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TEILDOKUMENT:


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Jürgen Steinert
Überforderte Nachbarschaften


Der Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen e.V. (GdW) hat vor mehr als 11/2 Jahren eine sozialwissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die zunächst den Arbeitstitel „Soziale Erosion in den Wohnungsbeständen" hatte. Auftragnehmer war das Institut empirica. Das Institut hat für Ostdeutschland einen Unterauftrag vergeben an das Stadtbüro Hunger, Berlin. Der Forschungsbericht liegt unter dem o.g. Titel jetzt vor, die Ergebnisse für Ost und West sind getrennt dokumentiert, weil die Befunde und die Konsequenzen verschieden, also nicht ohne weiteres vergleichbar sind.

Der Teil Ost trägt den Titel „Konsolidierung auf halbem Wege. Ostdeutsche Großsiedlungen zwischen sozialem Umbruch und städtebaulicher Erneuerung". Der Teil West trägt den Titel „Überforderte Nachbarschaften" und den Untertitel „Soziale und ökonomische Erosion in Großsiedlungen".

Der Teil Ost enthält vertiefende Untersuchungen von zehn Großsiedlungen, der Teil West konzentriert sich im wesentlichen auf 19 untersuchte Siedlungen.

Der Teil West enthält die dramatischsten Befunde. Bei der Untersuchungsmethode wurden im wesentlichen qualitative Befragungen durchgeführt und außerdem zahlreiche Einzelstudien von Wohnsiedlungen und ihren Quartieren einbezogen und ausgewertet. Die Kenntnis der in den zurückliegenden Jahren von unseren Wohnungsunternehmen veranlaßten wissenschaftlichen Studien ihrer eigenen Quartiere ist zwar wichtig, sie allein vermittelt jedoch kein ausreichendes Bild zur Beurteilung der sozialen Verwerfungen und Strukturveränderungen in den west-, nord- und süddeutschen Siedlungen.

So betrachtet ist die Studie von empirica nicht eine x-beliebige neue unter vielen anderen, sondern erstmals der Versuch, auch mit Hilfe des Instrumentes der Sozialreportage an ausgewählten Standorten und in ausgewählten Siedlungen generelle Tendenzen zu beschreiben. Dieses Ziel ist mit der Studie erreicht worden, obwohl weitere quantitative Erhebungen für die Zukunft wünschenswert wären. Das jedoch kann die Wohnungswirtschaft allein nicht finanzieren.

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Die Finanzierung der jetzt vorliegenden Studie ist vom GdW aus Beiträgen gegenüber dem Institut mit einer Grundfinanzierung erfolgt und die untersuchten Siedlungen sind von den ausgewählten Wohnungsunternehmen ergänzend und zusätzlich finanziert worden. Diese Unternehmen erhalten ihre Ergebnisse von empirica gesondert, sie sind nicht Gegenstand des jetzt veröffentlichten Gesamtberichtes.

Warum hat empirica den Titel „Überforderte Nachbarschaften" gewählt?

Ausgangspunkt ist zunächst die Feststellung, daß der soziale Wohnungsbau in der alten Bundesrepublik im Jahr 1980 auf vier Millionen Sozialwohnungen, das waren seinerzeit 20% des gesamten Wohnungsbestandes, zurückgreifen konnte. Im Jahr 2000 wird sich der Sozialwohnungsbestand auf zwei Millionen Wohnungen halbiert haben und fünf Jahre später, also 2005, wird es in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nur noch eine Million Sozialwohnungen geben. Gleichzeitig jedoch, so jedenfalls empirica, wächst der Bedarf aus vielen Gründen. Einer wird beispielhaft genannt: Ende der siebziger Jahre/Anfang der achtziger Jahre, also bei vier Millionen Sozialwohnungen, gab es nur etwa eine Million Arbeitslose. Allein heute, im Jahr 1998, haben wir nach den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken im Jahresdurchschnitt 4,5 Millionen Arbeitslose und nur noch 2,3 bis 2,4 Millionen Sozialwohnungen, und bei weiterem Auslaufen der Bindungen ohne vergleichbaren Neubau wird sich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Sozialwohnungen weiter dramatisch verschlechtern.

Die Folge daraus ist, daß der Anteil der Dringlichkeitsfälle in diesen Beständen immer weiter zunimmt.

„In den schrumpfenden Beständen wird damit ein wachsender Anteil der Haushalte über ein geringes Einkommen verfügen, arbeitslos sein oder von der Sozialhilfe leben. Eine große Gruppe werden die Ausländer bleiben, die bei knappem Angebot trotz einer ausreichenden Zahlungsbereitschaft keine angemessene Wohnung finden, weil sie mit Diskriminierungen zu rechnen haben. Natürlich sind nicht alle diese Haushalte Problemhaushalte. Ein wachsender Anteil von Sozialhilfeempfängern bedeutet jedoch, daß immer weniger Kontakte zur Arbeitswelt bestehen, in den Siedlungen, die von Sozialhilfeempfängern und Niedrigverdienern dominiert werden, schrumpft gleichzeitig das Einzelhandelsangebot, weil die kaufkräftige Nachfrage reduziert ist. Die schlechte wirtschaftliche Situation der einzelnen Haushalte führt in ein 'Milieu der Ärmlichkeit'. Bewohner und Siedlungen sind überfordert. Für sie wird

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der Rückweg in eine entspannte, von Erfolgen und Selbstverwirklichung geprägte Lebenssituation kontinuierlich schwerer. 'Milieu der Ärmlichkeit' bedeutet, daß die Anregungen und Annehmlichkeiten des normalen Alltagslebens aus dem Gesichtskreis verschwinden. Es bedeutet, ohne wirtschaftlich relevante Kontakte und Beziehungen zu leben; es bedeutet zu viel Umgang mit frustrierten, durch tägliche Sorgen aufgefressenen Menschen; es bedeutet abnehmende Initiative und wachsende Lähmung sowie schließlich auch den Verlust an Fähigkeiten und Qualifikationen." (GdW Schriften 48 „Überforderte Nachbarschaften", S. 23)

Das sind in dieser wissenschaftlichen Studie neben vielem anderen zunächst die Ursachen für die gewählte Bezeichnung „Überforderte Nachbarschaften".

  • Überfordert sind viele einheimische Bewohner, denen im Zusammenleben mit Ausländern und Aussiedlern zu viel an Integrationsleistung und Konfliktbewältigung abverlangt wird. Sie fühlen sich immer häufiger als „Fremde im eigenen Land." Wer in einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft Integration von Ausländern und Aussiedlern will, muß stets darauf achten, daß die Inländer - also die Deutschen - in diesen Wohnquartieren nicht in die Minderheit geraten. Solange die Bundesrepublik Deutschland in der offiziellen Politik leugnet, daß wir ein Einwanderungsland sind, solange werden wir keine Instrumente entwickeln können, die der Integration dienen und die Überforderung zurückdrängen.

  • Überfordert sind die jugendlichen Aussiedler und Ausländer, die aus ländlichen Regionen in Deutschlands Großstadtsiedlungen verpflanzt werden, ohne daß sie genügend Unterstützung und Strenge erfahren, die ihnen hilft, die Spielregeln unseres Zusammenlebens, unserer verfassungsrechtlich geschützten Grundwerte einzuhalten. Da sie häufig noch nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen, sind sie gegenüber ihrer neuen Heimat und den deutschen Mitbewohnern sprachlos, suchen den Kontakt zu ihresgleichen und schließen sich ab. Soweit es sich dabei um neu hinzugezogene Minderheiten handelt, wird deren anfängliche Desorientierung fast automatisch als Böswilligkeit und Arroganz interpretiert.

  • Überfordert sind die Wohnungsgesellschaften, weil sie als Verwalter der ungelösten Sozialstaatsprobleme die Ursachen nicht bekämpfen können. Die Wohnquartiere unserer Mitgliedsunternehmen werden zum Trampolin gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, die ihre Ursachen in

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    Massenarbeitslosigkeit, Jugendausbildungslosigkeit und ungeregelter Zu- und Einwanderung haben. Da sich die damit verbundenen gesellschaftlichen und sozialen Konflikte in unseren Wohnquartieren abspielen, besteht die Gefahr, daß die Wohnungswirtschaft und die Unternehmen von einer undifferenziert argumentierenden Öffentlichkeit, Publizistik und Politik den „Schwarzen Peter" für als negativ empfundene Entwicklungen zugeschoben bekommt, ohne daß die Ursache in den Wohnquartieren liegt oder im Grundsatz bewältigt werden könnte.

  • Überfordert sind aber auch die Kommunen, die durch ihre auf einen kleinen Bestand begrenzte Belegungspolitik die Problemfälle in den Quartieren konzentrieren und damit einen Teil der Schwierigkeiten im Zusammenleben der Menschen dadurch selber hervorrufen oder verschärfen.

  • Überfordert ist das Sozialstaatssystem, das neue nachhaltig wirksame Ungleichheiten hervorbringt. Die Konzentration der Sozialstaatsklientel, die nicht mehr aktiv und optimistisch im Berufsleben steht, sondern von Sozialstaatsleistungen abhängig ist, erzeugt ein Milieu, in dem sich eigene Anstrengungen ohnehin nicht mehr lohnen. Auf der anderen Seite werden diejenigen, die unter hohen persönlichen Anstrengungen kaum mehr Einkommen erzielen als die Sozialhilfe gewährt, zu „dummen Idioten". Das gilt besonders dort, wo es Sozialhilfeempfängern gelingt, durch Schwarzarbeit oder andere Aktivitäten ein Zusatzeinkommen zu erwirtschaften. Je länger diese Situation anhält, um so größer wird die Gruppe derer, die es hinnimmt, ausgegrenzt und stigmatisiert zu werden. Es entsteht eine Subkultur und Halblegalität, des Abbaues von Solidarität und Verpflichtungsbereitschaft gegenüber der Normalgesellschaft, geprägt durch Aggression, Zynismus und auch Gewalt. Integrierte Normalbürger brandmarken diese Haltung als unmoralisch, sie fühlen sich provoziert, weil sie selbst immer höhere Abgaben leisten müssen, während ihre Nettoeinkommen nicht angemessen wachsen. Sie sehen, wie andere ohne Arbeit ein lässiges, bequemes und provozierendes Konsumdasein führen.

    Die Sozialpolitik braucht ein anderes Selbstverständnis. Sie darf ihre Kunden nicht nur alimentieren, sondern muß sie motivieren. Die klassische Sozialpolitik wurde für eine relativ homogene Gesellschaft konzipiert. Der typische Armutsfall des Jahres 1955 war eine Rentnerin, die u.a. wegen der Umwälzung in der Gesellschaft (Inflation, Krieg) über zu geringe Rentenansprüche verfügte. Diese Armutsfälle führten jedoch kaum in die soziale

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    Isolierung. Als „stille Armut" waren sie für die Städte und Nachbarschaften weniger problematisch. Der Armutsfall des Jahres 1997 hat quantitativ sehr viel größere Ausmaße und er ist demgegenüber vor allem Armut von Jugendlichen und Kindern.

    Die neue Armut wird vielfach nicht mehr verschämt verheimlicht. In den untersuchten Gebieten begegnet man aggressiver Armut und lässiger Arroganz von Jugendlichen. Die Armen der Vergangenheit waren Opfer der Verhältnisse oder eigener Fehler. Heute sehen viele Arme ihre Situation als unmittelbare Folge eines versagenden Systems. Man versteckt sich nicht, man hat nichts zu verlieren und man versucht nicht selten, sich zu holen, was einen nach eigenem Dafürhalten zusteht.

  • Überfordert ist nicht zuletzt das herkömmliche System des sozialen Wohnungsbaues mit seinen Instrumenten. Obwohl die Fehlbelegung aus der Sicht der meisten untersuchten Siedlungen ein Segen ist und ein Zeichen für gemischte Belegungsstrukturen, führt die Fehlbelegungsabgabe zu einer Vertreibungsabgabe überall dort, wo die Marktmieten im freifinanzierten Wohnungsbau in der Zwischenzeit deutlich niedriger sind und in diesen Quartieren sich die Problemfälle nicht häufen. Der Umzug in die preiswerte, gleich gute Wohnung mit vermeintlich besserer Adresse ist keine Seltenheit mehr.

    Erschwerend kommt hinzu, daß die Kostenmiete in vielen Fällen bereits oberhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete liegt und in sich starr und unflexibel ist. Die berechtigte Forderung nach einer Unternehmensmiete, die sich an der ortsüblichen Vergleichsmiete orientieren müßte, ist bisher nicht gehört worden.

Der soziale Wohnungsbau war ursprünglich Wohnungsbau für breite Schichten der Bevölkerung. Heute, unter dem Eindruck schrumpfender Neubauprogramme, schrumpfender Bestände, niedrigerer Einkommensgrenzen, steigt die Zahl der Siedlungen, in denen der Anteil der Armen, der Arbeitslosen, der Alleinerziehenden, der Aussiedler und Ausländer und der Sozialhilfeempfänger dominiert. Die Wohnungsgesellschaften werden in zu vielen Siedlungen zu Verwaltern von Mißständen und ungelösten Problemen des Sozialstaats.

  • Wir brauchen neue Strategien der Nachbarschaftsentwicklung. Dazu gehört eine Erhöhung der Wertschöpfung durch die Bewohner für

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    Nachbarn und Märkte und eine Erhöhung der formellen und informellen Beschäftigung.

  • Wir brauchen mehr gegenseitige Unterstützung der Bewohner im Alltagsleben und bessere lokale Versorgung mit Dienstleistungen.

  • Wir brauchen preiswertere Sozialleistungen, intensivere soziale Bestimmungen und höhere Sicherheit.

  • Wir brauchen intensivere Kontakte aus der Nachbarschaft in die übrige Stadt und damit eine Kooperation zwischen Bürgern und Institutionen.

  • Wir brauchen bessere Freizeitmöglichkeiten und Aktivierung nachbarschaftlicher Kontakte.

  • Und wir brauchen für all das geeignete Organisationsformen, die wir in Zukunft „Nachbarschaftsagenturen" nennen.

Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern häufig um den koordinierten kooperativen Einsatz heute bereits vorhandener Mittel.

Es geht um sehr viel mehr als um die Abwicklung typischer Subventionsprogramme, bei denen Geld nach festen Richtlinien ausgegeben wird. Es geht um kreative unternehmerische Leistungen. Es geht um die Motivierung bisher weitgehend unbeteiligter oder desinteressierter Bewohner.

Es geht um mehr als um konsumtive Freizeitbeschäftigung. Es geht um die partielle Transformation von reinen Wohngebieten in Gebiete des Arbeitens, Wohnens und Organisierens. Welche Ergebnisse dabei erzielt werden, hängt auch und gerade vom persönlichen Engagement der beteiligten Akteure ab. Kreative Vorgänge dieser Art kann man weder im Detail noch im voraus beschreiben. Man kann Richtungen angeben und auf mögliche Hindernisse hinweisen, den Weg müssen die Beteiligten selbst gehen.

Nachbarschaftsentwicklung unterscheidet sich von anderen staatlichen Programmen dadurch, daß bestimmte Geldmittel nicht für einen vorher festgelegten Zweck eingesetzt werden und dieser mit der Verwendung der Mittel als erreicht gilt. Die Philosophie der Neubauprogramme ist also untauglich. Nachbarschaftsentwicklung will Menschen motivieren, sie aus ihrer Passivität herausreißen und ihnen durch Erfolg mehr Eigenständigkeit und Selbstvertrauen ermöglichen. Nachbarschaftsentwicklung will durch gemeinsame Projekte Isolierung und Feindschaft überwinden sowie bei den Beteiligten

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neue Fähigkeiten entwickeln oder verlorengegangene Fähigkeiten zurückgewinnen.

„Aus diesen Ansprüchen folgt, daß Nachbarschaftsentwicklung viel Zeit braucht und mit erheblichen Risiken behaftet ist. Der Erfolg kann weder erzwungen noch garantiert werden, weil Personen aus eigenem Entschluß mitmachen müssen.

Jede Nachbarschaftsentwicklung muß deshalb klein anfangen. Die Projekte und die Zahl der Beteiligten müssen allmählich wachsen. Da die Wünsche und Hoffnungen der Beteiligten sehr vielfältig sein werden, brauchen wir Animateure, weitverzweigte Kontakte und nachhaltige Unterstützung. Die Isolierung der Sozialarbeiter muß überwunden werden.

Am Ende zählt nicht Schnelligkeit, sondern Nachhaltigkeit, nicht das rasch herbeisubventionierte Ergebnis, sondern der mühsam erreichte, kleine Schritt. Nachbarschaftsentwicklung braucht Vernetzung, Geduld und Kreativität." (GdW Schriften 48 „Überforderte Nachbarschaften", S. 162)

[Seite der Druckausg.: 38 = Leerseite ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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