FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 47]


Geerd Woortmann
Stellungnahme:
Plädoyer für eine Aktion „Neue Ausbildungsberufe"


Die berufliche Ausbildung in Deutschland ist ein Spiegelbild der Beschäftigung, und zwar quantitativ wie qualitativ.

Von der Globalisierung der Produktions-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte ist die deutsche Wirtschaft seit vielen Jahren betroffen: mit wachsenden Verlusten an Arbeitsplätzen, aber auch zunehmenden Beschäftigungschancen in tertiären Sektoren; Stichworte:

  • Megatrend von der Produktions- zur Dienstleistungswirtschaft;

  • Verlagerung von industriellen Produktionsstätten ins Ausland, die für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft insgesamt wichtig ist;

  • Outsourcing und Veränderung der Arbeitsorganisationen;

  • Kundenorientierung und neue Vertriebsformen beeinflussen die Mitarbeiterstruktur;

  • zunehmende Dienstleistungskomponenten an den produktiven Arbeitsplätzen;

  • Erhalt eines Industriepotentiales von beachtlicher Größe mit dem Zwang zu einer höheren Qualifizierung der Beschäftigten;

  • Reduzierung von Arbeitsplätzen bei den klassischen Dienstleistungssektoren, also Banken, Versicherungen, Handel;

  • Reduzierung von Ausbildungsplätzen für Facharbeiter;

  • Änderung der Inhalte vorhandener Ausbildungsberufe;

  • Notwendigkeit neuer Berufe, weil die Rekrutierung in den wachsenden Branchen nicht mehr allein mit Quereinsteigern oder Umschülern sichergestellt werden kann.

[Seite der Druckausgabe: 48]

Aktion Plus führt zur Trendwende

Die Lehrstellenaktion Plus setzt kurzfristig bei der Aktivierung von Lehrstellen in den klassischen Wirtschaftszweigen an. Das Reservepotential zusätzlicher Lehrstellen in den klassischen Wirtschaftszweigen ist begrenzt und wird mit der Aktivierung noch nicht oder früher ausbildender Betriebe nicht mehr das Ausmaß annehmen können wie in den frühen achtziger Jahren.

Ordnungspolitik ist gefragt

Die Ordnungspolitik in der beruflichen Bildung hat in den vergangenen Jahren reagiert durch Novellierung von Berufen, auch im Hinblick auf ein höheres, teilweise theoretischeres Niveau. Damit gelang es dem Berufsbildungssystem als einzigem Bildungssektor, sein Niveau insgesamt anzuheben. Gleichzeitig rührte dies zu einer tendenziell höheren Hürde für schwächere Schulabgänger, die immer größere Probleme bei der Integration in das Ausbildungssystem haben.

Ziel der Aktion „Neue Ausbildungsberufe" ist:

  • Bewußtsein schärfen, daß Änderungen in der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur sich in neuen Berufsprofilen niederschlagen.

  • Minimierung des „timelags" zwischen dem Entstehen neuer Berufsprofile und der tatsächlichen Ordnungsarbeit.

  • Zusätzliche Ausbildungskapazitäten schaffen.

Dabei geht die Wirtschaft von dem Berufsprinzip aus mit dem Ziel einer umfassenden Qualifizierung und Handlungskompetenz und als Bestandteil des deutschen Tarifsystems.

[Seite der Druckausgabe: 49]

Gründe für neue Ausbildungsberufe

Im einzelnen werden folgende Gründe für neue Berufe dargestellt und Beispiele vorgelegt:

  1. Veränderte Arbeitsorganisationen in Verbindung mit dem verstärkten Outsourcing verlangen qualifizierte Monteurberufe, z.B. Fertigungsmonteur, aber auch theorieentlastete Monteurberufe, z.B. Elektroanlagenmonteur. Kunststoffbauer; für spezielle Produktionen, z.B. Prüfgeräteelektroniker, PC-Wartungsmechaniker, Mikrosystemtechnologe.

  2. Die Privatisierung bisher staatlicher Aufgaben hin zu kundenorientierten Dienstleistungen führt zu einem neuen Bedarf, z.B. im Gesundheits- und Pflegewesen oder in der boomenden Sicherheitswirtschaft. Beispiele: Ein bundeseinheitlicher Pflegeberuf, Kaufmann im Gesundheits- und Pflegewesen, Sicherheitsfachmann.

  3. Die Kundenorientierung wird zum unternehmenspolitischen Ziel Nummer eins. Dieses kommt in den kaufmännischen Berufen bisher zu kurz. Neben der Novellierung der vorhandenen Berufe werden vorgeschlagen: Kaufmann für EDV-Systemtechnik als kunden- und dienstleistungsorientierter Beruf, als Ergänzung zu dem verwaltungsinternen DV-Kaufmann oder neue Branchenberufe (s. Ziff. 4).

  4. Wachsende Dienstleistungsbranchen brauchen eigene Ausbildungsberufe, z.B. Kaufmann für Messen und Ausstellungen, Tagungskaufmann, Sportkaufmann, Kaufmann für Sicherheitstechnik. Der häufig hierfür empfohlene verwaltungsorientierte Bürokaufmann ist nicht kundenorientiert und führt nicht zu einer Identifizierung der neuen Branchen mit dem eigenen Ausbildungsberuf. Diese Berufe werden häufig als zu spezialisiert kritisiert. Letztlich handelt es sich um kundenorientierte Dienstleistungskaufleute mit gemeinsamen Inhalten.

  5. Die Verbindung von verkäuferischen Tätigkeiten und praktischer Kundenbetreuung wird immer wichtiger. Hierfür steht das Beispiel eines Möbelservicetechnikers.

    Im Handel zusätzlich notwendig: Kaufmann für Warenwirtschaft, Kundenberater, Automobilkaufmann.

[Seite der Druckausgabe: 50]

  1. Die Wiederverwendung abgenutzter Produkte führt zu neuen Rohstoffen. In der Recyclingwirtschaft wird mit zunehmender Professionalisierung ein Qualifizierungsbedarf immer notwendiger, z.B. Recyclingfachkraft.

  2. In der Freizeitwirtschaft wächst der Anspruch der Kunden an zuverlässige und hohe Leistungen der Unternehmen in dieser Branche. Deshalb der Vorschlag, z.B. einen Reiseleiter als Beruf zu schaffen, evtl. mit Ausbildungsphasen im Ausland.

  3. Die Medienwirtschaft entwickelt zunehmend deutlichere Berufsprofile. Daher der Wunsch nach speziellen Berufen wie z.B. Mediengestalter, Film- und Videoeditor, Medienoperator, Kaufmann in der audiovisuellen Medienproduktion.

  4. Wachsende Schutzarbeiten an den Bauwerken der vergangenen fünf Jahrzehnte, z.B. Bauwerksabdichter, Holz- und Bautenschützer.

  5. Strukturänderungen in der Gastronomie, z.B. Fachmann für Systemgastronomie.

Erwachsenengerechtere Ausbildungsberufe

Die Ordnungspolitik geht immer noch von dem „klassischen" Jugendlichen im Alter von 16 Jahren aus. Dabei wird verkannt, daß diese sich häufig als junge Erwachsene mit 18 bis 20 Jahren um eine Lehrstelle bewerben. Mit dem Hineinwachsen in das Erwachsenenalter können sie Berufe erlernen, die bisher Erwachsenen vorbehalten blieben, z.B. Reiseleiter, Sicherheitsfachmann, Automobilkaufmann. Erwachsenengerechte Berufe dem Ausbildungssystem vorzuenthalten hieße, dem Ausbildungssystem die Perspektiven zu rauben, da das durchschnittliche Alter der Lehrstellenbewerber weiter steigen wird (Schulabgänger, Studienabbrecher).

Ausbildungsreife verbessern

Wachsende Probleme macht die sinkende Ausbildungsreife vieler Jugendlicher. Hierbei geht es nicht nur um Defizite bei Deutsch- und Rechen-

[Seite der Druckausgabe: 51]

kenntnissen oder technischem Verständnis, sondern auch bei der sozialen Kompetenz. Hier sind die allgemeinbildenden Schulen gefordert, selbst wenn sie die Defizite aus den Elternhäusern nicht abbauen können. Die Kultusminister sollten sich ihrer Verantwortung mehr als bisher bewußt werden, um die Jugendlichen in die Lage zu versetzen, die Einstellungstests der Unternehmen und die Ausbildung erfolgreich zu bestehen.

Betriebliche Finanzierung - dynamische Komponente

Nach dem Motto „wenn das Produkt stimmt, sind die Unternehmen bereit zu zahlen" relativiert sich das berechtigt gestiegene Kostenbewußtsein, wenn die Unternehmen aller Wirtschaftszweige in adäquaten Berufen ausbilden können, ihnen genügend Zeit eingeräumt bleibt und sich die Ausbildungsvergütungen in Grenzen halten.

Zwei Drittel in betrieblicher Ausbildung

Die Wirtschaft geht davon aus, daß sie auch in Zukunft zwei Drittel der Schulabgänger ausbilden wird. Ergänzend wird sie sich engagieren bei den Berufsakademien oder den dualen Modellen in Verbindung mit einem Fachhochschulstudium.

Für die klassische Ausbildung muß dabei das Ziel lauten: In den nächsten drei bis vier Jahren soviel neue und attraktive Ausbildungsberufe zu schaffen, daß rund 10% der Ausbildungsplätze auf sie entfallen können. Die Bereitschaft ist erfreulich gewachsen. Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung sind hoffentlich in der Lage, diese Einsicht konsequent und kurzfristig in neue Ausbildungsberufe umzusetzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

Previous Page TOC Next Page