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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 31 ] Jürgen Steinert
Der Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen e.V. (GdW) hat vor mehr als 11/2 Jahren eine sozialwissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die zunächst den Arbeitstitel Soziale Erosion in den Wohnungsbeständen" hatte. Auftragnehmer war das Institut empirica. Das Institut hat für Ostdeutschland einen Unterauftrag vergeben an das Stadtbüro Hunger, Berlin. Der Forschungsbericht liegt unter dem o.g. Titel jetzt vor, die Ergebnisse für Ost und West sind getrennt dokumentiert, weil die Befunde und die Konsequenzen verschieden, also nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Der Teil Ost trägt den Titel Konsolidierung auf halbem Wege. Ostdeutsche Großsiedlungen zwischen sozialem Umbruch und städtebaulicher Erneuerung". Der Teil West trägt den Titel Überforderte Nachbarschaften" und den Untertitel Soziale und ökonomische Erosion in Großsiedlungen". Der Teil Ost enthält vertiefende Untersuchungen von zehn Großsiedlungen, der Teil West konzentriert sich im wesentlichen auf 19 untersuchte Siedlungen. Der Teil West enthält die dramatischsten Befunde. Bei der Untersuchungsmethode wurden im wesentlichen qualitative Befragungen durchgeführt und außerdem zahlreiche Einzelstudien von Wohnsiedlungen und ihren Quartieren einbezogen und ausgewertet. Die Kenntnis der in den zurückliegenden Jahren von unseren Wohnungsunternehmen veranlaßten wissenschaftlichen Studien ihrer eigenen Quartiere ist zwar wichtig, sie allein vermittelt jedoch kein ausreichendes Bild zur Beurteilung der sozialen Verwerfungen und Strukturveränderungen in den west-, nord- und süddeutschen Siedlungen. So betrachtet ist die Studie von empirica nicht eine x-beliebige neue unter vielen anderen, sondern erstmals der Versuch, auch mit Hilfe des Instrumentes der Sozialreportage an ausgewählten Standorten und in ausgewählten Siedlungen generelle Tendenzen zu beschreiben. Dieses Ziel ist mit der Studie erreicht worden, obwohl weitere quantitative Erhebungen für die Zukunft wünschenswert wären. Das jedoch kann die Wohnungswirtschaft allein nicht finanzieren. [Seite der Druckausg.: 32 ] Die Finanzierung der jetzt vorliegenden Studie ist vom GdW aus Beiträgen gegenüber dem Institut mit einer Grundfinanzierung erfolgt und die untersuchten Siedlungen sind von den ausgewählten Wohnungsunternehmen ergänzend und zusätzlich finanziert worden. Diese Unternehmen erhalten ihre Ergebnisse von empirica gesondert, sie sind nicht Gegenstand des jetzt veröffentlichten Gesamtberichtes. Warum hat empirica den Titel Überforderte Nachbarschaften" gewählt? Ausgangspunkt ist zunächst die Feststellung, daß der soziale Wohnungsbau in der alten Bundesrepublik im Jahr 1980 auf vier Millionen Sozialwohnungen, das waren seinerzeit 20% des gesamten Wohnungsbestandes, zurückgreifen konnte. Im Jahr 2000 wird sich der Sozialwohnungsbestand auf zwei Millionen Wohnungen halbiert haben und fünf Jahre später, also 2005, wird es in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nur noch eine Million Sozialwohnungen geben. Gleichzeitig jedoch, so jedenfalls empirica, wächst der Bedarf aus vielen Gründen. Einer wird beispielhaft genannt: Ende der siebziger Jahre/Anfang der achtziger Jahre, also bei vier Millionen Sozialwohnungen, gab es nur etwa eine Million Arbeitslose. Allein heute, im Jahr 1998, haben wir nach den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken im Jahresdurchschnitt 4,5 Millionen Arbeitslose und nur noch 2,3 bis 2,4 Millionen Sozialwohnungen, und bei weiterem Auslaufen der Bindungen ohne vergleichbaren Neubau wird sich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Sozialwohnungen weiter dramatisch verschlechtern. Die Folge daraus ist, daß der Anteil der Dringlichkeitsfälle in diesen Beständen immer weiter zunimmt. In den schrumpfenden Beständen wird damit ein wachsender Anteil der Haushalte über ein geringes Einkommen verfügen, arbeitslos sein oder von der Sozialhilfe leben. Eine große Gruppe werden die Ausländer bleiben, die bei knappem Angebot trotz einer ausreichenden Zahlungsbereitschaft keine angemessene Wohnung finden, weil sie mit Diskriminierungen zu rechnen haben. Natürlich sind nicht alle diese Haushalte Problemhaushalte. Ein wachsender Anteil von Sozialhilfeempfängern bedeutet jedoch, daß immer weniger Kontakte zur Arbeitswelt bestehen, in den Siedlungen, die von Sozialhilfeempfängern und Niedrigverdienern dominiert werden, schrumpft gleichzeitig das Einzelhandelsangebot, weil die kaufkräftige Nachfrage reduziert ist. Die schlechte wirtschaftliche Situation der einzelnen Haushalte führt in ein 'Milieu der Ärmlichkeit'. Bewohner und Siedlungen sind überfordert. Für sie wird [Seite der Druckausg.: 33 ] der Rückweg in eine entspannte, von Erfolgen und Selbstverwirklichung geprägte Lebenssituation kontinuierlich schwerer. 'Milieu der Ärmlichkeit' bedeutet, daß die Anregungen und Annehmlichkeiten des normalen Alltagslebens aus dem Gesichtskreis verschwinden. Es bedeutet, ohne wirtschaftlich relevante Kontakte und Beziehungen zu leben; es bedeutet zu viel Umgang mit frustrierten, durch tägliche Sorgen aufgefressenen Menschen; es bedeutet abnehmende Initiative und wachsende Lähmung sowie schließlich auch den Verlust an Fähigkeiten und Qualifikationen." (GdW Schriften 48 Überforderte Nachbarschaften", S. 23) Das sind in dieser wissenschaftlichen Studie neben vielem anderen zunächst die Ursachen für die gewählte Bezeichnung Überforderte Nachbarschaften".
[Seite der Druckausg.: 34 ]
Massenarbeitslosigkeit, Jugendausbildungslosigkeit und ungeregelter Zu- und Einwanderung haben. Da sich die damit verbundenen gesellschaftlichen und sozialen Konflikte in unseren Wohnquartieren abspielen, besteht die Gefahr, daß die Wohnungswirtschaft und die Unternehmen von einer undifferenziert argumentierenden Öffentlichkeit, Publizistik und Politik den Schwarzen Peter" für als negativ empfundene Entwicklungen zugeschoben bekommt, ohne daß die Ursache in den Wohnquartieren liegt oder im Grundsatz bewältigt werden könnte. [Seite der Druckausg.: 35 ]
Isolierung. Als stille Armut" waren sie für die Städte und Nachbarschaften weniger problematisch. Der Armutsfall des Jahres 1997 hat quantitativ sehr viel größere Ausmaße und er ist demgegenüber vor allem Armut von Jugendlichen und Kindern. Die neue Armut wird vielfach nicht mehr verschämt verheimlicht. In den untersuchten Gebieten begegnet man aggressiver Armut und lässiger Arroganz von Jugendlichen. Die Armen der Vergangenheit waren Opfer der Verhältnisse oder eigener Fehler. Heute sehen viele Arme ihre Situation als unmittelbare Folge eines versagenden Systems. Man versteckt sich nicht, man hat nichts zu verlieren und man versucht nicht selten, sich zu holen, was einen nach eigenem Dafürhalten zusteht. Der soziale Wohnungsbau war ursprünglich Wohnungsbau für breite Schichten der Bevölkerung. Heute, unter dem Eindruck schrumpfender Neubauprogramme, schrumpfender Bestände, niedrigerer Einkommensgrenzen, steigt die Zahl der Siedlungen, in denen der Anteil der Armen, der Arbeitslosen, der Alleinerziehenden, der Aussiedler und Ausländer und der Sozialhilfeempfänger dominiert. Die Wohnungsgesellschaften werden in zu vielen Siedlungen zu Verwaltern von Mißständen und ungelösten Problemen des Sozialstaats.
Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern häufig um den koordinierten kooperativen Einsatz heute bereits vorhandener Mittel. Es geht um sehr viel mehr als um die Abwicklung typischer Subventionsprogramme, bei denen Geld nach festen Richtlinien ausgegeben wird. Es geht um kreative unternehmerische Leistungen. Es geht um die Motivierung bisher weitgehend unbeteiligter oder desinteressierter Bewohner. Es geht um mehr als um konsumtive Freizeitbeschäftigung. Es geht um die partielle Transformation von reinen Wohngebieten in Gebiete des Arbeitens, Wohnens und Organisierens. Welche Ergebnisse dabei erzielt werden, hängt auch und gerade vom persönlichen Engagement der beteiligten Akteure ab. Kreative Vorgänge dieser Art kann man weder im Detail noch im voraus beschreiben. Man kann Richtungen angeben und auf mögliche Hindernisse hinweisen, den Weg müssen die Beteiligten selbst gehen. Nachbarschaftsentwicklung unterscheidet sich von anderen staatlichen Programmen dadurch, daß bestimmte Geldmittel nicht für einen vorher festgelegten Zweck eingesetzt werden und dieser mit der Verwendung der Mittel als erreicht gilt. Die Philosophie der Neubauprogramme ist also untauglich. Nachbarschaftsentwicklung will Menschen motivieren, sie aus ihrer Passivität herausreißen und ihnen durch Erfolg mehr Eigenständigkeit und Selbstvertrauen ermöglichen. Nachbarschaftsentwicklung will durch gemeinsame Projekte Isolierung und Feindschaft überwinden sowie bei den Beteiligten [Seite der Druckausg.: 37 ] neue Fähigkeiten entwickeln oder verlorengegangene Fähigkeiten zurückgewinnen. Aus diesen Ansprüchen folgt, daß Nachbarschaftsentwicklung viel Zeit braucht und mit erheblichen Risiken behaftet ist. Der Erfolg kann weder erzwungen noch garantiert werden, weil Personen aus eigenem Entschluß mitmachen müssen. Jede Nachbarschaftsentwicklung muß deshalb klein anfangen. Die Projekte und die Zahl der Beteiligten müssen allmählich wachsen. Da die Wünsche und Hoffnungen der Beteiligten sehr vielfältig sein werden, brauchen wir Animateure, weitverzweigte Kontakte und nachhaltige Unterstützung. Die Isolierung der Sozialarbeiter muß überwunden werden. Am Ende zählt nicht Schnelligkeit, sondern Nachhaltigkeit, nicht das rasch herbeisubventionierte Ergebnis, sondern der mühsam erreichte, kleine Schritt. Nachbarschaftsentwicklung braucht Vernetzung, Geduld und Kreativität." (GdW Schriften 48 Überforderte Nachbarschaften", S. 162) [Seite der Druckausg.: 38 = Leerseite ] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000 |