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Wolfgang von Fumetti
Hilfen für die Spätaussiedler in den Herkunftsländern: Sinnvolle Zukunftsinvestitionen oder ‚Faß ohne Boden’?


„Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen der Vergangenheit gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein Neues, Besseres zu schaffen." (Goethe 1830)

Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, in der ich zur Zeit die Funktion eines Bereichsleiters einnehme, ist Ihnen hauptsächlich aus der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit den Ländern des Südens bekannt. Ich selbst habe mein Berufsleben 1965 als Programmberater beim Hörfunk in Ruanda begonnen und bin – mit kurzen Unterbrechungen – nunmehr 30 Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Hoffnungen – Enttäuschungen – Erfolge – Mißerfolge prägen diese Zeit. Wenn ich die Entwicklung Ruandas z.B. über die letzten 30 Jahren betrachte, dann muß ich konstatieren: Die Ereignisse Mitte der neunziger Jahre in Ruanda haben sich ereignet, obwohl es eine umfassende Entwicklungszusammenarbeit mit vielen Staaten gab. Die Gebergemeinschaft ist nicht schuldig an dem, was geschah – sie ist aber auch nicht unschuldig. Solange wir Entwicklungszusammenarbeit durch eine wie auch immer geartete politische Brille sehen, sehen wir meistens nur das, was wir sehen wollen und blenden das uns Nichtpassende aus. Wenn ich also wirklich Entwicklungszusammenarbeit praktizieren will, muß ich sehr deutlich die politischen Elemente einer solchen Arbeit herausarbeiten, um nur die – meist – beeinträchtigende Wirkung auf die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit deutlich zu machen. Sie sehen also – ich werde meine nachfolgenden Ausführungen zum Thema vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen machen: so wenig wie möglich Politik oder gar Parteipolitik in die „Hilfemaßnahmen" einfließen lassen, wohl wissend, daß gerade unser gemeinsames Thema eine hochpolitische/innenpolitische Konnotation hat.

Eine erste Annäherung an das Thema: Um wen geht es eigentlich? (oder im Fachjargon: Wer ist die Zielgruppe?) Ganz nüchtern betrachtet: um Staats-

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angehörige (Bürger) der Russischen Föderation, der Ukraine, Kasachstans u.a.m.

Es geht nicht um alle Bürger dieser Staaten, sondern nur um solche, deren Vor-Vor-Vorfahren aus deutschen Landen in das Russische Reich eingewandert sind. Sie werden im Verlauf der Zeit durch Geburt Bürger des Russischen Reiches; in den urbanen Zentren relativ rasch sich assimilierend, auf dem Lande im bäuerlichen Umfeld sich eher gegen die kulturellen und sozialen Einflüsse der Umwelt abschottend und auch voneinander weitestgehend isoliert. Man könnte fast sagen, der deutsche Partikularismus des 18. Jahrhunderts setzt sich in den ländlichen Siedlungen fort. Andererseits waren alle Einwanderergruppen trotz ihrer relativen Isolierung und ihrer vergleichsweisen Sonderstellung existentiell darauf angewiesen, sich Wissen über ihre neue Umwelt anzueignen und es in den Alltag einzubeziehen. „Dabei entstanden spezifische kulturelle Mischungsverhältnisse, in denen später das für eine ethnische Grenzziehung sichtbare ‘Deutsche’ jenseits sprachlicher Relikte und religiöser Kulten kaum noch kenntlich zu machen war." [ Europäische Migrationsforschung, Band 2; Regine Römhild, Die Macht des Ethnischen: Grenzfall Rußlanddeutsche, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften 1998, S. 160.]
Statt einer Tradition des Deutschseins gab es eher eine traditionelle Loyalität zu dem russischen Staat, der sie einstmals zu privilegierten Untertanen gemacht hatte. Am Ersten Weltkrieg nahmen die männlichen Nachfahren der deutschen Einwanderer als Soldaten in der russischen Armee teil oder sie verweigerten den Dienst mit der Waffe aus religiösen Gründen.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnt die deutsche Reichsregierung, sich in den Friedensverhandlungen mit Rußland um die Deutschstämmigen zu bemühen, was die russische Seite sofort als Einmischung in innere Angelegenheiten, da russische Staatsbürger, empfindet. Seit dieser Zeit geraten die „Deutschstämmigen" immer stärker in das politische Visier – ins politische Kalkül. In den dreißiger Jahren leiden sie ebenso wie alle anderen Bürger der Sowjetunion unter den Zwangsmaßnahmen der stalinistischen Führung. Aber erst die Erfahrungen der Deportation und Verfolgung während und nach dem Zweiten Weltkrieg lassen ein Bewußtsein für eine „ethnische Schicksalsgemeinschaft" entstehen. Einerseits werden die neuen Heimaten in Sibirien und Kasachstan akzeptiert, gleichzeitig entsteht aber auch eine idealisierte Rückerinnerung an einen kurzen Moment einer autonomen Re

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publik und darüber hinaus eine noch weiter zurückreichende Idealisierung des deutschen Mutterlandes, das die Rückkehr und damit auch die Flucht aus einer jetzt als feindlich wahrgenommenen „Minderheitengeschichte" ermöglicht (Römhild 1998, S. 162). Das ist der Stoff, aus dem die Diskussion in jeder Familie besteht: bleiben oder gehen. Sicherlich ist dieser historische Exkurs sehr holzschnittartig, aber schon aus diesen wenigen skizzenhaften Elementen wird deutlich, daß es bei den „Hilfen für die Spätaussiedler in den Herkunftsregionen" konzeptionell weit mehr bedarf als nur der Bereitstellung von materiellen Gütern.

Aus den Ergebnissen der Entwicklungszusammenarbeit im Süden wissen wir, daß die Betonung des ethnischen Aspektes und daraus abgeleitete Hilfsprogramme für kurze Zeit in Not- und Katastrophensituationen von der Gesamtbevölkerung akzeptiert werden, daß aber – und das zeigt z.B. die Problematik langjähriger Flüchtlingslager (Palästinenser in Jordanien, Ruander in Tansania) – längerfristig eine ethnisch begründete Hilfe zu massiven Störungen bei allen Beteiligten führt.

Soziales, kulturelles, wirtschaftliches und auch politisches Leben in einer Kommune, in einer Region, in einem Land verlangt – wenn es wirklich lebensförderlich sein soll – den Austausch, den Ausgleich, die Toleranz, das ausgewogene Geben und Nehmen, das Teilen miteinander. Deshalb sind alle ethnisch begründeten Abgrenzungen in unserer heutigen Zeit von großem Übel. Denken Sie an Bosnien-Herzegowina, jetzt den Kosovo oder das eben erwähnte Ruanda.

Was heißt das für unser Thema? Die russischen Staatsbürger deutscher Abstammung wurden von der sowjetischen Regierung während und nach dem Zweiten Weltkrieg kollektiv für die Handlungen Deutschlands während des Krieges bestraft. Daraus leitet die Bundesregierung die Verantwortung und Notwendigkeit ab, dieser Gruppe von Menschen bzw. ihren Nachkommen Hilfe zu gewähren. Nun muß man natürlich die Dimension ‘Zeit’ hinzunehmen. Unmittelbar nach Ende des Krieges bis in die fünfziger Jahre hinein hatte die russische Bevölkerung (zumindest im europäischen Teil der Sowjetunion) ebenso unter den Folgen des Krieges zu leiden. Ab Mitte der sechziger Jahre beginnt in der Sowjetunion das Bemühen, das Zusammenleben langsam wieder zu normalisieren, wobei die offizielle Politik stärker auf Integration und Assimilation setzt und die Absonderung zu verhindern versucht. In der Folgezeit bis in die achtziger Jahre hinein vollzieht sich in dieser

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Gruppe der Deutschstämmigen ein Phänomen, das sich in allen ethnisch geprägten Minoritäten weltweit zeigt. Die Willenskraft des einzelnen Individuums, unabhängig von der formalen Bildung, wird entscheiden, ob er/sie den Weg der Integration oder den Weg der Aussiedlung geht. Beide Wege verlangen eine hohe Willenskraft, um sie erfolgreich durchzuhalten. Und die schweigende Mehrheit dieser Deutschstämmigen – auch noch geschwächt durch das persönliche Leid der getrennten Familien, der ums Leben gekommenen Angehörigen – diese schweigende Mehrheit versucht, sich unauffällig zu arrangieren, von den Beispielen der Integration oder des Erfolges der Ausgesiedelten fasziniert hin- und hergerissen.

Als nun durch die politischen Veränderungen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre die Ausreisebedingungen erleichtert werden, vergrößert sich der Strom der Aussiedelnden. Dies wiederum veranlaßt die Bundesregierung, die Lebensbedingungen von Deutschstämmigen in den osteuropäischen Staaten zu verbessern. Damit wird dem Bleiben in den Herkunftsländern Priorität gegenüber der Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland eingeräumt.

Vor dem bis jetzt Dargelegten wird deutlich, daß die Hilfeleistungen für die deutschstämmigen Russen, Kasachen, Kirgisen oder Ukrainer nur dann wirklich wirksam werden, wenn sie von einem Konzept zukünftigen gemeinsamen Zusammenlebens mit dem Ziel „Vielfalt in der Einheit" ausgehen. Die Eingrenzung auf die ethnische Zugehörigkeit verhindert das lebensnotwendige miteinander Teilen jeder sozialen Gemeinschaft, sei es die Familie, die Dorfgemeinschaft etc.

Man muß der Bundesregierung zu Beginn und Verlauf der neunziger Jahre zu Gute halten, daß sie die haushaltsrechtlichen Bedingungen des Einzelplanes 06 Kapitel 40 Teilgruppe 01 soweit gedehnt hat, wie es haushaltsrechtlich eben noch zulässig war, um die Hilfen für die Deutschstämmigen in ein lebendiges, sozio-kulturelles Umfeld einzubetten. Daß uns, die wir von der Entwicklungszusammenarbeit herkommen, die Zielgruppendefinition oft immer noch zu eng war, ist eine andere Sache. Es wurde Wohnraum geschaffen, der explizit nur an Deutschstämmige und ihre Familien vergeben wurde und wird. Es gab Investitionen im Produktions- und Infrastrukturbereich, deren Nutzung naturgemäß nicht auf die Deutschstämmigen zu begrenzen war. Eine Molkerei kauft die Milch von allen Kühen, gleichgültig welcher Abstammung der Eigentümer der Kuh ist, und die Verkäufer der

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Milch, der Butter, des Käses fragen auch nicht die Käufer, welcher Abstammung sie sind! Die Verbesserungen im Infrastrukturbereich, z.B. Stromversorgung, Telekommunikation, Wasserver- und -entsorgung kommen einer kommunalen Gemeinschaft als Ganzes zu Gute. Existenzgründung und Kreditvergabe waren wieder mehr auf die engere Zielgruppe ausgerichtet und nur in Maßen erfolgreich. Darauf komme ich bei den zukünftigen Perspektiven nochmals zurück.

Bei der dritten Säule der Hilfen (neben Wohnraum und Wirtschaft), der sogenannten „Breitenarbeit", handelt es sich um folgendes: Die Bundesregierung macht mittels der Projektstruktur der GTZ den Deutschstämmigen in den Herkunftsländern ein möglichst vielseitiges Sprach- und Kulturangebot (Begegnungsstätten), welches in erster Linie dazu dienen soll, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zu stärken, ihre historisch bedingte Isolation und teilweise Entwurzelung zu überwinden sowie durch bewußte Öffnung und Einbeziehung von anderen Nachbarethnien die Akzeptanz und das Sozialprestige der Deutschstämmigen in ihren Herkunftsländern zu erhöhen. Das Programm Breitenarbeit richtet sich in erster Linie an Bleibewillige.

Betrachtet man diese drei Förderungsschwerpunkte im Hinblick auf ihre Wirkungen, so komme ich zu folgender Einschätzung:

  1. Die Wohnraumbeschaffung ist sinnvoll und von nachhaltiger Wirkung, wenn das Erwerbskonzept einen ordentlichen Eigenanteil der Erwerber beinhaltet.
  2. Das investive Förderkonzept (Wirtschaft) kann leicht zum „Faß ohne Boden" werden.
  3. Die Breitenarbeit ist eine immaterielle Zukunftsinvestition, deren Inwertsetzung erst noch kommt.

Wenn es bei der heutigen Tagung um Perspektiven der neuen Aussiedlerpolitik geht, dann steht es mir, einem Mitarbeiter einer Durchführungsorganisation der Bundesregierung, gut an, erst einmal zuzuhören und zu verstehen, was der Aussiedlerbeauftragte fortführen, was er ändern will. Und – wie Herr Welt ja schon dargestellt hat – er macht erst einmal Inventur. Und in diesem Augenblick des Innehaltens, des Betrachtens des Vergangenen, des Abwägens des Erreichten ist es sinnvoll, die Aufgabe „Zukunft zu ge-

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stalten" von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten. Das Fazit wird und muß der Aussiedlerbeauftragte ziehen. Und so verstehe ich meine nachführenden Ausführungen als Arbeitsmaterial, als Zuarbeit zur politischen Entscheidungsfindung.

Mir scheint eine wesentliche Aufgabe der neuen Regierung in Zusammenarbeit mit dem Parlament die Formulierung einer politischen Konzeption für die Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, insbesondere mit Rußland, Kasachstan und der Ukraine zu sein, eine Konzeption, die nicht nur einäugig auf einen Wirtschaftsraum schaut, sondern eine Konzeption, die die historische Dimension des Scheiterns eines gigantischen sozialen Experiments nach 70 Jahren Dauer erfaßt, ihre politischen, sozialen und kulturellen Aspekte. Im Ost-West-Gegensatz haben beide Seiten letztlich ökonomisches Wachstum als Gradmesser der jeweiligen Überlegenheit akzeptiert. Der „homo oeconomicus" als Entwicklungsleitbild ist in den Industrieländern stark verbreitet und war und ist zum Teil auch noch heute das Leitbild in der Beratung des Ostens.

Marion Gräfin Dönhoff schreibt dazu:

„Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer jener homo oeconomicus agiert, sind bestimmt durch das Marktsystem, das auf dem Wettbewerb beruht, und der Motor des Wettbewerbs – ich muß besser sein als der andere – ist der Egoismus. Ein Egoismus, der vor nichts haltmacht. In seinem Gefolge wächst die Brutalität, die unseren Alltag kennzeichnet, wie auch die Korruption, die in vielen Ländern mittlerweile bis hinauf ins Kabinett reicht. Typisch für unsere Gesellschaften ist ein Freiheitsbegriff, der keine moralischen Grenzen kennt; typisch für unsere Gesellschaft ist das ungebremste Streben nach immer neuem Fortschritt, nach Befriedung der ständig wachsenden Erwartungen: Alles muß immer größer werden, von allem muß es immer mehr geben, mehr Freiheit, mehr Wachstum, mehr Profit. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zur Sinnentleerung, Frustration und Entfremdung. Auch für den Staat kann Wirtschaft nicht die einzige raison d’être sein." [ Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus: Grenzen der Freiheit, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1997, S. 13.]

Die Zusammenarbeit mit dem Osten – insbesondere Rußland – wäre vor diesem Hintergrund zu betrachten. Das Transform-Programm der Bundesregie-

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rung, möglicherweise die Aussiedlerpolitik und die sie flankierenden Maßnahmen, die EU-Erweiterung und vieles andere mehr müßte auf die Frage eine Antwort finden: Wie wollen und können wir das soziale Miteinander in der Zukunft gestalten – in unserem Lande, mit unseren unmittelbaren Nachbarn, mit Ländern, die ferner liegen. Die Beantwortung dieser Frage hätte auch ganz konkrete Auswirkungen auf das Thema Migration mit all seinen Facetten. Es ist also eine politische Aufgabe für die nächsten Legislaturperioden. Eine praktische Übung für den Beginn einer solchen Arbeit wäre z.B. bei den Haushaltsberatungen für das nächste Jahr die Titelbestimmungen von der Enge des ethnischen Zuschnitts in eine Formulierung der Unterstützung der Zusammenarbeit der Deutschstämmigen mit ihrer näheren und weiteren Umgebung zu verändern. Denn Ziel der deutschen Hilfen kann nicht die Abgrenzung der Deutschstämmigen gegenüber ihrer Umwelt sein, sondern muß die Integration unter Wahrung der eigenen Identität sein.

Vor diesem Hintergrund halte ich die Wohnraumbeschaffung weiterhin für sinnvoll. Allerdings möchte ich empfehlen, nicht mehr selbst in Bauaktivitäten einzusteigen, sondern durch Kreditvergabe mit Eigenbeteiligung – wie es schon teilweise praktiziert wird – in Zukunft fortzufahren. In dieses Programm könnten dann sowohl Umsiedler als auch „Umzieher" innerhalb des Landes aufgenommen werden. Die Wohnraumbeschaffung ist deshalb kein „Faß ohne Boden", da die GTZ treuhänderisch für die Bundesrepublik entweder Eigentümerin der Wohnungen/Häuser oder der Kapitalrückflüsse aus den monatlichen Tilgungen ist. Mittelfristig ist zu entscheiden, wie die Bundesregierung die Rückflußmittel zukünftig einsetzen will.

Im Bereich der Wirtschaftsförderung – im Sinne der Direktinvestitionen – hat sich gezeigt, daß eine Bedarfsdeckung von außen nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist. Die Lage verschärft sich dadurch, daß die alten Strukturen der staatlichen Lenkung und Versorgung sich auflösen und jede Kommune, jeder Kreis, jedes Gebiet praktisch ein neues Wirtschaftsförderungskonzept entwickeln muß. Wir haben im Auftrag des Bundesministeriums des Innern im deutsch-nationalen Rayon Halbstadt im Altaisky Krai solch ein Konzept entworfen und umgesetzt. Das kann man ein-, zweimal machen, aber es ist kein Modell, das man in den Weiten Sibiriens oder der Wolga anwenden kann, weil der Investitionsmittelbedarf zu hoch wäre. Aus der Erkenntnis heraus, daß Entwicklungszusammenarbeit niemals Bedarfsdeckung sein kann, sondern nur Hilfe zur Erlangung der Fähigkeit, den eigenen Bedarf

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langfristig selbst zu decken, sind auch die Maßnahmen im Bereich der Wirtschaftsförderung verstärkt an dieser Erkenntnis auszurichten, das heißt konkret, die Maßnahmen stärker als bisher auf Beratung sowie Fort- und Weiterbildung auszurichten.

Ich hatte weiter oben ausgeführt, daß wir es bei den Deutschstämmigen heute oft mit dem Erscheinungsbild „schweigende Mehrheit" zu tun haben, was mit beinhaltet, daß es auch sehr aktive Personen gibt, jedoch eben in geringer Zahl. Beobachtungen in den letzten Jahren legen sowohl im betrieblichen als auch im privaten Kontext einen Mangel an Gestaltungs- und Management- bzw. Organisationskompetenz oder den Willen dazu offen. Ich versage mir, über die Ursachen hierfür zu spekulieren. Die erlebte Realität stellt sich zur Zeit so dar.

Die Fähigkeit oder die Befähigung des einzelnen, sein Leben aktiv zu gestalten, ist ein wesentliches Element der Entwicklung. Maßnahmen der indirekten Förderung auf dem Wirtschaftsgebiet müssen in Inhalt und Form der Ausbildung dieser Fähigkeit Rechnung tragen. Das heißt im Klartext, daß wir uns vor Ort vom „Macher" und „Betreiber" in den ersten fünf Jahren zum Berater, Ideengeber, Spielleiter verändern sollten – eine Aufgabe, die im Süden heute selbstverständlich ist.

Hinzu kommen könnte so etwas wie ein Kontaktmanagement

  • für Partnerschaften, zum Twinning zwischen Kommunen, Vereinen, Institutionen etc. Wir vermitteln, wecken das Interesse der persönlich Beteiligten, arrangieren, liefern Know-how. Aber wir überlassen den Beteiligten die Wahl der Inhalte, die Sorge für das erfolgreiche Überleben – dafür werden die jeweils Beteiligten selbst verantwortlich;
  • für Partnerschaften zwischen Unternehmen, geleitet von gegenseitigem geschäftlichem Interesse. Daß durch solche Partnerschaften langfristig Arbeitsplätze für Deutschstämmige erhalten oder geschaffen werden, müßte als Förderungsgrund ausreichend sein;
  • bei Joint Ventures im Hinblick auf konkrete Aus- und Fortbildungsbedarfe – mehrheitlich für Deutschstämmige;
  • für den Zugang zu neuen Märkten. Existenzgründer sollten wie bisher beim Identifizieren von Geschäftsideen, bei der Erarbeitung von Geschäftsplänen, bei der Marketingberatung sowie beim Aufbau einer

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    angepaßten Organisation durch entsprechende Kursangebote unterstützt werden;

  • zum Arbeitsmarkt durch Aufspüren von Arbeitsplätzen bzw. von geeigneten oder durch gezielte Fortbildung geeigneten Bewerbern.

Über ein Kreditlinienprogramm für Klein- und Mittelbetriebe sowie für Existenzgründungen wird man sich nach Klärung der Bankensituation in Rußland und der Ukraine erneut Gedanken machen müssen.

Lassen Sie mich zur dritten Säule der Maßnahmen für die Deutschstämmigen kommen: zum Programm Breitenarbeit. Schon das Wort Programm belegt, daß es sich inhaltlich um mehrere Teile handelt, die in einer gewissen Gleichzeitigkeit an 470 Orten in Rußland, in der Ukraine, in Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Polen stattfinden. Als die GTZ im Frühling 1996 den Auftrag erhielt, die Deutschen in der Russischen Föderation und Kasachstan möglichst flächendeckend mit einem Sprachkursangebot zu versorgen, stand die Frage nach dem Ziel unserer Bemühungen für uns im Vordergrund. Sowohl von deutscher wie auch von russischer Seite wurden wir, häufig recht pointiert, gefragt: Macht die GTZ jetzt ein „Anti-Komm"-Projekt mit nationalkulturellem Deckmäntelchen, oder werden die Rußlanddeutschen massenhaft für den Exodus geschult?

In Gesprächen mit dem BMI verständigten wir uns auf folgende Definition: Die Bundesrepublik Deutschland macht mittels der Struktur der GTZ den Deutschstämmigen in den Herkunftsländern ein möglichst vielseitiges Sprach- und Kulturangebot, welches in erster Linie dazu dienen soll, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zu stärken, ihre historisch bedingte Isolation und teilweise Entwurzelung zu überwinden sowie durch Einbeziehung anderer Nachbarethnien auch die Akzeptanz und das Sozialprestige der Deutschstämmigen in ihren Heimatländern zu erhöhen. Das Programm richtet sich in erster Linie an Bleibewillige, wobei realistischerweise hingenommen werden muß, daß viele Menschen, besonders in Kasachstan, die erworbenen Kenntnisse für einen Neuanfang in Deutschland nutzen wollen. Bestärkt wurden wir in dieser Ausrichtung unserer Arbeit durch Gespräche im Moskauer Ministerium für Nationalitätenpolitik der Russischen Föderation (Minnac), aber auch durch Behörden vor Ort. Im Sommer 1996 war der Grundtenor, der vehement von russischer Seite vertreten wurde, sinngemäß etwa folgender: „Die Rußlanddeutschen sind Staatsbürger der Russischen

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Föderation. Unsere Behörden beobachten sehr aufmerksam, welche Botschaft in den Kursen der ‘Breitenarbeit’ verkündet wird. Sollte hier durch Information über das Leben im deutschen ‘Paradies’ gezielt Abwerbung betrieben und somit ganze Regionen destabilisiert werden, machen wir der GTZ ‘den Laden zu’ und schicken die Entsandten nach Hause."

Vor diesem Hintergrund wurden auch ganz bewußt auf Arbeitsebene Grundsatzentscheidungen getroffen: Keine Arbeit in den Sprachkursen mit didaktisch hervorragenden, aber auf die Integration in Deutschland ausgerichteten Lehrbüchern wie „Der neu Weg". Statt dessen erhielt die vom Goethe-Institut geleitete Autorengruppe die klar definierte Aufgabe, mit dem Lehrwerk „Hallo, Nachbarn!" nicht auf die Ausreise vorzubereiten, sondern rußlanddeutschen bzw. kulturkontrastiven Themen den Vorzug zu geben.

Analog wurde im Begegnungsstättenbereich verfahren. Die im Rahmen der „Breitenarbeit" geförderten Häuser werden von der GTZ vertraglich verpflichtet, keine projektfinanzierte Struktur wie technische Ausrüstung, Räumlichkeiten oder Personal für ihren Aussiedlerservice zu nutzen. Da die „Wiedergeburtsgesellschaften" sich zuvor weitestgehend durch Dienstleistungen wie konsularische Botendienste, Beglaubigung und Übersetzung von Urkunden etc. finanzierten, war diese Vorgabe anfangs schwer zu vermitteln, wurde aber letztlich akzeptiert, zumal sich im Rahmen der Breitenarbeit häufig neue Arbeitsfelder ergaben. Mittlerweile sind seit Auftragsbeginn Frühjahr 1996 bis Ende vergangenen Jahres 8.380 Sprachkurse mit mehr als 130.000 Teilnehmern in der Russischen Föderation und Kasachstan durchgeführt worden.

Wir sind uns darüber im klaren, daß Konzeption und Durchführung vor Ort in mancher Hinsicht ambivalent sind und Fragen provozieren. Unsere bisherige Arbeit fand unter den geschilderten politischen Rahmenbedingungen statt. Kurspräzisierungen werden auch von mir begrüßt, da sie die Möglichkeit geben, die Effektivität unserer Arbeit zu steigern. Wie könnte eine solche Effizienzsteigerung vielleicht aussehen? Für die Spracharbeit wäre folgende Struktur vor Ort denkbar: Bereitstellung einer sprachlichen Grundversorgung durch die GTZ-Struktur (Stundenvolumen maximal 160 Unterrichtseinheiten). Danach trifft jeder Teilnehmer individuell die Entscheidung: sich von Fachleuten des GI oder DAAD oder der „Znanie" ein bestimmtes Sprachniveau bescheinigen zu lassen und dies z.B. beruflich im Herkunftsland zu nutzen oder an den Sprachlernzentren des Goethe-Instituts (Regionalzen-

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tren, Kontaktstellen etc.) seine Kenntnisse zu erweitern oder aber sich bei den Sprachtestern des Bundesverwaltungsamtes zu melden. In jedem Fall sollte Zertifizierungsfragen sowie der Evaluation unserer Arbeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ein radikaler Kurswechsel in der Breitenarbeit bzw. ihr partieller Abbruch würden u.a. einen erheblichen Vertrauensverlust nach sich ziehen. Aus unserer Sicht ist es jedoch an der Zeit, Modelle für die Zeit nach dem Auslaufen der deutschen Förderung zu entwickeln, um sicherzustellen, daß Strukturen und Partner zumindest partiell fortbestehen können.

Der durch die Sprachkurse zweifellos erzielte Motivationsschub muß besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt werden, um deren Perspektiven zu verbessern, indem aufbauend auf oder parallel zu den Sprachkursen neue Angebote im Bereich der Berufsorientierung und Sozialarbeit an den Begegnungsstätten entwickelt werden. Erste Sondierungsgespräche mit russischen Fachinstitutionen sowie mit deutschen Universitäten haben stattgefunden, Referenten wären verfügbar, so daß die Konzeption jederzeit entsprechend erweitert werden kann. Als ein wesentliches Element in den Begegnungszentren sollen Aktivitäten aufgenommen werden, die den einzelnen befähigen, sein Leben aktiv zu gestalten, Mut zu finden, aus der Vereinzelung herauszutreten und mit anderen gemeinsam gestalterisch aktiv zu werden.

Zum Schluß möchte ich den Bogen zurückschlagen zum Anfang meiner Ausführungen. Mit dem Hinweis auf Ruanda ist es mein Anliegen, uns alle aufzufordern, vorurteilslos immer wieder die Realitäten der Menschen zu betrachten, mit denen gemeinsam wir etwas Zukünftiges erarbeiten wollen. Hilfen für jemanden können in der Not notwendig sein. Maßnahmen mit Menschen gemeinsam zu entwickeln – bringt Selbstbewußtsein und ist damit eine Triebfeder zur Entwicklung.

So komme ich abschließend zu dem Ergebnis, daß die Unterstützung und Gestaltung von Zusammenleben nicht „ein Faß ohne Boden", sondern eine wirkliche Investition in die Zukunft ist. Auch politische Axiome müssen auf den Prüfstand gestellt werden, um zwischen dem eigenen Wunsch und der Realität zu unterscheiden. Deshalb verweise ich nochmals auf das Goethe-Zitat am Anfang.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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