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[Seite der Druckausg.: 99]


Birgit Mayer
Qualitätssicherung im ambulanten Bereich aus der Sicht des Diakonischen Werkes der EKD


Ich möchte mich zunächst für die Einladung hier nach Bonn bedanken und freue mich, aus Sicht des Diakonischen Werkes der EKD (DW EKD) zum Thema „Qualitätssicherung in der Pflege" Stellung nehmen zu können. In meinem Vortrag möchte ich mich aufgrund der zur Verfügung stehenden Zeit eng an die vorgegebenen Fragestellungen halten:

  • Wurden alle Möglichkeiten angemessen genutzt, um die Pflegequalität zu sichern und weiterzuentwickeln?

  • Bestehen Barrieren, die einer Qualitätsverbesserung im Wege stehen?

  • Besteht Handlungsbedarf für die Politik?

  • Brauchen wir eine Qualitätsoffensive im Rahmen der Pflegeversicherung?

Die Fragestellungen lassen vermuten, daß der derzeitige Stand der Qualität in der Pflege nicht den Vorstellungen und Erwartungen entspricht, die man sich insbesondere mit Einführung der Pflegeversicherung versprochen hat. Dies mag sicher auch daran liegen, daß immer wieder über Mißstände und Defizite berichtet wird und Beschwerden von Patienten und Angehörigen laut werden.

Wenn wir uns deshalb heute dem Thema „Qualitätssicherung in der Pflege" zuwenden, wäre zunächst zu klären, was je nach Blickwinkel - von Kostenträgern, Leistungserbringern und Leistungsempfängern - überhaupt unter Qualität, die zu sichern, zu verbessern und weiterzuentwickeln ist, verstanden wird. Daran schließt sich die Frage an, welche Standards - sprich allgemeine Aussagen über das akzeptierte Niveau von Leistungen - Qualität widerspiegeln sollen und welche meßbaren Elemente - genannt Kriterien - sich den Standards zuordnen lassen.

Nur wenn diese Fragen geklärt sind und dabei die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten im Qualitätsverständnis sowie die Grenzen einer objekti-

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ven Qualitätsbewertung deutlich werden, wird eine konstruktive Diskussion über möglicherweise vorhandene Defizite, notwendige Verbesserungen und einzusetzende Sicherungsinstrumente zu führen sein. In der Kürze der Zeit ist es nicht möglich, alle genannten Aspekte ausführlich zu behandeln. Daher möchte ich meinen Schwerpunkt auf die Frage „Was verstehen wir unter Qualität" legen und aus Sicht des DW EKD folgendes dazu ausführen:

Eine allgemeingültige Definition von Qualität gibt es nicht. Die DIN ISO 9004 bezeichnet als Qualität die Eigenschaften und Merkmale einer Dienstleistung, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung von festgelegten oder vorausgesetzten Erfordernissen beziehen. Im Pflegeversicherungsgesetz (PVG) finden wir keine ausdrückliche Qualitätsdefinition, aber wir können aus den im Gesetz benannten Zielen und Aussagen Erfordernisse ableiten und sie als festgelegte Erfordernisse im Sinne der genannten Definition verstehen. Ich möchte an dieser Stelle nur einige nennen. Pflegeleistungen

  • sollen dem Pflegebedürftigen helfen, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen;

  • sie sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten („aktivierende Pflege");

  • sie sollen vorrangig die Pflegebereitschaft von Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können;

  • sie sind am allgemeinen Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse auszurichten;

  • sie müssen wirksam und wirtschaftlich sein,

  • und auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen ist Rücksicht zu nehmen.

Damit sind bestimmte Erfordernisse festgelegt und ein Rahmen vorgegeben, die Eigenschaften und Merkmale einer Dienstleistung zu benennen, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung genau dieser festgelegten Erfordernisse beziehen. Die Vereinbarung nach § 80 PVG, den „Gemeinsamen Grundsätzen und Maßstäben zur Qualität und Qualitätssicherung ein-

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schließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen in der ambulanten Pflege" - kurz „Qualitätsvereinbarung" genannt, füllt diesen Rahmen aus. Mit den zwischen den Kostenträgern und Leistungserbringern ausgehandelten (und neu auszuhandelnden) verbindlichen Maßstäben und Grundsätzen für Qualität werden die Qualitätsanforderungen und Sicherungsinstrumente festgelegt, die zur Sicherstellung der im PVG genannten Zielvorgaben erforderlich sind. Die Betroffenen selbst - Pflegebedürftige und ihre Angehörigen - sind vom Gesetzgeber nicht als Beteiligte der Qualitätsvereinbarungen vorgesehen. Anstrengungen, ihr Qualitätsverständnis zu ermitteln und in die Qualitätsvereinbarungen einzubeziehen, sind deshalb auch zukünftig dringend erforderlich.

Die Qualitätsvereinbarungen sind auch Grundlage für eine Operationalisierung der Qualitätskriterien zur Prüfung der Qualität durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Der MDK kann u.E. nicht einseitig die Anforderungen höherschrauben oder die Qualitätsprüfung mit anderen Prüfungen vermengen - z.B. mit Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Da die Qualitätsvereinbarungen nach § 80 das gemeinsame Qualitätsverständnis, auf welches sich Kostenträger und Leistungserbringer geeinigt haben, widerspiegeln, wäre es sehr zu begrüßen, wenn die Leistungserbringer auch an der Erarbeitung bzw. der Fortentwicklung des MDK Konzepts zur Qualitätssicherung - dem Instrument zur Durchführung der Qualitätsprüfungen - beteiligt werden würden.

Eine Ursache für Defizite in der Qualität könnte nun darin liegen, daß die Qualitätsanforderungen und Sicherungsinstrumente in der Qualitätsvereinbarung nach dem SGB XI nicht geeignet sind, um das gewünschte Qualitätsniveau festzuschreiben. Diese Ansicht vertrete ich nicht. Die Vereinbarungen sind sicherlich an einigen Stellen im Hinblick auf die Konkretisierung der Anforderungen zu verbessern. Aber insgesamt gesehen, wird mit den Vorgaben - vorausgesetzt, sie werden umgesetzt und voll ausgeschöpft - ein hohes Maß an Qualität festgelegt.

Damit ist das Stichwort „Umsetzung der Qualitätsvereinbarungen" gefallen, und eine weitere Ursache für Qualitätsdefizite könnte es sein, daß die Pflegedienste ihrer Verpflichtung nach Erfüllung der Vorgaben nicht gerecht werden. Auch dieser Annahme stimme ich nicht zu. Sicherlich kann nicht außer Acht gelassen werden, daß die Prüfergebnisse des MDK Schwächen bei der Umsetzung offenbaren und Verbesserungen, z.B. im Hinblick auf

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das Führen der Pflegedokumentation oder die Erstellung eines Pflegeplans, notwendig sind. Aber ich möchte davor warnen, den Schluß zu ziehen, daß die Qualität in der Pflege generell zu gering ist, denn ich weiß, daß wir mit einem solchen Rückschluß den Tausenden von Pflegekräften der Diakonie und anderen Verbänden, die sich tagtäglich kompetent und mit großem Einsatz und Engagement um pflegebedürftige Menschen kümmern, nicht gerecht werden. Wir werden damit auch all den Pflegediensten und Mitarbeiter/-innen nicht gerecht, die sich freiwillig und sehr engagiert an umfassenden Maßnahmen der externen und internen Qualitätssicherung beteiligen. Qualitätssicherung und besonders die Qualitätsentwicklung ist auch für die Diakonie unabhängig von den gesetzlichen Vorgaben ein zentrales Anliegen. Derzeit wird beispielsweise für die Pflege in diakonischen Einrichtungen und Diensten auf Bundesebene - in enger Anbindung zur Landesebene - ein Rahmenhandbuch entwickelt und hohe Standards, die sich an den Leitsätzen diakonischer Pflegequalität orientieren, nach außen und innen festgeschrieben. Ich halte es für besonders wichtig, dieses Engagement zu unterstützen, zu fördern und darauf zu vertrauen, daß über die Selbstverpflichtung der Dienste und Einrichtungen hohe Qualität gesichert und entwickelt wird - vielleicht mehr, als durch einen Ausbau gesetzlicher Vorgaben und Kontrollen.

Deutlich darauf hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, daß die von allen Seiten geforderte Qualität auch ihren Preis hat. Doch die Entgeltverhandlungen mit den Kostenträgern sind diktiert von Sparzwängen. Um ihre Budgets zu schonen, sollen die Entgelte möglichst niedrig gehalten werden. Dies führt dazu, daß beispielsweise zeitintensive Maßnahmen, wie die Anleitung von Patienten, nicht entsprechend vergütet werden. Die zur Verbesserung der Kooperation unter den Leistungserbringern und der Koordination der Hilfen notwendigen Maßnahmen (Stichwort „Vernetzung"), wie z.B. Überleitungsgespräche und Beratung, sowie die ständig zunehmenden indirekten Pflegeaufgaben, die sich auch aus den Qualitätsvereinbarungen ergeben, werden in den Vergütungen ebenfalls nicht ausreichend berücksichtigt.

Diese engen, finanziellen Rahmenbedingungen stellen ganz eindeutig auch Grenzen für die Qualität der Pflege dar und erfordern die Bereitschaft aller Beteiligten, insbesondere der Kostenträger, Qualität nicht nur zu fordern, sondern auch die Mittel bereitzustellen, die eine fachlich qualifizierte und

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menschliche Pflege ermöglichen und die Vergütungen so zu bemessen, daß eine Leistungserbringung entsprechend der Vereinbarungen nach § 80 SGB XI möglich ist.

Aus unserer Sicht liegen die Ursachen für Qualitätsmängel aber noch auf einer anderen Ebene. Ich möchte deshalb den Blickwinkel der Bewertung von Qualität erweitern und als Maßstab heranziehen, inwieweit durch die Pflegeversicherung eine bedarfsgerechte Versorgung von kranken und pflegebedürftigen Menschen sichergestellt werden kann. Denn für die Diakonie stellt sich die Qualitätsfrage auch anhand des Kriteriums einer, am individuellen Hilfebedarf ausgerichteten, bedarfsorientierten Versorgung. Ich möchte Barrieren aufzeigen, die dem im Wege stehen, die Konsequenzen deutlich machen und Handlungsbedarf - nicht nur der Politik - einfordern.

Im einzelnen:

  • Pflegesachleistungen umfassen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Leistungen der Behandlungspflege gehören nicht zum Leistungsspektrum der PV und müssen von den Krankenkassen übernommen werden. Die Erfahrungen in der Vergangenheit zeigen aber, daß vermehrt Leistungen, wie z.B. Medikamentengabe, Kompressionsverbände und Blutdruckkontrollen von den Krankenkassen nicht der Behandlungspflege zugeordnet werden, sondern durch Zuordnung zur Grundpflege in den Bereich der Pflegeversicherung abgeschoben werden sollen. Der Leidtragende ist der Patient. Die Pflegekassen übernehmen die Kosten für diese Leistungen nicht, und der Patient muß sich im Widerspruchsverfahren und auf gerichtlichem Wege seinen Leistungsanspruch mühsam erkämpfen - wehe dem, dem dies nicht möglich ist!

  • Für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach dem PVG ist ein Bedarf an Hilfen bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität in einem bestimmten Umfang notwendig. Menschen, deren Hilfebedarf unterhalb der Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe eins liegt, erhalten keine Leistungen der PV. Ihren Hilfebedarf abzudecken, ist zumeist Aufgabe informeller, sozialer Netzwerke, wie der Familie und ehrenamtlichen Hilfen. Flankierende Hilfen durch gesetzlich verankerte soziale Sicherungssysteme sind zusätzlich erforderlich.

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  • Ein rein auf körperliche Verrichtungen ausgerichteter Pflegebegriff führt dazu, daß Menschen, die besondere Betreuung benötigen, wie z.B. Demenz-Erkrankte und Alzheimer Patienten durch das PVG nicht oder nicht ausreichend abgesichert sind. Ihr zeitintensiver Hilfebedarf im psychischen und sozialen Bereich bleibt bei der Einstufung der Pflegebedürftigkeit unberücksichtigt. Familien, die die psychisch belastende Versorgung dieser Patienten übernehmen, finden keine Entlastung, sind ohne professionelle Begleitung oftmals stark überfordert, und die Qualität der familiären Pflege ist gefährdet. Diesen besonderen Betreuungsleistungen ist nur durch eine Erweiterung des Pflegebegriffs in der PV oder durch andere sozialrechtliche Absicherung Rechnung zu tragen.

  • Die Leistungen der PV sind in der Höhe, und zwar unabhängig vom Bedarf des Patienten, begrenzt. - Als Beispiel: Für Pflegebedürftige der Stufe II können im Monat Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von DM 1800 erbracht werden. Der darüber hinausgehende Pflegebedarf wird durch die PV nicht gedeckt, und für pflegeintensive Patienten (z.B. beatmete Patienten) reichen die finanzierten Leistungen der PV nicht aus. Es besteht die Gefahr, daß über die Geldleistungen auf einem zweiten, billigeren Pflegemarkt Pflegekräfte beschafft werden, die sicherlich nicht zwangsläufig schlechtere Pflege erbringen, aber deren Qualität ist wesentlich schwerer zu kontrollieren.

Aufgrund dieser Ausführungen wird deutlich, daß die Pflegeversicherung für sich genommen den individuellen Bedarf an Hilfen von kranken, behinderten und pflegebedürftigen Menschen nicht vollständig abdeckt und unter diesem Gesichtspunkt Qualitätsdefizite festzustellen sind. Dies führt oftmals auch dazu, daß Pflegebedürftige und ihre Angehörigen unzufrieden sind und ihre Erwartungen und Wünsche enttäuscht werden. Deshalb wird die Qualität der Pflege auch zukünftig maßgeblich davon bestimmt sein, inwieweit die Krankenkassen bereit sind, notwendige behandlungspflegerische Leistungen zu übernehmen, und die Sozialhilfeträger bereit sind, komplementäre und ergänzende Leistungen zu finanzieren. Nur im Zusammenspiel der Sozialsysteme kann eine bedarfsorientierte Versorgung sichergestellt werden. Darüber ist es dringend erforderlich, daß - wie dargestellt - der Pflegebegriff der PV erweitert wird und das ehrenamtliche Engagement der Bürger und Bürgerinnen z.B. durch steuerliche Vergünstigungen Unterstützung erfährt.

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Zum Schluß möchte ich auf die Eingangsfrage „Brauchen wir eine Qualitätsoffensive im Rahmen der Pflegeversicherung?" zurückkommen. Ich möchte sie aber weder rundum mit „nein" noch rundum mit „ja" beantworten - und das entscheidende Wort „Qualitätsoffensive" in zwei Teile trennen. Zur „Qualität" sage ich selbstverständlich „ja" - verstanden als diakonische Qualität, die den Menschen in seiner Gesamtheit betrachtet, seine körperlichen, geistigen, spirituellen und sozialen Bedürfnisse berücksichtigt und sich am individuellen Hilfebedarf ausrichtet. Zu einer „Offensive" sage ich - vielleicht kommt dies Fußballanhängern bekannt vor -, wir brauchen eine „kontrollierte Offensive" und meine damit, daß Qualität ggf. zu verbessern, zu sichern und weiter zu entwickeln ist. Dies muß aber auf einer gründlichen und differenzierten Betrachtung basieren, die auch die Hintergründe und Rahmenbedingungen beleuchtet und die die Verantwortung für die Qualität in der Pflege nicht allein den Pflegediensten überläßt, sondern auch den Handlungsbedarf anderer Institutionen benennt.

Wird die Pflege allerdings weiterhin nur unter dem Gesichtspunkt von Kostendruck und Sparzwängen gesehen, so bedeutet dies das Ende jeder Qualitätsdiskussion.

[Seite der Druckausg.: 106 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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