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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 23 ]


Gabriele Mertens
Der interkulturelle Ansatz in der Flüchtlingsarbeit




Migration als gesellschaftliches Dauerphänomen

Wir alle, die wir in der Arbeit mit Migranten stehen, hören immer wieder die Rede von der „Ausländerschwemme", der „Asylantenflut" und ähnlichem. Dies suggeriert, daß Migration, also auf Verbleib angelegte Wanderung in neue Lebenswelten, bedrohlich für uns, die Aufnahmegesellschaft, sei. Suggeriert wird ferner, daß sie ein historisch neues Phänomen sei, das in diesem Ausmaß in früheren Zeiten nicht stattgefunden habe. Tatsache hingegen ist, daß Deutschland zu Beginn unseres Jahrhunderts ein klassisches Auswanderungsland war, vor allem in Richtung Übersee, und seit etwa Mitte unseres Jahrhunderts eine starke Zuwanderung erfährt. Die Zuwanderer waren vor allem hunderttausende Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die sog. Gastarbeiter, insbesondere aus den süd- und später auch aus südosteuropäischen und nordafrikanischen Ländern. Insofern ist Migration in Deutschland durchaus kein neues Phänomen, vielmehr ist sie selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Realität seit vielen Jahrzehnten.

Eine Folge dieser seit Jahrzehnten sich vollziehenden Migration ist die Umgestaltung von der national homogenen und vermeintlich monokulturellen zur multikulturellen Gesellschaft. Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft selber, wenn auch in der politischen Auseinandersetzung immer wieder beliebter Streitpunkt, ist längst zur nüchternen Beschreibung der gesamtgesellschaftlichen Realität in der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Es geht schon lange nicht mehr um die Frage, ob wir mit Menschen anderer Nationalität und anderer Kultur zusammenleben möchten, sollen oder wollen - das WIE dieses Zusammenlebens steht zur Entscheidung. Multikulturelle Gesellschaft beschreibt lediglich die Tatsache, daß Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung auf Dauer bei uns leben werden. Über die Art der Kommunikation und gar der Partizipation der Migranten an der Gestaltung der AufnahmegeseIIschaft ist damit nichts gesagt.

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Flüchtlingsarbeit im Kontext der allgemeinen Sozialarbeit

Der interkulturelle Ansatz in der Arbeit mit Flüchtlingen und Asylbewer
bern impliziert die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Kulturen und vertritt somit einen emanzipatorischen Anspruch. Der Migrant, der Zugewanderte, wird nicht primär als defizitär erlebt, dem zur Bewältigung seiner neuen Lebenssituation bestimmte kulturspezifische Voraussetzungen fehlen, sondern als jemand mit eigenen, möglicherweise von anderen kulturellen Traditionen geprägten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für die konstruktive Bearbeitung seines Alltags in der ihm zunächst fremden Umwelt nutzbar zu machen sind.

Alle Sozialarbeit birgt die Gefahr in sich, daß sie den Klienten in Abhängigkeit hält, daß sie sich im Spannungsfeld eines Machtgefälles realisiert, aus dem der Sozialarbeiter einen guten Teil seiner beruflichen Identität bezieht. Flüchtlingsarbeit ist Sozialarbeit und besonders stark in der Gefahr, dieses als gegeben zu akzeptieren, zumal der Sozialarbeiter in der Arbeit mit dem ausländischen Flüchtling Freiheit, Sicherheit, Reichtum etc. repräsentiert, also all das, was der Flüchtling eben nicht besitzt und was möglicherweise der Grund für seine Migration ist.

Dieses Machtgefälle besteht, und seine Bewußtmachung scheint mir um so wichtiger, als sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und sozio-kulturelle Sinnzusammenhänge und Deutungsmuster mit einfließen könnten in eine unbewußte Rollendefinition des Sozialarbeiters einerseits und des Klienten andererseits. Geschieht dieses, so ist der Flüchtling reduziert auf vermeintliche Defizite, die der Sozialarbeiter zu beheben hat.


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Interkulturelle Arbeit mit Flüchtlingen

Dieser monokulturell strukturierte Ansatz von Sozialarbeit mit Migranten ist der gesellschaftlichen Realität einer faktisch längst zum Einwanderungsland gewordenen Bundesrepublik nicht angepaßt. Sie hat ausschließlich den Zuwanderer als Ziel ihrer Arbeit und wird in der Regel mit der Methode der Einzelfallhilfe diesem sich nähern. Unbestritten ist, daß in der Tat ein wesentlicher Teil der Flüchtlingssozialarbeit vorrangig mit Einzelfallhilfe zu lösen ist. Wesentlich allerdings ist in diesem Zusam-

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menhang, daß der interkulturelle Ansatz in der Arbeit mit Flüchtlingen und Asylbewerbern ausdrücklich die Aufnahmegesellschaft einbezieht, so daß eine methodische Umorientierung in der Flüchtlingssozialarbeit zu Gruppen- und Gemeinwesenarbeit erforderlich scheint. Nicht die einseitige Anpassung des Migranten an die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen der Aufnahmegesellschaft kann das Ziel einer interkulturellen Arbeit sein, vielmehr der wechselseitige, auf grundsätzlicher Gleichberechtigung beruhende Prozeß des Kennenlernens des jeweils anderen und - so gut es geht - die gegenseitige Akzeptanz bis hin zur Wertschätzung. Die Bereicherung, die wir in der Auseinandersetzung mit Elementen fremder Kulturen erleben, ist allerdings nicht jederzeit und jedermann ohne weiteres zugänglich, denn diese Bereicherung setzt die Bereitschaft voraus, die eigenen kulturell geprägten Bewertungsmuster und Verhaltensweisen infrage stellen zu lassen. Dieses bedeutet eine Verunsicherung, die auch uns, die wir in der Arbeit mit Migranten stehen, nicht immer nur willkommen ist. Und es gibt in diesem Zusammenhang durchaus die Diskussion über die Gleichwertigkeit der Kulturen - etwa in der Frage einer uns fremden kulturspezifischen Ausprägung der Geschlechterrollen. Der hehre Anspruch der Interkulturalität wird auf eine arge Probe gestellt, wo etwa Sozialarbeiterinnen unseres Caritas-Informationszentrums zum Asylverfahren in der Zentralen Aufnahmestelle (ZAST) Halberstadt mit männlichem Dominanzgehabe von Antragstellern konfrontiert werden, das auf dem kulturellem Hintergrund des Herkunftslandes zwar verständlich sein mag, für uns allerdings nicht akzeptabel ist.

Interkulturelle Arbeit mit Flüchtlingen heißt also auch nicht, blindlings alle kulturellen Muster der Migranten als höherwertig zu akzeptieren, sondern heißt, auf der Basis der prinzipiellen Gleichwertigkeit auftretende Konflikte bewußt aufzunehmen und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu suchen.


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Praxisbeispiele

Lassen Sie mich versuchen, das bisher theoretisch Beschriebene mit Beispielen aus der Arbeit des Caritasverbandes für das Bistum Magdeburg zu belegen.

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Wir haben in Magdeburg die Zentrale Beratungsstelle für Vietnamesen in Sachsen-Anhalt, und anhand der Entwicklung dieser Arbeit läßt sich der interkulturelle Ansatz in der Migrantenarbeit gut veranschaulichen. Begonnen hat diese Arbeit vor etwa zwei Jahren mit einem vietnamesischen Mitarbeiter, einem ehemaligen Vertragsarbeitnehmer, der in der DDR studieren konnte und als Ingenieurpädagoge tätig war. Betroffen von der Not seiner Landsleute - sowohl der ehemaligen Vertragsarbeitnehmer wie auch der vietnamesischen Asylbewerber, die nach der Wende aus verschiedenen osteuropäischen Staaten zu uns kamen - wandte er sich an den Caritasverband mit der Frage, ob es nicht möglich sei, eine Beratungsstelle für diesen Personenkreis einzurichten. Nachdem dieses geschehen war, begann dieser Kollege mit seiner Arbeit. Er beriet täglich stundenlang einzelne Vietnamesen, erklärte die komplizierten ausländerrechtlichen Voraussetzungen für ein Bleiberecht in Deutschland, vertröstete sie immer wieder während der langwierigen Verhandlungen des Bundes und der Länder in bezug auf die sie erwartende Zukunftsperspektive, begleitete sie zu Ämtern und Behörden, zu Arbeitgebern und zu Wohnungsbaugenossenschaften. Und auch in seiner Freizeit wurde er von ratsuchenden Landsleuten aufgesucht. Dieses sei vietnamesische Art, erklärte er mir, und meine Gedanken über Standards professioneller Sozialarbeit äußerte ich zunächst nur sehr zurückhaltend. Im nachhinein wage ich zu behaupten, daß in dieser Phase eine Veränderung der Arbeit eingeleitet wurde. Wir dachten gemeinsam darüber nach, was das Leben von Vietnamesen in Sachsen-Anhalt erleichtern könnte und kamen darauf, daß die vietnamesische Identität vor allem in der Gruppe, der Familie und dem Gemeinwesen verankert ist und daß es in der Arbeit darum gehen sollte, diese Identität mehr als bisher erfahrbar zu machen. So wurde in der Beratungsstelle der Termin des vietnamesischen Tetfestes zum Anlaß genommen, die vietnamesischen Vertragsarbeitnehmer und Asylbewerber mit ihren Familien und deutsche Kolleginnen und Kollegen sowohl aus dem Caritasverband als auch, und vor allem, aus dem Sozialamt, der Ausländerbehörde und dem Ausländerreferat des Ministeriums einzuladen. Für viele der deutschen Gäste war es wohl der erste Kontakt zu vietnamesischen Familien außerhalb eines klar begrenzten Arbeitsauftrages und die erste Gelegenheit, Bekanntschaft mit der vietnamesischen Küche und mit vietnamesischen Festtagsbräuchen zu machen. Die Fortführung dieses gelungenen Tetfestes war ein Familienfest, zu dem eine Instrumentalgruppe eines

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Magdeburger Gymnasiums und die Jugendlichen aus der benachbarten evangelischen Kirchengemeinde eingeladen wurden. Bald waren persönliche Kontakte zwischen deutschen und gleichaltrigen vietnamesischen Jugendlichen geknüpft, die in Hausaufgabenhilfe und gemeinsamen Unternehmungen in der Freizeit ihren Ausdruck fanden. Im Weihnachtsgottesdienst dieser Gemeinde übernahm eine vietnamesische Jugendliche im Krippenspiel eine Engelrolle. Aus diesen inzwischen engeren persönlichen Kontakten entstand die Idee, das nächste religiöse Fest der buddhistischen Vietnamesen zum Anlaß für den Besuch der vietnamesischen Pagode in Hannover zu machen und die buddhistischen Traditionen dieses Volkes kennenzulernen. Der Abt der Pagode begrüßte die Mitarbeiter des Caritasverbandes besonders herzlich, und es war für die vietnamesischen wie für die deutschen, für die buddhistischen wie für die christlichen und die weltanschaulich nicht gebundenen Mitglieder dieser Reisegruppe ein beeindruckendes Erlebnis, buddhistische Frömmigkeit und vietnamesische Lebensart zu erleben.

Wären diese Feiern und Besuche einmalige Ausflüge in eine exotische Welt geblieben, so wäre der interkulturelle Ansatz verfehlt. Daß es sich um einen prozeßhaften Perspektivenwechsel handelt, wird vielleicht am deutlichsten an der Einladung einer katholischen Kirchengemeinde, in einem Sonntagsgottesdienst über die Situation von Vietnamesen in ihrer Heimat und in Deutschland zu berichten.

Inzwischen ist es selbstverständliche Tradition, daß gemeinsam deutsche und vietnamesische Feste gefeiert werden, daß deutsche Kollegen nicht nur die vietnamesische Küche, sondern auch die vietnamesische Art kennengelernt haben, Feiertage zu begehen, die Ahnen zu ehren, Konflikte zu vermeiden, Ehrerbietung auszudrücken oder Hierarchiekämpfe auszutragen. Und für die vietnamesischen Bürger gab es viel Gelegenheit, die deutsche Art des Feierns kennenzulernen, festzustellen, wie wir miteinander umgehen, was für uns fremd, was reizvoll, was eher schwierig für Deutsche ist.

Wir sind im Caritasverband in der glücklichen Lage, weitere ausländische Mitarbeiter unter uns zu haben, nämlich eine Russin, einen Holländer, einen Afrikaner. Und so lernen wir voneinander, jedenfalls versuchen wir es, daß es viele Arten gibt, miteinander umzugehen, und daß es ein einfa-

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ches Richtig und Falsch dann nicht geben kann, wenn Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung einen gemeinsamen Weg gehen wollen.

Am einfachsten ist es vielleicht mit unserem Spielmobil für Migrantenkinder. Schon der Name besagt, daß in diesem Arbeitsfeld Aufenthaltsstatus, Nationalität oder andere - allzuoft stigmatisierende - Zuschreibungen ohne Bedeutung für uns sind. Wichtig ist das Kriterium des Zugewandertseins, noch wichtiger ist das des Kindseins. Ob wir mit Kindern bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge ein Fest gestalten, ob wir mit Kindern in der ZAST Halberstadt oder mit Aussiedlerkindern einen Spielnachmittag veranstalten: Wo immer es möglich ist, kommen die Kinder, Aussiedlerkinder, Kinder von Asylbewerbern, Kinder aus Kriegsgebieten - und Kinder aus der deutschen Nachbarschaft und entdecken die gemeinsame Lust am Spiel. Daß dies nicht ohne Schwierigkeiten verläuft, ist selbstverständlich.


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Zusammenfassung

Zurück auf die theoretische Ebene: Interkulturelle Arbeit mit Migranten, mit Flüchtlingen, setzt an der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Kulturen an, ohne zu verkennen, daß die sozio-kulturellen Strukturen der Aufnah
megesellschaft dominieren und ihre Kenntnis sowie die Fähigkeit, entsprechende Handlungsmuster zu entwickeln, Voraussetzung sind für einen emanzipierten Verbleib in dieser Gesellschaft. Emanzipation aber fordert früher oder später Partizipation ein, auf der gesellschaftlichen wie auf der politischen Ebene. Emanzipation in unserem Kontext bedeutet auch: Interkulturelle Sozialarbeit mit Flüchtlingen muß deren Ressourcen stärken, muß auf Selbstorganisation zielen, muß - wenn es sich um Menschen mit Bleiberecht handelt - die Balance finden zwischen der Wahrung der kulturellen Identität des Zugewanderten und den sich nur sehr allmählich verändernden Werten und Normen der Aufnahmegesellschaft. Diesen Wandlungsprozeß zu begleiten und zu unterstützen, ist die Aufgabe interkulturell orientierter Sozialarbeit mit Migranten.

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Literatur

Börsch, E.: Sozialarbeit mit Flüchtlingen, in: Caritas - Migration im Wandel, Lambertus,März 1994.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000

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