FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 11 ]


Sigrid Skarpelis-Sperk

Einführung


Die Gründe für die Beschäftigung mit dem Thema Entwicklung der Klein- und Mittelbetriebe und deren Mitbestimmungsperspektiven liegen auf der Hand:

  1. In Deutschland wie in den Ländern der Europäischen Union ist die Wirtschaftsstruktur von mittleren und kleinen Unternehmen geprägt.

Im Jahre 1990 waren in der EU etwa 71% der Erwerbstätigen in Unternehmen beschäftigt, die weniger als 500 Mitarbeiter hatten - bei einem durchschnittlichen Umsatz von 750.000 ECU. In Deutschland stehen den rund 5.800 Großunternehmen in Ost und West rund 3 Millionen mittelständische Unternehmen gegenüber. In den alten Bundesländern sind das 99,65% aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen. Sie beschäftigen 19,9 Millionen Menschen, d.h. ca. 67% der Arbeitnehmer und bildeten im Jahre 1995 ca. 950.000 junge Menschen aus, damit gewährleisteten sie 80% der gesamten Berufsausbildung. Der Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung beträgt etwa 41%, an den steuerpflichtigen Umsätzen 45,9% und 44% an den Bruttoinvestitionen.

Ihre Dynamik für den Arbeitsmarkt war in den letzten Jahrzehnten und Jahren hoch: Zwischen 1987 und 1994 entstanden in diesen Betrieben im Bundesgebiet West rund 2 Millionen neue Arbeitsplätze, während in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg) 400.000 Arbeitsplätze abgebaut wurden.

Im Transformationsprozeß in den neuen Bundesländern spielten und spielen sie weiterhin die Hauptrolle. Nach Untersuchungen des Instituts für Mittelstandsforschung sind bis Ende 1995 rund 470.000 mittelständische Existenzen marktaktiv geworden. Zusammen mit in der ehemaligen DDR Selbständigen gibt es rund 500.000 selbständige Existenzen und Betriebe mit rund 3,4 Millionen Beschäftigten.

[Seite der Druckausg.: 12 ]

  1. Die überwiegende Zahl aller kleinen und mittleren Unternehmen ist nicht im Bereich des produzierenden Gewerbes, sondern im Handwerk und im Dienstleistungsbereich tätig.

Einen wesentlichen Aufschwung haben nach allgemeiner Meinung die Dienstleistungen genommen. Wenn man sich den Bereich aber genauer ansieht, so muß man feststellen, daß sehr vieles Spekulation ist. Aufgrund der fehlenden Daten - der erbärmliche Zustand der Statistik ist dabei kein deutsches Spezifikum, sondern OECD-weit - ist über die Situation und die Entwicklungsperspektiven tatsächlich wenig bekannt. Weit verbreitet ist das Hilfsmittel, den Anteil der Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) - der ja über 60% betragen soll - als Restgröße zu ermitteln:
also BIP minus Landwirtschaft minus sekundärer Sektor ergibt tertiärer Sektor.

Für ernsthafte Analysen nicht sehr befriedigend, aber für unsere Zwecke hier mag ausreichen, daß das Volumen der Dienstleistungen nach übereinstimmender Einschätzung aller Experten und Nichtexperten ansteigt und die Strukturen im Handel, im Tourismus, bei den personennahen Dienstleistungen und den technischen Dienstleistern klein- und mittelunternehmenszentriert, wettbewerbsintensiv und hoch dynamisch sind, was Wachstum und Beschäftigung angeht.

So haben Kleinbetriebe bis zu 20 Beschäftigte seit den siebziger Jahren (Betriebsplus 260.000) über 1 Million zusätzliche Stellen geschaffen. Allein im wirtschaftsbezogenen Dienstleistungsbereich hat die Beschäftigung in den beiden letzten Jahrzehnten um 80% oder 1,4 Millionen zugenommen. Auch wenn sich der Beschäftigungszuwachs 1992 bis 1994 stark verlangsamt hat, waren es immer noch 104.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Mit rund 3 Millionen Beschäftigten übertrifft dieser Wirtschaftszweig die Beschäftigtenzahlen von Maschinenbau, Elektroindustrie und Automobilindustrie. Auch der Tourismus ist mit rund 6% BIP-Anteil und 53.000 Betrieben mit über 2 Millionen Beschäftigten ein dynamischer und bis in die jüngste Zeit expansiver Wirtschaftsbereich.

Wichtigster Bereich für die Beschäftigung ist das Handwerk. Nach der Handwerkszählung im März 1995 arbeiten im Deutschland rund 564.000 Handwerksbetriebe mit 6,2 Millionen Beschäftigten, davon 4,8 Millionen in den alten und rund 1,4 Millionen in den neuen Bundesländern.

[Seite der Druckausg.: 13 ]

Allein in den alten Bundesländern lag die Zahl der Beschäftigten bei rund 1,2 Millionen, d.h. um rund ein Drittel über dem Niveau der letzten Handwerkszählung von 1977. Von 1989 bis heute ist die Zahl der Handwerksbetriebe von 82.700 auf 118.000 gestiegen, die Zahl der Beschäftigten erhöhte sich von 426.000 auf knapp 1,4 Millionen. Dies ist natürlich in erster Linie dem Aufbau des Handwerks in den neuen Bundesländern zu verdanken, zeigt aber doch eine sehr positive Tendenz.

  1. Auch für die absehbare Zukunft ist nicht mit einer Trendumkehr zu Lasten der kleinen und mittleren Unternehmen zu rechnen, wohl aber mit Strukturbrüchen und einer erheblichen Dynamik innerhalb des Dienstleistungsbereichs.

Vier Tendenzen bzw. Entwicklungen sind für die weiterhin große Dynamik im Bereich der kleinen und mittleren Betriebe verantwortlich:

  • Großbetriebe im Produktionsbereich haben in den vergangenen Jahren Arbeits- und Funktionsbereiche ausgelagert - in unterschiedlichen Volumina und den verschiedensten rechtlichen Konstruktionen. Auch wenn derzeit bereits gegenläufige Tendenzen im Produktionsbereich erkennbar sind, haben ähnliche Entwicklungen im Dienstleistungsbereich begonnen, so daß per Saldo nicht von einer Trendumkehr gesprochen werden kann.
  • Insbesondere in Deutschland hat die Zahl der Neugründungen kleiner und mittlerer Unternehmen seit der deutschen Einheit - bedingt durch den Nachholbedarf in den neuen Bundesländern - deutlich zugenommen. Das Niveau der Neugründungen flacht zwar nunmehr deutlich ab, aber eine Entwicklung in Richtung großer Betriebe ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
  • Durch die Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik Deutschland und den Fadenriß in der Entwicklung Ost ist mit einer steigenden Zahl von Liquidationen und Insolvenzen zu rechnen. Noch ist zwar der Saldo von Unternehmensgründungen und Liquidationen im Westen wie im Osten positiv, aber die Betriebsstillegungen und Pleiten nehmen vor allem im Osten besorgniserregend zu. So standen 524.000 Neugründungen im Bundesgebiet 394.000 Stillegungen gegenüber, der Saldo war also mit 130.000 positiv, aber die Zahl der Insolvenzen betrug

    [Seite der Druckausg.: 14 ]

    1995 schon über 22.000. Und die Entwicklung im Jahre 1996 wird deutlich negativer eingeschätzt. Speziell im Osten - wenn die ersten Tilgungen der verschiedensten öffentlichen Mittelstandskredite anlaufen - ist mit einer deutlich steigenden Insolvenzwelle zu rechnen.

  • Ein weiterer Bereich mit hoher Dynamik, bei dem wir auf Schätzungen angewiesen sind und mit noch durchaus unsicherem Entwicklungstrend, ist das Problem Unternehmensübergabe aus Altersgründen. Die Gründergeneration der Unternehmer scheidet zunehmend aus Altersgründen - aber auch „gesättigt" - aus der Unternehmensführung aus. Im Zeitraum von 1996 bis 2000 schätzt das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) die Zahl der Ausscheidenden auf 300.000 Unternehmer, allein im Handwerk auf 70.000. Die schlechte wirtschaftliche Lage könnte dabei viele zur Betriebsaufgabe und Realisierung der vorhandenen Vermögenswerte vor allem im Immobilienbereich veranlassen. Umgekehrt bieten sich Chancen für Übernahmen außerhalb der Familie oder aus der Belegschaft heraus.

Aus allen vier genannten Entwicklungen, der Auslagerungen aus Großbetrieben, den Neugründungen, den Betriebsschließungen und Insolvenzen sowie den Betriebsübergaben aus Altersgründen, ergeben sich zusammen erhebliche wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Strukturveränderungen, die sich massiv auf die materielle, soziale und rechtliche Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben auswirken. Noch mehr als in der Vergangenheit wird angesichts dieser Entwicklungen im Bereich der kleinen und mittleren Betriebe ein erheblicher Handlungsbedarf auf der betrieblichen und gesellschaftlichen Ebene entstehen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aber in etwa der Hälfte der KMU - bei den kleinen Betrieben wahrscheinlich bei mehr als 60% - ohne jede betriebliche Interessenvertretung, in einer Zeit hoher Dynamik bei absehbar drohenden Betriebsschließungen bzw. Insolvenzen eine mehr als unbefriedigende Vorstellung.

Page Top

Wie reagiert die Gesellschaft und die Politik?

Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung will diese Entwicklungen entweder nicht sehen oder übergeht sie bewußt. Im Bericht des BMWi an den Wirtschaftsausschuß des Bundestages vom März dieses Jahres „Mittel-

[Seite der Druckausg.: 15 ]

standspolitik für mehr Selbständigkeit und Beschäftigung" beispielsweise ist keine der wesentlichen Entwicklungen auch nur erwähnt, und als Antworten auf die Zukunftsfragen wurden allein die Reduzierung der Lohnzusatzkosten und im Arbeitsrecht für den Bereich der kleinen Unternehmen die erheblichen Verschlechterungen im Kündigungsschutz und die Ausweitung der befristeten Beschäftigung durchgesetzt. Diese Verschlechterungen gefährden indirekt die Mitbestimmung, weil die Wahrnehmung der Rechte angesichts der leicht durchzusetzenden Kündigungen in Kleinbetrieben immer schwieriger wird.

Nun muß man dieser Regierung im Prinzip dankbar sein, wenn sie auf neue gesetzliche Regelungen verzichtet und die Regelung den Sozialpartnern überläßt, weil die Erhaltung des Status quo im Regelfall die bessere Lösung ist und die Regelung der spezifischen Produktions- und Organisationsgegebenheiten und -entwicklungen durch die Sozialpartner im Regelfall die angemessenere Lösung war und ist. Aber gerade hier - in einem wachsenden Bereich mit zunehmender Dynamik und damit einem erhöhten Bedarf an neuen, flexiblen Regelungen - sperrt sich der Gesetzgeber bzw. der Bundesarbeitsminister, die Sozialpartner per Tarifvertrag neue flexiblere Lösungen für Klein- und Kleinstbetriebe erproben zu lassen.

In dem sehr sorgfältig erarbeiteten Entwurf eines gemeinsamen Positionspapiers „Perspektiven für die Mitbestimmung" ist meines Erachtens zu Recht angemerkt, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nachkriegszeit von einer „politischen Kultur der Integration" geprägt war, an deren Stelle heute eine „facettenreiche Politik der sozialen Spaltung" getreten ist. In einem solchen Klima „bleibt außer Acht, daß die Erfolge unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheidend auf ihrer strikten Sozialbindung und einer sozialpartnerschaftlichen Betriebsverfassung beruhen."

Weder in der politischen Debatte noch im öffentlichen Bewußtsein spielen die Fragen einer demokratischen Reorganisation der Wirtschaft und Gesellschaft durch Mitbestimmung und Beteiligung noch eine wesentliche Rolle: Die aktuellen Probleme des deutsch-deutschen Zusammenwachsens und die Bewältigung der strukturellen Krisen sowie der Druck der Massenarbeitslosigkeit haben alle Kräfte absorbiert. Von vielen wird dabei übersehen, wie notwendig gerade in Zeiten von Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen konsensuale sozialpartnerschaftliche Regulierungen sind.

[Seite der Druckausg.: 16 ]

In einer Zeit, in der in vielen Fällen nicht die Großen die Kleinen fressen, sondern die Schnellen die Langsamen, kann das Austragen von Konflikten statt Kooperation unsinnig viel Kraft und vor allem wertvolle Zeit kosten.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat schon in ihrem Wahlprogramm von 1994 die Notwendigkeit eines Ausbaus der Mitbestimmung gesehen, vor allem um den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Prozeß der Globalisierung und Dezentralisierung der Unternehmen sowie den Problemen der Interessenvertretung in Kleinbetrieben Rechnung zu tragen.

Wenn es nicht bei gut gemeinten Beschlüssen bleiben soll, ist es notwendig, mit Experten auszuleuchten, ob

  • es ausreicht, den Geltungsbereich gesetzlicher Regelungen und Praktiken auszuweiten oder
  • Regelungen gefunden werden müssen, die den spezifischen Bedingungen und Anforderungen Rechnung tragen und
  • darüber hinaus bewußtseinsbildende Aktionsprogramme zu initiieren sind.

Lassen sich mich noch zum Schluß anmerken, wie sehr ich mich als Abgeordnete eines ländlichen Wahlkreises aus dem Süden freue, daß auch einmal die bei uns dominierenden betrieblichen, sozialen und gesellschaftlichen Strukturen - die mich oft genug in Sprechstunden zur Verzweiflung getrieben haben - Schwerpunkt von Gestaltungsüberlegungen sind.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

Previous Page TOC Next Page