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TEILDOKUMENT:
Lebenslagenkonzept oder Statusorientierung?Von der Aussiedlerbetreuung zum Migrationssozialdienst [Seite der Druckausg.: 28 = Leerseite ] [Seite der Druckausg.: 29 ] 1. Selbstverständnis sozialer Arbeit mit Aussiedlern
1.1 Soziale Arbeit mit Aussiedlern ist Arbeit mit Zuwanderern
Zuwanderer in Deutschland stehen unabhängig vom jeweiligen Herkunftsland und zuerkannten Status vor der Aufgabe, sich in einer veränderten, zunächst fremden Lebensumwelt zu orientieren und zurechtzufinden. Die Grundfragen und Probleme, die sich im Zuge der Migration und im weiteren Verlauf des Eingliederungsprozesses stellen, ähneln sich, egal ob eine Familie aus dem nahen Osten, aus Südostasien, aus einem afrikanischen Land oder aus einem Staat der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommt. Werde ich, wird meine Familie hier ein besseres Leben haben? Welche Zukunft werden wir haben in diesem Land?" Es ist vor allem der integrationsfördernde Rechtsstatus, der Aussiedler von anderen Einwanderergruppen unterscheidet. Der Rechtsstatus bestimmt zu einem nicht unerheblichen Teil, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Chancen die einzelnen Zuwanderergruppen ihre Lebenssituation im Aufnahmeland gestalten und bewältigen können. Abgesehen von Fragen im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsstatus hat Sozialarbeit mit Aussiedlern viele Gemeinsamkeiten mit der sozialen Beratung von Migranten aus anderen Herkunftsländern. Viele der Erfahrungen aus der Arbeit mit bereits länger in Deutschland lebenden Zuwanderergruppen lassen sich nutzbringend auf die Arbeit mit Aussiedlern übertragen. Ebenso können wir profitieren von den Ergebnissen migrationssoziologischer Forschungen und jahrelanger Praxis interkultureller Pädagogik. Denken Sie nur an die steigende Anzahl gemischtnationaler Ehen unter den Aussiedlern sowie die zunehmende Inanspruchnahme von Beratungsstellen für Spätaussiedler durch Kontingentflüchtlinge aus der alten Sowjetunion, und Sie sehen, wie sehr sich die Grenzen zwischen den Zuwanderergruppen verwischt haben. [Seite der Druckausg.: 30 ] Aus unserem Selbstverständnis als Migrationssozialdienst folgt, daß die Mitarbeiter in der Aussiedlerberatung anstreben, die bereits praktizierte intensive Zusammenarbeit mit anderen Beratungsdiensten für Migranten weiter zu vertiefen. Unter Berücksichtigung der bestehenden förderrechtlichen Abgrenzungen verfolgen wir das Ziel einer organisatorischen Verknüpfung der bestehenden Beratungsdienste für die verschiedenen Zuwanderergruppen. Was wir damit erreichen wollen, ist eine weitere Bündelung der in den einzelnen Teams vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen. Hierdurch steigern wir die Effizienz unserer Angebote, wir erhöhen die Qualität der erbrachten Leistungen, die den Betreuten direkt beispielsweise durch gemeinsame Einzelfallarbeit, beispielsweise durch ineinandergreifende, aufeinander abgestimmte pädagogische Maßnahmen zugute kommt. Gemeinsame Teambesprechungen und Fortbildungen dienen dazu, den Blick für das Verbindende, aber auch für zielgruppenspezifische Besonderheiten zu schärfen. Ich denke, daß hierdurch die Fähigkeiten der Mitarbeiter zur Gestaltung eines individuellen Eingliederungsplanes entscheidend verbessert werden können.
1.2 Soziale Arbeit mit Aussiedlern verlangt von einheimischen Fachkräften die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog
Wir halten es für entscheidend, die soziokulturelle Prägung der Aussiedlerfamilien als eigenständig und als verschieden von unserer bundesdeutschen Sozialisation anzuerkennen und zu akzeptieren. Ebenso wie in der Arbeit mit anderen Zuwanderergruppen spiegelt sich in der Begegnung zwischen Aussiedlern und einheimischen Fachkräften das Aufeinandertreffen nicht nur verschiedener Individuen, sondern zugleich auch unterschiedlicher soziokultureller Prägungen. Diese Art der Begegnung setzt auf seiten der Fachkraft neben Fachkompetenz immer auch die Fähigkeit voraus, über kulturelle Grenzen hinweg miteinander in Beziehung zu treten, die Fähigkeit also zum interkulturellen Dialog. Diese Dimension unterscheidet die Arbeit mit Aussiedlern grundsätzlich von jeder sozialen Arbeit mit Gruppen einheimischer Bevölkerung. Die unreflektierte Anwendung und Übertragung von Beratungskonzepten und Kommunikationsweisen aus der Arbeit mit Einheimischen kann im Kontakt mit Migranten schnell zu Mißverständnissen und Verwirrung führen. Auf Klientenseite entsteht dann leicht das Gefühl, nicht verstanden zu wer [Seite der Druckausg.: 31 ] den, nicht ernst genommen zu werden, die gewünschte Hilfe nicht zu bekommen, auf seiten des Beraters kommt es möglicherweise zur Unterstellung mangelnder Kooperation, fehlender Änderungsmotivation oder verworrener Absichten bzw. zu Hilflosigkeitsgefühlen oder Desinteresse. Konsequenterweise führt dies dann zu gegenseitiger Ablehnung, Interesseverlust und Abbruch der Beziehung. Es scheint so selten nicht zu sein, daß dieses Ergebnis einer mißglückten interkulturellen Kommunikation in sozialen Beratungseinrichtungen der Regelversorgung entsteht, wenn Migranten dort um Hilfe nachsuchen. Interkultureller Dialog bedeutet die Fähigkeit zum Brückenschlag zwischen verschiedenen Wert- und Normensystemen mit jeweils eigenen Erwartungshaltungen und Handlungsmustern. Interkultureller Dialog, das setzt voraus, den anderen nicht nur in seiner persönlichen, sondern auch in seiner kulturellen Andersartigkeit wahrzunehmen und auch anerkennen zu können. Hierzu ist es notwendig, von den eigenen soziokulturellen Wertvorstellungen abstrahieren zu können. Die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog erfordert vom einheimischen Berater Grundkenntnisse über die Herkunftskultur der Zuwanderer, die Reflexion der bestimmenden Normen, Werte und Lebensregeln der eigenen Gesellschaft sowie eine Auseinandersetzung mit den persönlichen Wertvorstellungen und ihrer kulturellen Hintergründe. Die Anpassungsleistung des methodischen Repertoires an die Erfordernisse der Migrantengruppe muß bislang von den in der Aussiedlerarbeit tätigen Sozialpädagogen aus der alltäglichen Praxis heraus sowie im kollegialen Austausch individuell erbracht werden. Langfristig ist es notwendig, daß berufsbegleitende Fortbildungen zur Zusatzqualifikation in interkultureller Beratung geschaffen werden, die allen Mitarbeitern in der Migrationssozialarbeit, aber auch anderen sozialen Bereichen offensteht.
1.3 Soziale Arbeit mit Aussiedlern bedarf einer langfristigen Perspektive
Es ist nichts Neues, daß Zuwanderer verglichen mit der einheimischen Bevölkerung aufgrund sozialer Handikaps sowie stärkerer psychosozialer Belastungen ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Probleme, für psychosoziale Störungen und für soziale Fehlentwicklungen aufweisen. Trotzdem sind Migranten als Ratsuchende in Beratungsstellen und sozialen Einrichtungen der Regelversorgung eher unterrepräsentiert. Soziale Beratungsstellen und Dien [Seite der Druckausg.: 32 ] ste werden von Migranten selten bzw. erst bei hoher Problembelastung in Anspruch genommen, die Abbruchquoten liegen hoch. Dies läßt sich nicht ausschließlich damit begründen, daß viele Zuwanderer ungenügend über Hilfsangebote und Hilfsmöglichkeiten informiert sind. Es liegt auch daran, daß ein Teil der Zuwanderer auch nach Jahren in Deutschland noch die migrationsspezifischen Dienste aufsucht, die Dienste, die sich in der Vergangenheit schon als hilfreich erwiesen hatten, in denen das Gefühl des Fremd-Seins weniger stark auftritt, das Gefühl, akzeptiert und angenommen zu werden, eher gespürt wird. Je größer die Probleme bei der Integration, desto größer wird der Anteil derjenigen sein, die auch längerfristig migrantenspezifische Dienste aufsuchen werden. Aussiedler unterscheiden sich hierin nicht von anderen Zuwanderergruppen. Es ist nicht unser Ziel, Aussiedler an uns zu binden. Dort, wo es geraten erscheint, bahnen wir Kontakte zu Regeleinrichtungen, wir vermitteln, wir ebnen den Weg, wir begleiten Klienten hinein in den deutschen" Alltag. Doch wir erleben in der Praxis täglich, daß ein Teil der Aussiedler auch nach Jahren noch unsere Dienste wieder aufsucht, oftmals auch nach Kontakten zu Regeleinrichtungen. Migrationssozialdienste sind somit aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen und Ressourcen wichtige Kooperationspartner für die Einrichtungen der sogenannten Regelversorgung. Angesichts der Veränderungen in der Zuwanderung aus Osteuropa ist heute mehr denn je auch für Aussiedler ein zuwandererspezifisches Angebot notwendig, das mit langfristiger Perspektive geplant ist und das weit über die Erstbetreuung nach der Einreise sowie die ersten drei bis fünf Jahre in Deutschland hinausreicht.
1.4 Soziale Arbeit mit Spätaussiedlern erfordert neben deutschen auch herkunftssprachliche Beratungsangebote
Der überwiegende Teil der heute einreisenden Aussiedler spricht nur unzureichend, kaum bzw. gar kein Deutsch. Ist dadurch schon die allgemeine Orientierung im Alltag sowie die berufliche Integration erschwert, ist eine Verständigung auf Deutsch im Bereich persönlichen Probleme meist extrem schwierig. Besonders in der Jugendarbeit sind muttersprachliche Angebote unverzichtbar geworden, wenn es darum geht, Zugang zu schwierigen Jugendlichen zu bekommen, die der sie umgebenden Kultur ablehnend gegenüberstehen, in der Arbeit mit delinquenten jugendlichen Zuwanderern bzw. mit Jugendgangs, die sich nach außen abschotten. [Seite der Druckausg.: 33 ] Erforderlich ist ein Ansatz, der sowohl deutsche wie muttersprachliche Angebote beinhaltet. Hierzu ist die Einstellung von pädagogischen Fachkräften erforderlich, die selbst aus den Herkunftsländern stammen, die in der Lage sind, ein muttersprachliches Angebot zu machen und denen die kulturellen Denk- und Handlungsmuster der Zuwanderer vertraut sind. Als ideal betrachten wir ein gemischtes Team aus einheimischen pädagogischen Fachkräften mit interkultureller Spezialisierung und zugewanderten Fachkräften, die ihre berufliche Qualifikation in Deutschland erworben haben, die die eigene Migration bewältigt haben und denen beide Kulturkreise gleichermaßen vertraut sind. Ein solches Team bietet allen Teamangehörigen ein interkulturelles Lernfeld, von dem jeder profitieren kann; gleichzeitig kann es nach außen hin fungieren als Modell für eine fruchtbare kulturübergreifende Zusammenarbeit, für ein funktionierendes multikulturelles Miteinander.
1.5 Soziale Arbeit mit Spätaussiedlern erfordert zielgruppenübergreifende Angebote
Eingliederungsarbeit ist dann erfolgreich, wenn der Brückenschlag zwischen Zuwanderern und Einheimischen gelingt. Soziale Arbeit mit Aussiedlern wendet sich demzufolge nicht nur an Spätaussiedler, sondern versucht, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in ihre Angebote miteinzubeziehen. Hierbei sind wir der Auffassung, daß zielgruppenübergreifende Angebote (u.U. auch mit Einheimischen) dann die größte Aussicht auf Erfolg haben, wenn ein gemeinsames Interesse, wenn gemeinsame Aktivitäten wie Kommunikationstraining, Sportgruppe, PC-Kurs, Videogruppe im Vordergrund stehen. Auf diese Weise geschieht gegenseitige Akzeptanz quasi durch die Hintertür: Das Gemeinsame steht im Vordergrund.
2. Aussiedler in Nürnberg
Seit den Anfängen des Zuzugs von Aussiedlern nimmt Nürnberg eine Sonderstellung in Bayern ein: Bis Juni 1994 war hier eine Bundesaufnahmestelle in den sogenannten Grundig-Türmen untergebracht. Seither befindet sich dort die Landesaufnahmestelle, von der aus die weitere Verteilung der dem Land Bayern zugewiesenen Aussiedler erfolgt. In Nürnberg leben laut Statistischem Amt 70.000 Aussiedler, das sind auf die deutsche Bevölkerung [Seite der Druckausg.: 34 ] (423.000) bezogen fast 17%. Hinzu kommen 80.000 Ausländer. Nürnberg war und ist aufgrund bestehender Familienbindung bevorzugter Wohnort von Aussiedlern. Selbst die schwierige Arbeitsmarktlage hindert Aussiedler nicht daran, in der Stadt ihren Wohnsitz zu nehmen. Glücklicherweise hat sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt so entspannt, daß die Verweildauer in den Übergangswohnheimen inzwischen relativ kurz ist und zum größten Teil ihre Nutzung gar nicht in Anspruch genommen wird. Die Stadt Nürnberg hat sich schon immer in vorbildlicher Weise den Anliegen der Aussiedler angenommen. 1984 konstituierte sich der Aussiedlerbeirat, in Deutschland das einzige Gremium dieser Art auf kommunaler Ebene, der sich aus Stadträten und Vertretern von Verbänden, Landsmannschaften, Stadtverwaltung und Landesaufnahmestelle zusammensetzt. Er ist ein wichtiges Sprachrohr, um Probleme bei der Integration besser und nachhaltiger lösen zu können. Seit 1989 gibt es einen Aussiedlerbeauftragten beim Sozialreferat der Stadt Nürnberg, der sich als Schnittstelle zu Verwaltung und Trägern auf kommunaler wie auch auf Landes- und Bundesebene versteht. Nürnberg verfügt über ein sehr gut ausgebautes Netz von Eingliederungshilfen und trägerübergreifenden, gut funktionierenden Kommunikationsstrukturen. Die Stadt Nürnberg gewährt für die kulturelle und soziale Eingliederung jährlich freiwillige Zuschüsse in Höhe von ca. 400.000 DM, wobei das Augenmerk auf der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen liegt. So konnte z.B. trotz prekärer Haushaltslage das HIPPY-Projekt nach der Modellförderung weiter durchgeführt werden.
3. Die AWO-Praxis in Nürnberg
Seit 1957 ist die Nürnberger Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Beratung und Betreuung von Aussiedlern aus ost- und südosteuropäischen Ländern tätig. 30 Jahre lang war dieses Arbeitsfeld mit je einer Personalstelle im Jugend- und Erwachsenenbereich besetzt. Mit der Änderung der politischen Verhältnisse in Osteuropa begann in den Jahren 1987/88 der Zustrom der Aussiedler nach Deutschland. Die Nürnberger AWO reagierte auf die ständig steigenden Zuwandererzahlen und baute in den Folgejahren ihre Eingliederungsdienste personell und inhaltlich dem Bedarf entsprechend aus. Die so [Seite der Druckausg.: 35 ] zialpädagogische Arbeit stand unter dem Druck, auf den plötzlichen Wandel der Anforderungen im Zuge der veränderten Situation flexibel und schnell reagieren zu müssen. Angebotsstruktur und pädagogisches Vorgehen mußten den sich ändernden Bedürfnissen und Lebenslagen der Zuwanderer sowie der Situation im Aufnahmeland fortlaufend angepaßt werden. Die Orientierung an der Bewältigung der drängendsten Aufgaben führte zu einem raschen räumlichen und personellen Ausbau des Sachbereichs, mit dem die Konzeptentwicklung oft kaum Schritt halten konnte. Zudem galt es, die eigenen Beratungs- und Betreuungskonzepte zu verknüpfen mit den Angeboten der Dienste innerhalb der AWO und denen der Eingliederungsarbeit der anderen Verbände. Zu den Diensten der allgemeinen sozialen Regelversorgung mußten Strukturen einer kooperativen Zusammenarbeit entwickelt werden. 1990 kam mit der Einrichtung von Flüchtlingsberatungsstellen in vier Gemeinschaftsunterkünften eine weitere Zuwanderergruppe hinzu. Entsprechend änderte sich die Bezeichnung zu Sachbereich: Aussiedler- und Asylbewerberberatung und -betreuung". Die zunehmende Arbeitslosigkeit, Kürzungen bei den Eingliederungsleistungen sowie zunehmend geringere Deutschkenntnisse in der Zuwanderergruppe führten Mitte der neunziger Jahre dazu, daß die Chancen auf berufliche Eingliederung für Aussiedler sanken. Insbesondere jugendliche Aussiedler waren von der hohen Jugendarbeitslosigkeit in besonderem Maße betroffen. Die berufliche Qualifizierung benachteiligter jugendlicher Migranten wurde immer wichtiger, um zu verhindern, daß ein zunehmend größerer Teil dieser Jugendlichen dauerhaft ins gesellschaftliche Abseits gerät. Entsprechend schufen wir ergänzend zu unseren bisherigen Angeboten den Bereich Jugendberufshilfe, der heute 15 Mitarbeiter umfaßt, die in verschiedenen Kursen bis zu 150 Jugendliche betreuen. In der praktischen Arbeit machten wir immer wieder die Erfahrung, daß sich die Lebenslagen der betreuten Migrantengruppen unabhängig vom jeweiligen Rechtsstatus in vielem ähnelten. Die Orientierung der Arbeit an den Gemeinsamkeiten der Lebenssituation führte dazu, daß das Trennende, die Statusorientierung, zunehmend in den Hintergrund trat. Um dieser Tatsache auch im äußeren Erscheinungsbild Rechnung zu tragen, erfolgte eine erneute Änderung des Namens, so daß der Sachbereich heute Migration Jugend und Familie heißt. [Seite der Druckausg.: 36 ] In bezug auf die dritte große Gruppe der Zuwanderer, die Arbeitsmigranten, besteht eine enge Kooperation des Sachbereichs mit den Ausländersozialdiensten, die es in Nürnberg in Trägerschaft des Landesverbandes Bayern der AWO schon seit den sechziger Jahren gibt. Selbstkritisch ist anzumerken, daß hier noch getrennt ist, was nach unserem Verständnis idealtypisch" zusammengehört. Im Laufe der Jahre konnte so eine Struktur komplementärer, sich gegenseitig ergänzender Angebote entwickelt werden, die den spezifischen Erfordernissen unterschiedlicher Zuwanderergruppen, ihrer Lebenslage sowie den konkreten Rahmenbedingungen vor Ort Rechnung trägt. Gleichwohl stellen wir in der praktischen Arbeit fest, daß die am rechtlichen Status orientierten Förderkriterien die Möglichkeiten einer sinnvollen Unterstützung oftmals erschweren, zuweilen gänzlich in Frage stellen. Derzeit beschäftigt der Sachbereich insgesamt 42 hauptamtliche Fachkräfte, deren Arbeit in vielen Bereichen durch Honorarkräfte unterstützt und ergänzt wird. Heute verfügt der Sachbereich Migration Jugend und Familie über ein qualifiziertes, vielfältig vernetztes und differenziertes Beratungs- und Betreuungsangebot, das sich an den Lebenslagen der Zuwanderer orientiert und ihrer gesellschaftlichen Integration dient. Es beinhaltet aufeinander abgestimmte allgemeine sowie spezifische Hilfen für die jeweiligen Altersstufen in allen Stadien des Eingliederungsprozesses. Wir verstehen den Migrationsdienst als fachliche Einheit, in dem wir uns bemühen, die Trennung zwischen Migrantengruppen soweit wie möglich aufzuheben. Unter diesem gemeinsamen Dach bieten wir:
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Weiteren Handlungsbedarf sehen wir im Bereich der Suchtproblematik (hierbei insbesondere in Hinblick auf Alkohol und illegale Drogen) sowie der Jugendgerichtshilfe. Erste Schritte (engere Zusammenarbeit mit der Drogenberatungsstelle sowie zusätzliche Qualifizierung von MitarbeiterInnen) wurden bereits unternommen.
4. Zwei Praxisbeispiele
Anhand von zwei Praxisbeispielen möchte ich unseren Schritt von der Aussiedlerbetreuung zum Migrationssozialdienst verdeutlichen. Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung haben in der sozialen Eingliederungsarbeit in der Nürnberger AWO einen hohen Stellenwert, da wir in der Praxis täglich miterleben, daß immer mehr junge Migranten in Ausbildung und Beruf scheitern. Die Probleme von Aussiedlerjugendlichen mit ihrer beruflichen Integration unterscheiden sich dabei nicht von den Problemen anderer junger Migranten (z.B. Sprachdefizite, Orientierungslosigkeit, schlechte oder keine Schulabschlüsse). Aus diesem Grund bieten wir seit 1994 in enger Kooperation mit dem Arbeitsamt, dem Freistaat Bayern sowie Betrieben berufsbezogene Maßnahmen für Migranten an. Die durch die langjährige Erfahrung in der Aussiedlerarbeit erworbene interkulturelle Kompetenz trägt wesentlich zum Gelingen dieser Fördermaßnahmen bei. Diese Maßnahmen sind: [Seite der Druckausg.: 38 ]
Insgesamt nehmen fast 150 Jugendliche unsere berufsbezogenen Angebote in Anspruch. Es sind überwiegend Aussiedlerjugendliche aus den verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aber auch aus der Türkei, Äthiopien, Togo, Polen, Rumänien, Thailand, Mazedonien, Sri Lanka, Italien und dem ehemaligen Jugoslawien. Das an der Lebenswelt orientierte Gemeinsame ist der Wunsch nach Ausbildung. Das Trennende ist z.T. der Status, der z.B. Asylbewerbern die Teilnahme an einer beruflichen Qualifizierung verwehrt. Im zweiten Praxisbeispiel möchte ich das Projekt MiA Mädchen in der AWO vorstellen. MiA wird im Rahmen des KJP, hier Modellprogramm Mädchen in der Jugendhilfe", vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Es ist auffallend, daß Mädchen, insbesondere Migrantinnen, in den Einrichtungen der offenen Jugendarbeit unterrepräsentiert sind. Ziel des Projekts MiA ist es daher, neue Wege in der Jugendhilfe zu gehen, um insbesondere auch für Migrantinnen den Zugang zu Jugendhilfeangeboten zu verbessern. Die Grundidee des Projekts ist, Mädchenarbeit mit Ansätzen der schulbezogenen Jugendhilfe zu verknüpfen. Zum einen bietet sich Schule als ein Ort, [Seite der Druckausg.: 39 ] an dem Mädchen viele Stunden am Tag verbringen, als Zugangsweg an. Zum anderen gehen wir davon aus, daß die Förderung junger Migrantinnen um so erfolgreicher ist, je enger die beteiligten Stellen zusammenarbeiten. Im Rahmen der Projektarbeit begleiten wir je drei Klassen an zwei Hauptschulen mit einem Migrantenanteil von fast 80% (AussiedlerInnen, AusländerInnen und Flüchtlingen) drei Jahre lang. Begonnen wurde im März 1998 mit der 7. Klasse, so daß das Projekt mit der Begleitung im Übergang Schule Beruf endet. Die Mädchen sollen in der wichtigen Lebensphase von Umbruch und Neuorientierung kontinuierlich und langfristig bei der Entwicklung und Durchsetzung ihrer Lebensentwürfe gestärkt und unterstützt werden. Das Mädchenmodellprojekt MiA ist bislang das einzige Angebot im Sachbereich, das sich wirklich idealtypisch an den Lebenslagen der Mädchen orientiert. Keiner wird der Zugang verwehrt, weil der Aufenthaltstitel nicht paßt. Unsere pädagogische Arbeit mit den ca. 70 Mädchen aus Italien, Türkei, Iran, Irak, Serbien, Kosovo, Rumänien, GUS, Somalia, Polen und nicht zuletzt aus Deutschland basiert auf einem interkulturellen Ansatz, nicht verstanden als Methode, sondern als Haltung und Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen. Kulturelle Unterschiede zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen bezüglich ihrer individuellen Handlungs- und Orientierungsmuster finden Berücksichtigung. Das Gemeinsame Mädchen Raum zu geben, um Selbstbewußtsein und Selbstwerterleben zu stärken sowie die Solidarität unter den Mädchen zu unterstützen steht im Vordergrund. Sie sehen, unsere Angebote könnten lebenslagenorientiert allen Migranten offenstehen. Ich wünsche mir vom Aussiedlerbeauftragten neue Akzente in der Integrationspolitik, die Menschen nicht aussortiert und damit ausschließt, sondern teilhaben läßt, denn die sozialverträgliche Integration von allen Zuwanderern bleibt eine gesellschaftliche Herausforderung für die Bundesrepublik.
Literatur
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband: Sozialdienste für Migranten, Bonn 1993. Arbeiterwohlfahrt Kreisverband: Arbeitskonzept und Beratungspraxis, Nürnberg 1995. Informationen zur Ausländerarbeit: Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, 1/97, Frankfurt. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000 |