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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 7 ] Rudolf Scharping
Der Sozialstaat macht Negativ-Schlagzeilen. Zu teuer, hinderlich für die wirtschaftliche Entwicklung, unflexibel, ungerecht - so lauten die Urteile in der Diskussion, zumindest im größeren Teil der veröffentlichten Meinungen. Auf der einen Seite wird ständig das Kostenargument angeführt. Auf der anderen Seite müssen wir eine reale Gefahr wahrnehmen: Diejenigen, die den Sozialstaat zum größten Teil finanzieren, beschweren sich über Abgaben in Rekordhöhe bei ständig gekürzten Leistungen. Wer sich über die hohen Rentenversicherungsbeiträge aufregt und gleichzeitig mitbekommt, wie gering die Rentenerhöhung des Vaters oder der Mutter ausfällt; wer trotz ständig steigender Beiträge zur Arbeitslosenversicherung feststellt, daß der Sohn oder die Tochter keine Umschulung erhält, der fragt sich: Was geschieht mit meinen Beiträgen, welchen Sinn hat dieses System noch? Der Sozialstaat steht in der Gefahr, von zwei Seiten in Frage gestellt zu werden: Von den Arbeitgebern mit dem Hinweis auf die internationale Konkurrenzfähigkeit, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als Beitragszahler wegen zu starker Belastung bei gleichzeitiger Ineffizienz. Dabei läßt der Blick auf nüchterne Zahlen keinesfalls den Schluß zu, der Sozialstaat sei in Deutschland im internationalen Vergleich übermäßig gefräßig. Seriöserweise müssen bei Vergleichen über einen längeren Zeitraum die westdeutschen Zahlen als Grundlage genommen werden. Und dabei stellen wir fest, daß der Anteil aller laufenden Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt in den alten Bundesländern zwischen 1980 und 1992 nicht gestiegen, sondern um 1,4 Prozentpunkte auf 27,3% und damit ziemlich genau auf den Wert von Großbritannien und den europäischen Durchschnitt gesunken ist. Frankreich, die Niederlande, Belgien und Italien weisen eine höhere Sozialleistungsquote auf. Nehmen wir die Ausgaben im Gesundheitsbereich. Trotz unbestreitbarer enormer medizinischer Fortschritte, die Geld kosten, und einem größer werdenden Anteil älterer Menschen stieg deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1982 und 1992 nur um 0,1 Prozentpunkte, in den USA um 3,7, in Frankreich um [Seite der Druckausg.: 8 ] 1,4. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrug 1992 in Deutschland 8,7%, in den USA mit seinem marktwirtschaftlichen System und eklatanter Unterversorgung ganzer Bevölkerungsgruppen 14%, in Frankreich bei einem System mit sehr hoher Selbstbeteiligung 9,4%. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung erreicht nach der dortigen Reform 32,2%, wovon die Arbeitgeber drei Viertel tragen müssen, ein Satz, der in Deutschland nach allen vorliegenden Prognosen auch im nächsten Jahrtausend nicht erreicht wird. Wir konstatieren trotz dieser alles andere als alarmierenden Zahlen einen Anstieg des Beitragssatzes in der Sozialversicherung auf die Rekordhöhe von 39,2% 1995. Das weist auf zwei Entwicklungen hin: Erstens belastet der Bund die Sozialversicherung mit Kosten, die in Zusammenhang mit der Gestaltung der deutschen Einheit stehen. Zweitens versucht er generell, seine eigene finanzielle Lage durch den Rückzug aus der Finanzierung sozialer Leistungen zu verbessern. Das führt konsequenterweise zu einer immer stärkeren Belastung der Beitragszahler. Ich bin davon überzeugt, daß bei der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge die Schmerzgrenze erreicht ist und wir Gefahr laufen, daß die bisherige Akzeptanz des Sozialstaatsprinzips in weiten Teilen der Bevölkerung verloren geht. Also muß logischerweise bei den Beiträgen angesetzt werden. Ich weiß mich darin auch mit den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften einig: Leistungen, die eindeutig in Zusammenhang mit der Gestaltung der Einheit stehen, gehören nicht in die Sozialversicherung, sondern sind aus Steuermitteln zu finanzieren. Das brächte Arbeitgebern wie Arbeitnehmern eine Entlastung bei den Beiträgen, am stärksten in der Arbeitslosenversicherung. Erst wenn dieser Schritt gemacht ist, kommen wir in ruhigeres Fahrwasser und können dann über notwendige Reformen innerhalb der Sozialversicherungssysteme sprechen. Vorher überlagert die Kostenfrage alles andere. Ich bin mir vollkommen darüber im klaren, daß es Diskussionen über das Wesen des Sozialstaates immer geben wird. Es werden immer Menschen für sich persönlich die Rechnung aufmachen, daß sie mit privater Vorsorge besser fahren. Und mancher ist dann einfach nicht zu Solidarität bereit, sondern versucht, die für ihn günstigste Lösung durchzusetzen. Zwischen der durch die Verfassung garantierten persönlichen Freiheit des einzelnen und dem ebenfalls aus der Verfassung abgeleiteten Gebot einer sozial- [Seite der Druckausg.: 9 ] staatlichen Ordnung besteht ein grundsätzliches Spannungsverhältnis. Für viele Menschen bedeutet erst die Verwirklichung des Sozialstaatsgebotes, daß sie ihre persönliche Freiheit gestalten können. Andere sehen sich durch den Sozialstaat in ihrer persönlichen Freiheit eingeengt. Ohne Zweifel ist soziale Gerechtigkeit im Sinne unserer Verfassung ein leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen. Aber das Grundgesetz schreibt eben nicht vor, wie diese Maßnahmen konkret aussehen sollen, mit welchen Mitteln soziale Gerechtigkeit erreicht werden kann und wie vor allem soziale Gerechtigkeit zu definieren ist. Hier liegt die gestaltende Aufgabe der Politik, hier lassen sich auch grundsätzliche Unterschiede in der Auffassung festmachen, was denn soziale Gerechtigkeit konkret bedeutet. Ich sage mal vereinfacht: Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips ist die Geschäftsgrundlage der Wohlfahrtsverbände. Sie müssen daher ein großes Interesse daran haben, sich an einer öffentlichen Diskussion über den Sozialstaat zu beteiligen, die ohne Zweifel das öffentliche Bewußtsein beeinflußt. Und da bleiben zur Zeit nach meiner Wahrnehmung eher die Argumente derjenigen hängen, die im Spannungsverhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit einseitig die Freiheit weniger favorisieren. Sie wollen, auch das ist vereinfacht, damit den Wohlfahrtsverbänden ihre Geschäftsgrundlage entziehen. Die SPD ist an dieser Schieflage in der öffentlichen Diskussion übrigens nicht unschuldig. Viele Sozialdemokraten glauben immer noch, daß Sozialstaat und gesellschaftlicher Fortschritt in Deutschland als Geschwisterpaar wahrgenommen werden. In der öffentlichen Diskussion, wo zwischen diesen beiden Begriffen ein Gegensatz aufgebaut wird, haben sie sich daher für meinen Geschmack eine Weile nicht massiv genug zu Wort gemeldet. Dabei ist die falsche, aber griffige Formel, daß Sozialstaat Kosten bedeutet und Fortschritt Kostenentlastung, in viel mehr Köpfen verwurzelt als wir gemeinhin glauben. Und an diese Köpfe kommen wir nicht heran, wenn wir uns in die Defensive treiben lassen und darauf beschränken, soziale Errungenschaften verbal mit Schlagworten zu verteidigen. Es ist Aufgabe der SPD, der Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverbände, einen Prozeß zu organisieren, der den sozialen Konsens in dieser Gesellschaft wiederherstellt. Wir müssen diejenigen, die auf Sozialstaatlichkeit dringend angewiesen sind, mit denen zusammenbringen, die das Gefühl haben, nur für die Finanzierung zuständig zu sein, ohne daraus Nutzen zu ziehen. Es gilt also, nicht defensiv zu agieren, sondern offensiv die Vorteile des Sozialstaates zu bilanzieren. [Seite der Druckausg.: 10 ] Dabei geht es darum, die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen. Natürlich können Sozialleistungen nur aus der laufenden Wortschöpfung finanziert werden, und es ist alles andere als unredlich oder eines Sozialdemokraten unwürdig, sich intensiv um diese Seite der Medaille zu kümmern. Konservative suggerieren nicht ohne Erfolg, es gäbe einen automatischen Zusammenhang zwischen sinkenden Sozialleistungen und steigender Wertschöpfung. Wenn das so wäre, dann gehörten Griechenland und Portugal zu den wirtschaftlich stärksten Ländern der Europäischen Union und Frankreich und Deutschland zu den Schlußlichtern. Wir müssen klarmachen, daß Innovation und Qualifikation, daß Forschung und Entwicklung und die Erschließung neuer Märkte, die Bereitstellung von Risikokapital oder die Motivation von Beschäftigten die Schlüsselthemen für die Wertschöpfung sind. Wir dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, daß natürlich auch die Kosten eine Rolle spielen. Ich hatte bereits auf den Rückzug des Staates bei der Finanzierung sozialer Aufgaben hingewiesen, ein Rückzug, der zur Überwälzung auf die Beitragszahler führt. Hier liegt das Kostenproblem. Es ist sicher auch nicht schändlich, darauf hinzuweisen, daß ein funktionierender Sozialstaat, daß sozialer Friede einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Wertschöpfung leistet. Und wir dürfen nicht nur erstaunt betriebswirtschaftliche Bilanzen zur Kenntnis nehmen, sondern müssen selbst gesamtgesellschaftlich bilanzieren. Die Diskussion um den Sozialstaat ist da, wir können sie nicht totschweigen oder einfach anderen das Feld überlassen. Denn die Frage der Zukunft des Sozialstaates gehört zu den zentralen Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft. Erstaunlicherweise sind die Wohlfahrtsverbände dabei überhaupt nicht Gegenstand der Auseinandersetzung. Es gibt sehr viele allgemeine Kritik an vermeintlich überzogenen Sozialleistungen, der sozialen Hängematte, den hohen Sozialabgaben und verstärkt am Sozialstaat prinzipiell. Aber wo ist etwas zu lesen, zu sehen oder zu hören über
[Seite der Druckausg.: 11 ] Allenfalls die nur Insidern zugängliche Fachpresse widmet sich diesen Themen. Und seien wir ehrlich: Innerhalb der Verbände selbst gibt es nicht gerade ein Feuerwerk an Diskussionsbeiträgen über die künftige Arbeit angesichts sich rasch verändernder Bedingungen. Dabei sind die Wohlfahrtsverbände unmittelbar mit diesen Veränderungen konfrontiert. Sie müssen feststellen: Die Zahl der Ehrenamtlichen geht zurück. Es gibt relativ immer weniger ehrenamtliche Helfer im sozialen Bereich und immer mehr Konsumenten sozialer Dienstleistungen. Die Zahl der Aufgaben im sozialen Bereich steigt, und diese Aufgaben werden komplizierter. Das heißt, der Zwang zur Professionalität nimmt zu. Soziale Dienstleistungen sind ein wachsender Markt, auf dem sich Einkommen erzielen lassen. Den Wohlfahrtsverbänden erwächst daraus eine sehr schnell größer werdende gewerbliche Konkurrenz; sie ist weder generell schlechter noch teurer, in manchen Fällen billiger, gelegentlich sogar besser. Spenden und Mitgliedsbeiträge spielen bei der Finanzierung der Arbeit der Verbände eine kleiner werdende Rolle. Der größte Teil der Dienstleistungen wird inzwischen nicht von den Empfängern, sondern von den Trägern der Sozialversicherung oder direkt über öffentliche Zuschüsse finanziert. Die Empfänger sozialer Dienstleistungen haben überwiegend keine Bindung an bestimmte Wohlfahrtsverbände. Damit ändern sich die Auswahlkriterien. Wer Leistungen häuslicher Pflege beanspruchen will, der kann sie bei einem gewerblichen Anbieter, bei der Arbeiterwohlfahrt, bei der Caritas oder anderen Verbänden bekommen. Da er Anspruch auf Sachleistungen hat, wird die Qualität der Dienstleistung maßgeblich seine Entscheidung für einen der Dienstleister beeinflussen. Ihm ist es egal, wer ihm hilft, Hauptsache er bekommt professionelle Hilfe. Kommunen oder Pflegekassen, Krankenversicherungen oder andere Träger werden ihre Entscheidung am Verhältnis von Qualität und Kosten orientieren. Wohlfahrtsverbände genießen hier keine Vorfahrt. Maßgeblich sind der Preis und die Qualität, wobei wachsende finanzielle Probleme die Frage des Preises in den Vordergrund rücken dürften. [Seite der Druckausg.: 12 ] Öffentliche Zuschüsse werden befristet gewährt, über sie ist in der Regel jährlich neu zu entscheiden. Die Verbände wissen in diesem Fall nicht, ob sie eine bestimmte Leistung im nächsten Jahr noch anbieten können. Sie haben keine Planungssicherheit. Wohlfahrtsverbände betreiben als eine Art Holding verschiedene soziale Dienstleistungsunternehmen. Diese Unternehmen arbeiten professionell. Die Holding untersteht einem ehrenamtlichen Vorstand. Der zunehmende Trend zur Professionalisierung verschärft die Gegensätze, zumal ehrenamtliche Vorstände in der Regel unter einem starken Arbeits- und Entscheidungsdruck stehen. Denn für die Ehrenämter stehen immer weniger Menschen zur Verfügung. Wer will, wird schnell Kassierer einer Gliederung des Verbandes und verwaltet nebenher fünfstellige Umsätze im sozialen Bereich. Entlastung durch andere Ehrenamtliche erfährt er kaum, da ihre Zahl schrumpft. Ich habe hier einige Entwicklungen skizziert, die allen Anlaß geben, über die Rolle der Wohlfahrtsverbände zu diskutieren. Ich möchte etwas hinzufügen, das mir nicht ganz unwichtig erscheint. Das öffentliche Ansehen der Verbände hat in der Vergangenheit gelitten. Das liegt nicht an konkreten Ereignissen. Vielmehr ist hier ein Zusammenspiel von sogenanntem Zeitgeist in der Gesellschaft und einer zu schwachen Reaktion darauf in den Verbänden zu beobachten. Ich setze hier in Klammern hinzu: Das gilt auch für politische Parteien. Sich ehrenamtlich in einem Wohlfahrtsverband zu engagieren, gehört nicht zu den Prioritäten im Freizeitverhalten. Das Auseinanderdriften von Arbeitsort und Wohnort, die Komplexität von Beruf und Alltagsproblemen, das Abnehmen sozialer Beziehungen, damit verbundene Zeitprobleme gehören sicher zu den Ursachen. Viele Menschen haben, den Gewerkschaften sei es gedankt, mehr Freizeit. Gleichzeitig verfügen sie über immer weniger selbstbestimmte Zeit. Bei der Entscheidung darüber, wie diese Zeit genutzt werden kann, wird die Auswahl immer größer. Wohlfahrtsverbände, Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen konkurrieren mit einem riesigen Angebot konsumierbarer Freizeitaktivitäten. Sie wirken dabei, machen wir uns nichts vor, bisweilen angestaubt bis überflüssig, auf jeden Fall anstrengend. Aller reformerischer Eifer und alle Kreativität werden aus der Versammlung des Ortsvereins der Arbeiterwohlfahrt oder aus der Sozialbetreuung des Diakonischen Werkes kein [Seite der Druckausg.: 13 ] Freizeitangebot machen, das auf den ersten und zweiten Blick verlockender erscheint als eine Sportveranstaltung, ein Konzert, der Computerklub, ein Einkaufsbummel oder ein netter Abend mit Freunden in der Kneipe oder im Restaurant. Für eine SPD-Versammlung gilt das selbstverständlich auch. Eine Gesellschaft, die den Sozialstaat zunehmend als behördlich organisierte Auszahlung und Vermittlung von Leistungen wahrnimmt, in der wachsende Armut stabilem Wohlstand gegenübersteht, mißt Wohlfahrtsverbänden keine allzu große Bedeutung bei. Sie werden aus der Sicht vieler Menschen immer mehr Teil des sozialen Systems, auch Teil einer Sozialbürokratie, und sind damit immer weniger außerstaatliche Organisationen, die auf Selbstverwaltung und eigener Gestaltungskraft basieren. Die Schwelle, sich in diesen Verbänden zu engagieren, wird damit höher. Beide Entwicklungen, die Veränderungen im Freizeitverhalten und in der Wahrnehmung von Wohlfahrt, verändern das Ansehen der Verbände mit für sie negativen Konsequenzen. Es wird immer schwerer, aktive Mitglieder zu finden, was den Problemdruck im ehrenamtlichen Bereich verstärkt. Es ist aber auch immer mehr ein Problem, wenigstens zahlende Mitglieder zu finden, womit sich die Abhängigkeit von Kostenträgern sozialer Dienstleistungen und von öffentlichen Zuschüssen erhöht. Die Entfremdung zwischen denen, die in relativem Wohlstand leben, und denen, die an den Rand gedrängt sind, nimmt zu. Für viele Menschen sind steigende Armut und Drogenprobleme gerade in den Ballungszentren zwar öffentlich wahrnehmbar, zuständig ist aber eine anonyme soziale Bürokratie, zu der auch Caritas oder Diakonisches Werk gezählt werden. Schließlich zahlt jeder Bürger, der Einkommen erzielt, nicht nur objektiv, sondern auch aus seiner subjektiven Sicht einen Rekordbeitrag an Steuern und Abgaben, und damit soll es die Sozialbürokratie gefälligst richten. Hohe Spendenaufkommen lassen sich nur durch medienwirksam begleitete Kampagnen erzielen, am besten für Ereignisse in weit entfernten Ländern, und zumeist auch nur für einen eng begrenzten Zeitraum. Die Konkurrenz ist außerdem riesig. Von der durchaus vorhandenen Spendenbereitschaft in Deutschland möchten der kleine Zirkus, der ein Winterquartier benötigt, der örtliche Tierschutzverein, Selbsthilfegruppen, soziale Projekte und Wohlfahrtsverbände gleichermaßen profitieren. Hinzu kommt das Elend der gesamten Welt, hautnah via Bildschirm in die Wohnzimmer [Seite der Druckausg.: 14 ] transportiert, und es ist ja auch nicht das Schlechteste, wenn mit Hilfe deutscher Spenden Wohnhäuser und Kindergärten im kriegszerstörten Bosnien wieder aufgebaut werden können. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Wohlfahrtsverbände sind jedenfalls in diesem Angebot potentieller Spendenempfänger nicht die attraktivste Adresse, um es drastisch zu formulieren. Viele Menschen nehmen deren massive Präsenz im sozialen Bereich zwar zwangsläufig wahr, wissen aber trotzdem nichts über ihre wirkliche Bedeutung für einen funktionierenden Sozialstaat. Und hier komme ich auf meine Bemerkung von zu schwachen Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen zurück. Daß es immer mühsamer wird, engagierte ehrenamtliche Helfer, zahlende Mitglieder und Spender zu gewinnen, ist ja kein Geheimnis und auch nicht so neu. Aber nach meinem Empfinden herrscht eine Weiter so"-Mentalität der verbliebenen Mitstreiter vor. Die vorhandene Arbeit wird einfach auf weniger Schultern verteilt, statt mit modernen Konzepten um neue Mitglieder zu werben. So schwarz, wie ich das Bild bisher gemalt habe, ist die Realität ja nicht. Wohlfahrtsverbände spielen eine bedeutsame Rolle im sozialen Geflecht der Bundesrepublik Deutschland, der sie sich wohl selbst nicht so recht bewußt sind. Sie beschäftigen fast 1,2 Mio. Vollzeitarbeitskräfte, zahlen dafür eine Lohnsumme von knapp 47 Mrd. Mark und setzen jährlich einschließlich der Sachkosten mehr als 60 Mrd. Mark um. Das sind Zahlen eines Großkonzerns. Bei der Betreuung von Alten und Behinderten, in der Jugendhilfe, im Gesundheitswesen spielen die Wohlfahrtsverbände eine teils dominierende Rolle. Dies verpflichtet die Verbände dazu, notwendige Reformen anzugehen und sich damit auf veränderte Bedingungen einzustellen. Und es verpflichtet den Staat, der die Verbände mit der Erfüllung sozialer Aufgaben beauftragt, zur Schaffung vernünftiger Rahmenbedingungen. Die Verbände benötigen dringend eine verläßliche finanzielle Basis für ihre Arbeit. Dazu gehört auch, daß öffentliche Gelder so effizient wie möglich eingesetzt werden. Im Bereich der Personalkosten für unmittelbare soziale Dienstleistungen dürfte kaum Einsparungspotential liegen, im Gegenteil. Sollen diese Leistungen von hoher Qualität sein, ist qualifiziertes Personal erforderlich. Ich glaube aber, daß im organisatorischen Be- [Seite der Druckausg.: 15 ] reich mehr Effizienz durch professionelles Management möglich ist. Hier gibt es ein Potential, dessen Ausnutzung die Verbände selbst am besten beurteilen können. Zudem müssen Wege gefunden werden, um öffentliche Zuschüsse zu verstetigen. Ich könnte mir mehr vertragliche Regelungen vorstellen, die den Verbänden Planungssicherheit geben. In der Regel wird es so sein, daß der Kostenträger einer sozialen Dienstleistung sagt: Das ist die Aufgabe, und das ist der finanzielle Rahmen, der zur Verfügung steht. Wer die Aufgabe im gegebenen finanziellen Rahmen erfüllt oder am besten diesen Rahmen nicht voll ausnutzt, erhält den Zuschlag. Das bedeutet auch, daß bei konkurrierenden Anbietern von sozialen Dienstleistungen eine vergleichbare Kostenstruktur zu schaffen ist. Hierbei spielen steuerliche Regelungen eine wichtige Rolle. Wir müssen uns über dieses Thema intensiv, aber leidenschaftslos unterhalten. Steuerliche Regelungen müssen sich an dem Grundsatz größtmöglicher Effizienz orientieren. Für Anbieter bedeutet das, daß sie ihre rechtliche Konstruktion mit deren steuerlichen Konsequenzen so wählen müssen, wie es einer kostengünstigen Bewältigung der jeweiligen Aufgabe am besten dient. Anders gesagt: Was mit dem Status der Gemeinnützigkeit am effizientesten zu regeln ist, sollen gemeinnützige Anbieter erledigen. Wo wegen der steuerlichen Effekte Genossenschaften oder andere Rechtsformen besser sind, können die Verbände entsprechend reagieren. Das Thema ist für die Zukunft der Wohlfahrtsverbände sehr wichtig und kann in einer Einführungsrede nur angetippt werden. Auf jeden Fall müssen sich Politik und Verbände auf eine vernünftige Regelung verständigen. Aufgabe der Verbände selbst ist es, tragbare Konzepte für die Öffentlichkeitsarbeit in zweierlei Hinsicht zu entwickeln. Zum einen geht es darum, neue Mitglieder zu gewinnen. Zum anderen muß wieder mehr Bewußtsein für die gesellschaftliche Grundlage der Wohlfahrtsverbände und damit für den Sozialstaat geweckt werden. Hier treffen sich die Interessen der Verbände und der Sozialdemokratie. Dabei müssen die Verbände für eine Politik werben, deren Erfolg einen Teil ihrer Arbeit überflüssig machen würde. Ich nenne als Beispiel die enorm wichtige Beratungstätigkeit für Arbeitslose oder für Menschen, die Sozialhilfe benötigen, sich im Dickicht der Vorschriften aber nicht auskennen. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und damit von Ursachen für Armut ist eine der vordringlichen Aufgaben der nächsten Jahre. Die [Seite der Druckausg.: 16 ] Senkung der Arbeitslosenzahlen würde den Sozialstaat finanziell enorm entlasten. Damit könnten auch Mittel für andere drängende Aufgaben, etwa bei der Betreuung alter Menschen, freigesetzt werden. Zu welchen Belastungen eine Politik führt, die längst nicht mehr die Ursachen von Armut als die zentrale Herausforderung sieht, zeigt das Beispiel der Sozialhilfe. Die Pro-Kopf-Ausgaben für die Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt stiegen in den alten Bundesländern zwischen 1980 und 1993 um ganze 2% an. In diesem Zeitraum erhöhte sich aber die Zahl der Leistungsempfänger von 1,3 auf 3,4 Millionen. Das verursachte eine Kostensteigerung in absoluten Zahlen von 163%. In der gesamten Bundesrepublik waren 1993 über fünf Mio. Menschen auf Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen angewiesen. Es ist völlig klar, daß angesichts solcher Zahlen eine Politik der Absenkung von Leistungen nicht nur zynisch gegenüber den Betroffenen ist, sondern im Endeffekt auch nicht zu einer mittelfristigen Kostensenkung führt, zumal auf der anderen Seite durch Kürzungen im Bereich des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe noch mehr Menschen in die Sozialhilfe fallen. Hier sind dringend Wege erforderlich, um Sozialhilfeempfängern wieder das Bestreiten des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Ich hoffe, diese Tagung kann dazu beitragen, zwischen den Wohlfahrtsverbänden, Politik und Wissenschaft Wege für Reformen auszuloten. Der Anstoß muß aus den Verbänden selbst kommen, und ich wünsche mir, daß nicht die Politik fertige Konzepte präsentiert, sondern im Dialog praxisorientierte Lösungen gefunden werden. Auf jeden Fall ist es höchste Zeit, die konservative Hegemonie bei der Diskussion über den Sozialstaat zu durchbrechen und diese notwendige Diskussion um die Frage der künftigen Arbeit und Aufgabe der Wohlfahrtsverbände zu erweitern. Ich hoffe, daß die heutige Veranstaltung dafür notwendige Impulse gibt. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000 |