthal) bedroht ist oder erscheint. Umgekehrt: Wenn eine solche Gefährdung nicht vorliegt, gibt es auch kein Sicherheitsproblem.

Sicherheitsprobleme haben auf der Ebene des internationalen Systems drei Hauptquellen:

- die anarchische Situation des internationalen Systems. Zwar gibt es auf internationaler Ebene wie im innerstaatlichen Bereich eine Ungewißheit über das zukünftige Verhalten anderer Akteure, der entscheidende Unterschied aber besteht darin, daß es erstens auf der internationalen Ebene keine, wie in modernen demokratischen Verfassungsstaaten üblich, mit autoritativer Normsetzungs- und Normdurchsetzungsfähigkeit ausgestattete Instanz gibt, und daß zweitens zwischen den Akteuren kein vergleichbarer Konsens über Werte und Normen vorliegt.

- unmittelbare, nicht in der Struktur des internationalen Systems liegende massive Macht- und Ordnungskonflikte;

- undemokratische Herrschafts- und Gesellschaftssysteme, die zwischenstaatliche Vertrauensbildung behindern.

Sicherheitspolitische Strategien dienen der Bewältigung von Sicherheitsproblemen. Sie können kooperativ oder konfrontativ sein oder eine Mischung beider Element aufweisen. Kooperativ sind Strategien, die Sicherheit als ein gemeinsames Gut ansehen und auf den anderen als unerläßlichen Partner setzen. Konfrontativ sind Strategien, die Sicherheit als ein Nullsummenspiel begreifen und im anderen in erster Linie einen Gegner sehen, dessen Sicherheit auf Kosten der eigenen geht.

Welche Strategie gewählt wird, ist nicht nur eine Frage des politischen Willens. Wenn eine oder beide Seite in konfrontativer Absicht versuchen, die Sicherheit der anderen zu untergraben, provoziert das konfrontative Reaktionen. Andererseits lösen konfrontative Strategien keine Sicherheitsprobleme, sondern frieren sie bestenfalls ein - es sei denn, die Kapitulation des anderen wird als "Lösung" angesehen.

Welche Strategie aber auch immer verfolgt wird - Sicherheitspolitik geht davon aus, daß die anderen Akteure eine zumindest potentielle Quelle der Gefährdung eigener Interessen und Bedürfnisse darstellen. Täte sie dies nicht, gäbe es kein politisches Sicherheitsproblem, d.h. eine durch das Verhalten anderer hervorgerufene Gefahr für eigenes Leben oder Wohlergehen.

Sicherheitspolitik hat deshalb auch dann, wenn sie kooperativ angelegt ist, ein Moment des Sich-Schützens vor anderen. Das verdeutlichen Genese und Inhalt des Begriffes "Gemeinsame Sicherheit". Er wurde (u.a. von der Palme–Kommission) geprägt in der Zeit des Kalten Krieges und sollte zum Ausdruck bringen, daß die Gewißheit der gemeinsamen Vernichtung in einem Krieg ein gemeinsames Interesse an seiner Verhinderung begründet und zu sicherheitspolitischer Kooperation zwingt. Voraussetzung war jedoch der Ost–West-Konflikt als die eigentliche Quelle wechselseitiger Vernichtungsdrohungen und damit der Notwendigkeit der Politik gemeinsamer Sicherheit.

Sicherheitspolitik als Rückversicherung vor anderen wurde in der Zeit der Ost—West-Konfrontation vorwiegend militärisch verstanden und instrumentiert. Heute ist es üblich geworden, den Sicherheitsbegriff und damit das Aufgabenfeld von Sicherheitspolitik um politische, wirtschaftliche, ökologische und soziale Elemente zu erweitern.

Diese Erweiterung könnte einerseits dazu führen, den Sicherheitsbegriff zu entmilitarisieren, sie könnte aber auch das Gegenteil bewirken. Wenn ökonomische und ökologische Herausforderungen und Gefährdungen als Sicherheitsprobleme definiert werden, bekommen sie zumindest potentiell auch eine militärische Dimension. Denn im In- und Ausland gilt traditionell das Militär als das klassische sicherheitspolitische Instrument zum Schutz vor Bedrohungen durch andere Akteure.

Aber selbst wenn es gelänge, den Sicherheitsbegriff zu erweitern und Sicherheitspolitik zu entmilitarisieren, bleibt der Nutzen zweifelhaft. Damit verwischen sich die Grenzen zwischen Sicherheits- und Friedenspolitik in einem Maße, daß beide weitgehend identisch werden. Wenn das jedoch so ist, sollte man nicht den Umweg über eine Neudefinition von Sicherheitspolitik gehen, sondern gleich dazu übergehen, den Begriff Friedenspolitik als oberstes Leitprinzip zu wählen. Friedenspolitik trägt nicht die militärische Hypothek von Sicherheitspolitik und bringt unmißverständlicher zum Ausdruck, daß die Bewältigung der Herausforderungen und die Wahrnehmung der Chancen in der Welt nach dem Kalten Krieg in erster Linie nicht-militärische und partnerschaftliche Ansätze und Strategien erfordern.

Wunsch und Wirklichkeit dürfen allerdings nicht verwechselt werden. Nicht alle Konflikte lassen sich einvernehmlich regeln, und verantwortliche Politik muß nach wie vor davon ausgehen, daß die Bundesrepublik Deutschland auch zukünftig militärischen Bedrohungen ausgesetzt sein könnte. Sicherheitspolitik zum Schutz vor Gefährdungen für das Leben und die Wohlfahrt ihrer Bürger bleibt deshalb notwendig. Wichtig ist jedoch, daß sie in dem Bewußtsein und mit dem Ziel betrieben wird, günstige Rahmenbedingungen für die ihr übergeordnete Friedenspolitik zu schaffen.

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Herausforderungen

Deutsche Friedenspolitik steht vor Herausforderungen, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen. Die erste umfaßt die Probleme selbst, d.h. die Substanz der Herausforderungen, zur zweiten Kategorie gehören operative Fragen, d.h. Probleme, auf die eine Politik stößt, die sich der Bewältigung der Herausforderungen verschrieben hat.

1. Substantielle Herausforderungen

- Die Vereinigung außenpolitisch absichern

Deutschland hat seine Einheit in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung seiner ehemaligen Kriegsgegner (2+4-Abkommen) erlangt. Das hing nicht nur mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der sowjetischen Reformpolitik zusammen. Als stabile Demokratie sowie als berechenbarer und multinational eingebundener Partner (NATO, EG) hatte die Bundesrepublik in vier Jahrzehnten im Westen wie im Osten ein Vertrauenskapital erworben, von dem sie nach dem Fall der Mauer zehren konnte.

Die letzten beiden Jahre haben gleichwohl gezeigt, daß auf Deutschland besonders kritische Augen gerichtet sind. Verantwortlich dafür sind Geographie, Größe und Geschichte, d.h. Deutschlands Lage im Herzen Europas, seine Macht und seine aggressive Politik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Nach der Vereinigung kommt es deshalb darauf an, das Vertrauen unserer Nachbarn und Partner in eine größer und unabhängiger gewordene Bundesrepublik zu erhalten und zu festigen (vgl. unten den Abschnitt Deutsche Besonderheiten).

— die EG vertiefen und erweitern

Zur außenpolitischen Absicherung der Vereinigung gehört das deutsche Interesse an einer vertieften EG-lntegration, da sie dazu beiträgt, in- und ausländische Ängste vor deutschen Alleingängen oder deutschem Übergewicht abzubauen.

Das kann jedoch nicht das alleinige oder auch nur ausschlaggebende Motiv sein, weil dies weder der deutschen Bevölkerung noch jenen im Ausland zu vermitteln wäre, die ohnehin mißtrauisch sind. Im Vordergrund auch der öffentlichen Darstellung müssen andere Begründungen stehen.

Auch andere Fallstricke sind zu vermeiden. Die EG darf sich nicht auf Kosten der Erweiterung einigeln, aber zugleich soll ihre Öffnung nicht den Fortgang der Integration gefährden. Die EG soll keine klassische Großmachtpolitik betreiben, aber sie darf sich - wie das vereinte Deutschland - auch nicht vor der weltpolitischen Verantwortung drücken, in die sie durch die wachsende Integration hineinwächst. Die EG darf nicht der Versuchung erliegen, sich in einen Wirtschaftsblock ("Festung Europa") zu verwandeln, und es muß ein Gleichgewicht zwischen Supranationalisierung und Subsidiarität, d.h. zwischen Souveränitätstransfer einerseits und nationaler und regionaler Autonomie andererseits, gefunden werden.

Für die Vertiefung spricht zunächst die nüchterne ökonomische Überlegung, daß ein einheitlicher Markt mit einer Währung Kosten senkt und eine effizientere Ressourcenallokation bewirkt. Beides steigert die europäische Wettbewerbsfähigkeit, und zwar sowohl im Hinblick auf die Exportkraft europäischer Unternehmen wie auch auf die Attraktivität des Standorts Europa für ausländisches Kapital und Know-how. Als exportabhängiges Land profitiert die Bundesrepublik von beidem.

Ebenso wie die Bundesrepublik die Aufgabe der Währungshoheit an bestimmte Bedingungen (Stabilitätskriterien, unabhängige europäische Zentralbank) knüpft, sollte sie auf einem Junktim zwischen Wirtschafts- und Sozialunion beharren. Die sozial abgefeuerte Marktwirtschaft ist eine politische Errungenschaft und ein Produktivfaktor. Sie ist aber auch ein Kostenfaktor, der in einem freien europäischen Markt in der Konkurrenz um Investitionen zu Sozialdumping verleiten könnte. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer die EG-lntegration vertiefenden europaweiten Sozialpolitik.

Die Eigendynamik des Integrationsprozesses und ausländische Erwartungen sind weitere Gründe, die für die Vertiefung sprechen. Der Golfkrieg und der Jugoslawien-Konflikt haben die Notwendigkeit eines einheitlich handelnden EG-Europas demonstriert. Besonders im Fall Jugoslawien hat sich gezeigt, daß Uneinigkeit den EG-lntegrationsprozeß belastet und die Fähigkeit der EG lähmen kann, wirkungsvolles Krisenmanagement zur Kriegsverhinderung zu betreiben.

Die EG-lntegration vorantreiben heißt auch, sie für Nicht-Mitglieder zu öffnen. Vertiefung und Erweiterung sind nicht per se unvereinbar. Eine EG-Union kann bei entsprechendem Willen und ökonomischen Voraussetzungen auch mit mehr als zwölf Mitgliedern funktionieren, aber eine überhastete Erweiterung kann auch Erreichtes gefährden und Mögliches blockieren (ein Grund, warum die konservative britische Regierung für eine rasche Erweiterung ist).

Wenn eine Vertiefung Erfolg haben soll, wird die EG jedoch um eine Öffnung besonders in Richtung Osten nicht herumkommen. Eine solche Öffnung, die die Perspektive eines Beitritts enthält, stützt die post-kommunistischen Demokratien. Sie dient damit auch dem Integrationsprozeß der EG, der durch Krisen und Kriege im Osten Europas schweren Schaden nehmen könnte (Jugoslawien als warnendes Beispiel).

- Die post-kommunistischen Reformstaaten stabilisieren

Was für die EG gilt, gilt für Deutschland erst recht: Stabilität und Wohlstand dürfen nicht an unserer Ostgrenze enden. Andernfalls wäre Deutschland eines der am meisten betroffenen Länder von Unterentwicklung und Konflikten in der Region, die Flüchtlingsbewegungen, grenzüberschreitende Katastrophen (Tschernobyl) und die Gefahr der Verwicklung in militärische Auseinandersetzungen (z.B. als Teil europäischer Friedenstruppen oder über die Beistandspflicht der NATO) auslösen könnten.

Ein besonderes Problem ist nicht zuletzt wegen der Präsenz nuklearer Waffen die Auflösung und Restrukturierung der ehemaligen Sowjetunion. Von außen läßt sich dieser Prozeß nur bedingt beeinflussen. Auch darf das Scheitern des Putsches im August 1991 nicht sorglos machen. Es gab keine landesweite Massenbewegung gegen die Putschisten, sondern einen engagierten Widerstand politisch aktiver Großstadtbewohner. Zwar erscheint eine Restauration des alten Regimes heute ausgeschlossen, aber für längere Zeit wird noch ungewiß bleiben, ob die neuen Staaten ihre (er-)drückenden wirtschaftlichen und politischen Probleme meistern können.

In diesen Zusammenhang gehört auch, daß es in Europa innerhalb der EG und auf regionaler Ebene (z.B. Skandinavien) Friedensgemeinschaften mit eingespielten Konfliktregelungsmechanismen gibt. Im post-kommunistischen Mittel- und Osteuropa gibt es beides nicht. Deshalb müssen auf regionaler und/oder gesamteuropäischer Ebene (KSZE) Instrumente und Verfahren ausgebaut und geschaffen werden, die eine gewaltlose Austragung von Konflikten innerhalb und zwischen Staaten unterstützen. Dazu kann als abschreckendes Mittel im Rahmen eines kollektiven KSZE-Sicherheitssystems gehören, notfalls auch militärische Zwangsmaßnahmen ergreifen zu können.

- Den transatlantischen Zusammenhalt wahren

Zwischen den nordamerikanischen Staaten und dem westlichen Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Friedenspartnerschaft entwickelt. Ihr Kern sind gemeinsame Wert- und Ordnungsvorstellungen, ein Netz aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bindungen sowie die Erfahrung einer jahrzehntelangen Sicherheitspartnerschaft in der NATO.

Dieser Zusammenhalt ist zu wahren, weil die Herausforderungen der 90er Jahre nur durch eine enge transatlantische Kooperation zu bewältigen sind. Das zu erkennen und danach zu handeln ist jedoch schwieriger geworden: Nach dem Ende des Kalten Krieges fehlt das einigende Band der kommunistischen Bedrohung, der Supermacht USA fällt es schwer, sich an selbstbewußter auftretende Europäer zu gewöhnen und die Generation der Nachkriegs-"Atlantiker" stirbt auf beiden Seiten aus. Die Aufgabe ist deshalb, Konkurrenz und Partnerschaft zwischen Nordamerika und Europa in ein neues Gleichgewicht zu bringen.

- Die Nord-Süd-Kluft verringern

Das Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ist in den 80er Jahren steiler geworden. In diesem Zeitraum konnten die Industrieländer ihren Anteil am Weltsozialprodukt auf über 80 Prozent steigern (davon USA, Japan und Bundesrepublik allein fast 50 Prozent), während ihr Anteil an der Erdbevölkerung leicht abnahm. Demgegenüber ist der Lebensstandard in einem Viertel der Entwicklungsländer in den letzten 25 Jahren gesunken. Nach UNO-Schätzungen wird die Weltbevölkerung bis zum Jahre 2025 von heute 5,5 auf dann 8,5 Milliarden steigen, von denen nur jeder sechste Mensch (heute jeder vierte) in einem Industrieland leben wird.

Relative und absolute Verarmung, Überbevölkerung, Ressourcenraubbau, Ignoranz, Intoleranz (Fundamentalismus), Unterdrückung, und Aufrüstung bewirken einen Teufelskreis, in dem viele Entwicklungsländer stecken. Die Industrieländer sind an dieser Misere ökonomisch (z.B. entzieht die Abschottung der Märkte des Nordens dem Süden jedes Jahr schätzungsweise 100 Milliarden Dollar, etwa das Doppelte der Entwicklungshilfe) und historisch (Kolonialismus) mitschuldig. Hinzu kommen die globalen Umweltbelastungen durch die Lebens- und Produktionsweise des Nordens (z.B. globale Erwärmung durch Treibhausgase), die die ärmeren und klimatisch ungünstiger liegenden Länder des Südens besonders treffen.

Aber nicht nur aus diesen und humanitären Gründen muß die Nord-Süd-Kluft verringert werden. Der Norden ist unmittelbar betroffen. Erstens rückt die Welt technologisch immer enger zusammen. Massenkommunikationsmittel tragen die Verlockungen des Lebens im reichen Norden bis in die Hütten des Südens, Massentransportmittel (Eisenbahn, Schiffe, Flugzeuge) ermöglichen Süd-Nord-Massenwanderungen, Massenvernichtungsmittel (ABC-Waffen) zu entwickeln wird für viele Entwicklungsländer immer erschwinglicher. Zudem lassen sich die Auswirkungen von Umweltsünden im Norden wie im Süden nicht auf eine Hemisphäre begrenzen.

- Die Schöpfung bewahren

Der vom Menschen betriebene Raubbau an der Natur hat begonnen, seine natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Meere, Grundwasser, Böden und die Atmosphäre werden überbeansprucht, die Folgen sind Versteppung, Entwaldung, Ausdünnung der Ozonschicht und drohende Klimaveränderungen (Treibhauseffekt), die ihrerseits pflanzlichen und tierischen Artenreichtum (z.B. durch Brandrodung im Amazonas) dezimieren und "Natur"-Katastrophen (z.B. Überschwemmungen) nach sich ziehen.

Die Umweltkrise ist maßgeblich durch den Norden verursacht worden. So gehen 44 Prozent des Weltenergieverbrauchs, 40 Prozent der Kohlendioxidemissionen und 23 Prozent der Trinkwasserentnahme auf Kosten von sieben Industrieländern (G 7—Staaten), in denen aber nicht mehr als 12 Prozent aller Menschen leben.

Zugleich ist damit zu rechnen, daß die Entwicklungsländer für ihren Fortschritt selbst dann größere Umweltbelastungskontingente beanspruchen werden, wenn ihnen der Norden massive Hilfe für die Einführung umweltverträglicher Techniken gewährt. Industrialisierung und Urbanisierung sind mit höherem Energieverbrauch verbunden, und die Entwicklungsländer können sich nördliche ökologische Maßstäbe in vielen Fällen nicht leisten.

'Die Schöpfung bewahren' heißt deshalb nichts anderes, als einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaften durchzuführen. Die reichen Länder des Nordens müssen ihre Produktions- und Konsummuster ändern, um nicht den ökologischen Ast abzusägen, auf dem sie sitzen, und um Vorbilder und Lieferanten umweltschonender Technologie für weniger entwickelte Staaten sein zu können.

- Den Produktionsstandort Deutschland sichern

Vorreiter bei zukunftsträchtigen Umweltschutztechnologien zu sein kann dazu beitragen, die Attraktivität des Produktions- und Investitionsstandorts Deutschland zu sichern. Von dieser Attraktivität wird es in einem einheitlichen europäischen Markt sowie angesichts transnational orientierter Unternehmen und der vor allem japanischen Konkurrenz entscheidend abhängen, ob unser hoher Lebenstandard gewahrt werden kann. Die Herausforderung besteht darin, dies so zu tun, daß der soziale Frieden nicht gestört wird und ein offenes Welthandelssystem erhalten bleibt.

Den gemeinsamen Nenner dieser sieben Herausforderungen bilden zwei Arten von Interdependenzen:

a) Positive und negative Interdependenzen

Positive Interdependenzen liegen vor, wenn die Verfolgung eines Zieles das Erreichen eines anderen begünstigt oder herbeiführt. Beispiele: Die Vertiefung der EG dient der außenpolitischen Absicherung der deutschen Vereinigung, die Nord-Süd–Kluft verringern trägt dazu bei, die Schöpfung zu bewahren, weil Unterentwicklung und Bevölkerungsexplosion eng miteinander verbunden sind, und den Produktionsstandort Deutschland sichern heißt auch, unsere Fähigkeit zu stärken, andere zu unterstützen (z.B. durch Importe und Finanztransfers).

Negative Interdependenzen sind mögliche Konflikte zwischen einzelnen Zielen. Beispiele: Den Produktionsstandort Deutschland sichern erfordert die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen, die durch wettbewerbsverzerrende Umwelt-schutzauflagen gefährdet sein könnte; die Nord-Süd-Kluft verringern kann der Stabilisierung Osteuropas Mittel entziehen (und umgekehrt); die Erweiterung der EG kann, wenn sie überhastet geschieht, ihre Vertiefung gefährden; die Öffnung des EG-Marktes für Osteuropa dient der Stabilisierung dieser Länder, aber sie bedeutet auch Konkurrenz für wettbewerbsschwache Wirtschaftszweige in Westeuropa (Landwirtschaft, Textilindustrie).

b) Interdependenz von Innen- und Außenpolitik

Daß Innen- und Außenpolitik eng zusammenhängen, ist eine Binsenwahrheit. Sie zu mißachten, kann man sich jedoch in einer Welt steigender gegenseitiger Abhängigkeit, offener Grenzen (Massentransport- und Massenkommunikationsmittel) und damit auch wachsender Verwundbarkeit (Ausbreitung von Seuchen (AIDS) und Technologie für Massenvemichtungswaffen, Drogenhandel, gegen Terror anfällige Kommunikationsnetze, grenzüberschreitende Umweltverschmutzung) immer weniger leisten.

Die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik wird besonders deutlich an der Verknüpfung von wirtschaftlicher Stärke und internationaler Rolle. Ansehen und Einfluß der Bundesrepublik Deutschland beruhen entscheidend auf ihrer wirtschaftlich-technologischen Leistungsfähigkeit - ein Zusammenhang, der in der Welt nach dem Kalten Krieg, in der militärische Machtfaktoren an Bedeutung verlieren, noch wichtiger wird.

Aber auch andere als wirtschaftliche Faktoren bestimmen die Stellung eines Landes in der internationalen Politik. Wie die Bundesrepublik die Asylproblematik behandelt hat z. B. ebenso maßgeblichen Einfluß auf ihr Bild im Ausland wie die Frage, ob und wie die West-Ost-Kluft zwischen den beiden ehemaligen Teilen Deutschlands abgebaut werden kann.

Eine noch größere Aufgabe stellt der ökologische Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft dar. Die Bundesrepublik allein kann keine ökologische "Insel der Seligen" sein, weil dies ihre ökonomische Konkurrenzfähigkeit gefährden könnte und Umweltverschmutzung an nationalen Grenzen keinen Halt macht. Aus dem gleichen Grund hat sie jedoch ein Interesse, zu demonstrieren, daß Wohlstand und eine intakte Umwelt nicht nur keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Eine umweltverträgliche Produktions- und Lebensweise sollte deshalb ein vorrangiges Ziel von Innen- und Außenpolitik sein.

2. Operative Herausforderungen

Herausforderungen erkennen und als politische Ziele definieren, ist eine Seite der Medaille. Die andere ist, eine Implementierungsstrategie zu entwerfen und umzusetzen. Diese operative Aufgabe stößt auf zwei zentrale Probleme:

– Problembewußtsein schaffen

Demokratische Politik bedarf der Legitimation und Unterstützung durch den Bürger. Verantwortung ausüben heißt aber sowohl ausführen als auch aufklären, d.h. einen mehrheitsfähigen Wahlauftrag ausführen und für noch nicht mehrheitsfähige, aber als notwendig erkannte Ziele werben. Letzteres erfordert dort, wo es noch nicht vorhanden ist, ein entsprechendes Problembewußtsein zu schaffen.

Für die sieben genannten Herausforderungen kann von einem relativ hohen Pro-blembewußtsein in unserer Bevölkerung ausgegangen werden. Defizite liegen in zwei Bereichen:

Erstens fehlt ein ausreichendes Bewußtsein davon, daß negative Interdependenzen möglichst zu vermeiden sind. Gewiß müssen angesichts begrenzter Mittel Prioritäten gesetzt werden. Aber dies sollte nicht dazu führen, ein Ziel auf Kosten anderer dauerhaft zu vernachlässigen oder kurzsichtigen Erwägungen Vorrang einzuräumen. So darf die Stabilisierung Osteuropas nicht auf Kosten unserer Hilfe für die noch ärmeren Entwicklungsländer gehen, und bei der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft darf nicht zu kurz kommen, daß eine umweltfreundliche Produktionsweise langfristig die beste Arbeitsplatzgarantie darstellt.

Zweitens muß noch stärker als bisher in das öffentliche Bewußtsein dringen, daß unser Wohlstand vom Wohlergehen anderer abhängt. Exportieren können wir nur, wenn wir zahlungskräftige Abnehmer finden, eine saubere Umwelt können wir nicht allein genießen, und sicher können wir nur leben, wenn sich andere auch sicher fühlen. Wohlstandsinseln innerhalb von Gesellschaften und im internationalen System können ihre Stabilität gleichermaßen bedrohen.

Diese Erkenntnis zu fördern könnte für die nächste Zeit schwieriger geworden sein. Vielerorts gilt das westliche System als "Sieger" im Kalten Krieg. Darin liegt die Gefahr einer Überhöhung des Kapitalismus und einer Abwertung sozialstaatlicher Korrekturen.

- Problembewußtsein in Handlungsbereitschaft umsetzen

Probleme zu erkennen ist ein erster Schritt, der wirkungslos bleibt, wenn ihm nicht Schritte zu ihrer Bewältigung folgen. Um Handlungsbereitschaft im Sinne öffentli-cher Unterstützung für eine bestimmte Politik zu erzeugen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muß der Bürger überzeugt sein, daß die ihm angebotenen Lösungsvorschläge dem Problem angemessen sind, und zweitens muß er überzeugt sein, daß es sich lohnt, sein Verhalten zu ändern und, falls erforderlich, auch Opfer in Kauf zu nehmen.

Der Versuch, Problembewußtsein in Handlungsbereitschaft umzusetzen, trifft auf mehrere Hindernisse: die deutsche Vereinigung bindet erhebliche Ressourcen; die Risiken und Gefährdungen der Zukunft erscheinen weniger unmittelbar und drängender als die kommunistische Bedrohung der Vergangenheit im Herzen Deutschlands und Europas; die Bürger erwarten nach den Rüstungslasten des Kalten Krieges eine "Friedensdividende"; der ökologische Umbau der Industriegesellschaft erfordert weitreichende Verhaltensänderungen des einzelnen zu einem Zeitpunkt, in dem das westliche System zum Vorbild für die post-kommunistischen Staaten geworden ist.

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Chancen

Vor dem Hintergrund dieser beiden operativen Herausforderungen sollte, wer auf die vor uns liegenden Aufgaben und Gefährdungen verweist, auch über die Chancen sprechen, die das Ende des Kalten Krieges mit sich bringt. Moralische Appelle allein reichen jedoch nicht. Ebensowenig sollte man sich darauf beschränken, die Gefahren an die Wand zu malen, die entstehen könnten, wenn internationale Solidarität ausbleibt ( z.B. Flüchtlingsmassen aus den Elends- und Unruhegebieten dieser Welt, Ökokatastrophen). Die Gefahren dürfen nicht verschwiegen werden, aber wer sie zur einzigen Grundlage seiner Argumentation macht, droht zu scheitern, indem er als notorischer Schwarzseher abgestempelt wird oder angesichts der scheinbaren Übermächtigkeit der Probleme resignative statt mobilisierende Effekte auslöst.

Die politische Botschaft, die es zu entwickeln und zu vermitteln gilt, läßt sich als pragmatischer Optimismus bezeichnen und auf folgende Kurzformel bringen: Die Probleme und Risiken beim Namen nennen, aber zugleich nicht als unlösbar erscheinen lassen und auf die positiven Entwicklungsmöglichkeiten hinweisen. Anders formuliert: Der Bürger muß erkennen können, daß es sich lohnt, sich für eine bessere Zukunft zu engagieren.

Die Chancen der Zukunft aufzeigen heißt zunächst einmal, mit lllusionen über die Vergangenheit aufzuräumen. Dazu gehört die irrtümliche Vorstellung von der - verglichen mit heutigen Zuständen im Osten Europas - relativen "Stabilität" während des Kalten Krieges. Abgesehen davon, daß Stabilität kein Wert an sich ist -die "Stabilität" des Kalten Krieges war eine Scheinstabilität, da es sich im früheren Ostblock um illegitime, auf Unterdrückung beruhende und damit letztlich brüchige Regime handelte. Was heute in Osteuropa an nationalen, ethnischen und religiösen Konflikten aufbricht, ist nicht nur, aber entscheidend auch der Unfähigkeit dieser Regime zuzuschreiben, eine politische Kultur der Toleranz und Solidarität zu entwickeln. Das konnte und durfte im Interesse der entmündigten Bürger auf die Dauer nicht gut gehen. Darauf hinzuweisen sollte den wiedervereinten Deutschen ein besonderes Anliegen sein.

Für Nostalgie nach vermeintlich geordneten Verhältnissen der Vergangenheit besteht auch deshalb kein Anlaß, weil nicht vergessen werden darf, daß die beiden Teile Deutschlands das unvermeidliche Schlachtfeld einer Eskalation des Kalten in einen heißen Krieg gebildet hätten. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Eskalation mag gering gewesen sein, aber wie im Falle der zivilen Nutzung der Kernkraft war das Risiko - verstanden als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichen Schadensfolgen - beträchtlich, da Deutschland einen großen Krieg nicht überlebt hätte. Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat deshalb für uns einen enormen Gewinn an Sicherheit gebracht.

Europa hat es - auch wenn dies vor dem aktuellen Hintergrund des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zweckoptimistisch klingen mag - die Chance beschert, zu einer wahren Stabilitätsgemeinschaft auf der Basis von Demokratie und Solidarität zusammenzufinden. Davon würden gerade die Deutschen, die in der Mitte Europas Hauptbetroffene von Instabilität und Konflikten wären, besonders profitieren.

Sie würden dies auch im engeren Sinne des Wortes. Als Handelsnation ist die Bundesrepublik ein Nutznießer des EG-Binnenmarktes im Westen Europas, und der Aufbau dynamischer Volkswirtschaften im Osten Europas würde der deutschen Wirtschaft neue Absatz- und Investitionsmärkte erschließen.

Zu den materiellen Vorteilen gehört ferner die "Friedensdividende" in Form von Rüstungseinsparungen. Zwar sollte man sich vor übertriebenen Erwartungen hüten, weil auf das Militär nicht verzichtet werden kann und sowohl die Integration der NVA wie auch die Umstellung von militärische auf zivile Produktion kostspielig sind. Aber auf längere Sicht besteht die Aussicht, den Rüstungsetat drastisch zu kürzen und die freiwerdenden Mittel für die Steigerung der nationalen und internationalen Wohlfahrt einsetzen zu können.

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Deutsche Besonderheiten

Von Ausnahmen und Akzentunterschieden abgesehen gelten die genannten Herausforderungen und Chancen nicht nur für die Bundesrepublik. Es gibt jedoch einige Besonderheiten unserer Situation, die bei der Konzeption und Durchführung deutscher Außenpolitik zu berücksichtigen sind.

Sie hängen mit deutscher Größe und Geschichte und der daraus resultierenden Schwierigkeit zusammen, ausländische Erwartungen und Einstellungen einerseits mit deutschen Interessen und Befindlichkeiten andererseits auf einen Nenner zu bringen.

Ausländische Erwartungen

Ob gewollt oder nicht - das vereinte Deutschland wird im internationalen System aus drei Gründen eine größere Rolle spielen:

- Das ökonomische Gewicht Deutschlands vergrößert sich. Die Sanierung der Ex-DDR mag zunächst ein "Klotz am Bein" sein, aber wenn sie gelingt - und im Ausland zweifelt kaum jemand daran - verstärkt sich die in Europa bereits heute herausragende Stellung der deutschen Ökonomie.

– Die Bundesrepublik gewinnt außenpolitischen Handlungsspielraum durch das Ende der Ost-West-Konfrontration. Deutschland hat seine volle Souveränität erlangt und ist unabhängiger geworden von militärischen Beistandszusagen anderer.

- Beide Vorgänge werden von außen als Machtzuwachs Deutschlands gewertet. Aus dieser Sicht ist deshalb die entscheidende Frage nicht, ob die Bundesrepublik mächtiger geworden ist, sondern wie sie ihr gestiegenes Gewicht einsetzt.

Es wird allerdings nicht einfach sein, den ausländischen Erwartungen an die größer gewordene Bundesrepublik gerecht zu werden, da einige dieser Erwartungen übertrieben und in sich widersprüchlich sind:

- Nach dem Fall der Mauer wurden Befürchtungen laut, das entfesselte Deutschland könnte versucht sein, sich zu einer ökonomischen Supermacht in Europa aufzuschwingen und an unselige Traditionen eines deutschen Sonderweges anzuknüpfen. Wenig später wurde im Golf-Konflikt nicht deutsche Abstinenz, sondern mehr Präsenz gefordert.

- Die Kosten der Vereinigung sind beträchtlich, aber zugleich erwartet man von der Bundesrepublik, daß sie die Hauptlast der Unterstützung für die postkommunistischen Reformstaaten trägt.

- Unseren östlichen Nachbarn unter die Arme greifen soll nicht dazu führen, daß Osteuropa wirtschaftlich deutsches Einflußgebiet wird. Deutsche Ermahnungen an unsere westlichen Partner, dies durch eigenes Engagement zu verhindern, werden aber bisher weitgehend überhört.

- Deutschland soll zur eigenen Einbindung die EG-lntegration vorantreiben, aber die dazu notwendigen eigenen Opfer in Form von Souveränitätsverzicht und ökonomischer Anpassung zu leisten, fällt mancherorts schwer.

Deutsche Befindlichkeiten

Mit solchen Erwartungen konfrontiert hätte es jeder Staat schwer, eine allseits akzeptierte Rolle zu finden. Im Falle der Bundesrepublik kommen weitere belastende Umstände hinzu.

Erstens bindet die innenpolitische Aufgabe, die materielle und mentale Teilung zu überwinden, Ressourcen und Energien, die außenpolitisch nicht zur Verfügung stehen. Zweitens bleibt Deutschland ein besonders verwundbares Land. Das betrifft heute weniger seine geostrategische Lage, trotz der Krise in der ehemaligen Sowjetunion und der noch ungefestigten neuen Demokratien östlich unserer Grenzen. Flüchtlingsströme und ökologische Katastrophen könnten uns jedoch mehr als andere westliche Staaten heimsuchen, und Deutschland kann es sich zudem vor dem Hintergrund seiner Geschichte noch weniger als andere leisten, neue Wohlstandsmauern in Europa zu errichten.

Drittens haben die Deutschen aus zwei Weltkriegen die Konsequenz gezogen, militärischer Machtpolitik zu entsagen. Das hat vor allem mit den Nazi-Verbrechen und damit zu tun, daß die beiden Kriege verlorengingen und Deutschland sie verschuldet hatte. Es ist aber auch das Ergebnis einer von den ehemaligen Kriegsgegnern gewollten Zivilisierung der Deutschen und hängt mit den positiven Erfahrungen zusammen, die die Bundesrepublik als "wirtschaftlicher Riese" und "politischer Zwerg" gemacht hat. In einer Meinungsumfrage wünschten sich 75 Prozent der Deutschen, daß sich ihr Land aus internationalen Konflikten "eher heraushalten" soll und 79 Prozent nannten die Schweiz und Schweden als Vorbilder.

Viertens hat Deutschland durch die Aufhebung seiner staatlichen Teilung und die Entspannung in Europa vom Ende des Ost-West-Konflikts besonders profitiert. In Verbindung mit ihrer antimilitaristischen Resozialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen deshalb besonders große Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft gesetzt. Um so größer dann die Ernüchterung durch den Golfkrieg und den Krieg im früheren Jugoslawien.

Deutsche Politik in den 90er Jahren muß versuchen, sowohl den eigenen Befindlichkeiten und Interessen als auch den z.T. überzogenen und inkonsistenten fremden Erwartungen gerecht zu werden. Das Kernproblem dabei ist die Kombination von deutscher Größe und Geschichte. Die Bundesrepublik ist eine wirtschaftliche Großmacht und hat in Europa eine politische Schlüsselrolle. Deutsche Vergangenheit und Interessen gebieten es, mit dieser Stärke zurückhaltend umzugehen, andererseits aber auch nicht so zurückhaltend, daß der Eindruck entsteht, das souveräne Deutschland entziehe sich seiner Verantwortung und liebäugele mit einem Sonderweg.

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Maximen

Die Bundesrepublik wird also im Ausland immer noch mit anderen, strengeren Maßstäben gemessen als Staaten mit vergleichbarem Status. Man macht uns angesichts der deutschen Nachkriegsgeschichte den Anspruch nicht mehr streitig, "normal" werden zu wollen, aber wir sind es noch nicht. Dem muß sich deutsche Außenpolitik ebenso stellen wie sie ihrem innenpolitischen Umfeld Rechnung zu tragen hat. Um diese Doppelaufgabe zu meistern, sollten drei wesentliche handlungsleitende Grundsätze befolgt werden:

- Kontinuität wahren

Berechenbar zu bleiben darf in einer veränderten Welt nicht als Aufforderung zu "business as usual" verstanden werden. Dies lassen die aufgeführten Herausforderungen und Chancen nicht zu. Auf dem vereinten und souveränen Deutschland liegt jedoch die besondere Aufmerksamkeit des Auslands. Abrupte Kursänderungen sollten deshalb unterbleiben.

- Alleingänge vermeiden

Deutschland sollte weiterhin den Verbund mit anderen suchen. Das entspricht dem kooperativen Ansatz, ohne den die genannten Herausforderungen nicht bewältigt werden können, und es verhindert, daß wir in den Verdacht kommen, eine Sonderrolle spielen zu wollen. Die wichtigsten Rahmen für partnerschaftliche Mitwirkung und Führung liefern EG, KSZE, NATO, WEU und UNO.

- Eigene Prioritäten setzen

Alleingänge zu vermeiden heißt nicht blinde Gefolgschaft oder Rückzug in weltpolitische Nischen. Gewicht und Geschichte verbieten es der Bundesrepublik, sich wie eine größere Schweiz zu verhalten. Sie muß eigene Prioritäten setzen und kann eigene Interesse selbstbewußt vertreten.

Diese Leitprinzipien können in Konflikt geraten. Eigene Prioritäten verfolgen kann uns dem Verdacht aussetzen, aus dem Verbund mit anderen ausscheren zu wollen (Beispiel: Deutsche Haltung zur Anerkennung Kroatiens). Berechenbar bleiben darf nicht dazu führen, im eigenen Interesse auf eine Vorreiterrolle zu verzichten. Die "Kunst" der Außenpolitik besteht darin, solche Konflikte nicht zu leugnen, sondern zu erkennen und einen befriedigenden Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Erwartungen herbeizuführen.


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