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Annegret Haasche
Der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod aus Sicht der Frauenselbsthilfe nach Krebs


Sterben und Tod ist eines der großen Tabu-Themen unserer Gesellschaft. In früheren Zeiten lebten mehrere Generationen unter einem Dach. Geburten, Leben, Tod, es war eine Einheit. Diese Familieneinheiten gibt es heute kaum noch.

In unseren Gruppen der Frauenselbsthilfe nach Krebs gibt es viele einsame ältere Menschen, welche Angst haben, allein sterben zu müssen. Aber auch jüngere Krebskranke, die sich eine Sterbebegleitung wünschen. Und es gehört sicherlich zu den Aufgaben der Zusammenschlüsse chronisch Kranker, eine Sterbebegleitung anzubieten, wie es auch in unserem Verband geschieht.

Doch, was ist Sterbebegleitung eigentlich? Ich denke, jeder erwartet und sieht von seiner Warte aus die Dinge anders.

Aber: Das erste und allein Maßgebende ist: Ich muß den Sterbenden annehmen – abholen – an der Stelle, an der ER sich befindet, an der dieser Mensch steht.

„Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens", der Inhalt dieses Zitates war der Gedanke, den ich nach der Diagnose Krebs hatte. Der Ausspruch hatte auf einmal eine besondere Bedeutung, mit 40 Jahren denkt man eigentlich noch nicht so sehr an den Rest – die Dauer – des Lebens.

Ich habe Krebs – ich muß sterben – aber jetzt doch noch nicht!

Nein, das ist unmöglich, was soll aus meinen Kindern werden, was aus meinem Mann? Ich liebe sie doch so sehr!

Der Tod: sicherlich, irgendwann stirbt jeder Mensch einmal – irgendwann in weiter Ferne – aber nicht jetzt!

Das waren nur einige Gedanken, die mir damals durch den Kopf gingen, vor 15 Jahren.

Während der langen unangenehmen Therapie verlor der Tod seinen Schrecken. Ja, manchmal wurde er zu einem Freund, der Ruhe versprach, Erlösung, Frieden.

Die Angst vor dem Tode ist gewichen, die Angst vor dem „wie werde ich sterben" ist gekommen: vor Schmerzen, Siechtum, langem Leiden.

Sehr vielen Krebskranken geht es ähnlich, und es ist gut, wenn man darüber miteinander sprechen kann.

Aber: Wieviel Angst, wie viele schlaflose Stunden könnten Schwerstkranken und Sterbenden genommen werden, wenn es für diese Situation rechtlich gültige Patientenverfügungen gäbe, welche die Ärzte von der Therapie einer qualvollen Lebensverlängerung entbinden würde.

Die Krankheit Krebs ist immer noch gleichgesetzt mit dem Wort Tod. Das erfahren wir oftmals, wenn wir einen Besuch bei einer Neuerkrankten machen. „Muß ich jetzt sterben?", lautet vielfach die erste Frage. Dann ist es relativ einfach zu sagen: „Nein, das glaube ich nicht, ich lebe schon so viele Jahre mit meiner Krebserkrankung." Diese Antwort ist auch ausreichend. Als Neuerkrankte will ich ja nur die Bestätigung haben: Nein, du stirbst nicht (so bald?).

Man lernt ja, mit seiner Krankheit zu leben, sie anzunehmen. Sie wird ein Teil des zukünftigen Lebens. Ist die Krankheit dann fortgeschritten, rückt der Tod in die greifbare Nähe, werden wir oftmals um Hilfe gebeten. Es ist relativ einfach, dann Auskünfte zu geben oder selbst entsprechende Pflegekräfte für diesen Menschen zu finden und zu informieren. Fast alle Gruppen haben sehr gute Kontakte zu den Pflegeeinrichtungen, z.B. der Caritas, dem Roten Kreuz, den Sozialstationen vor Ort, den Hausbetreuungsdiensten usw. Die Gruppen der Frauenselbsthilfe nach Krebs leisten keine Pflege- oder etwa Hausarbeiten. Wir begleiten die Sterbenden, indem wir ihnen unsere Zeit schenken.

Sehr schwierig gestaltet sich jedoch die Sterbebegleitung bei den Menschen, die man nicht kennt. Es sind keine Anknüpfungspunkte da. Ich weiß nichts über den Sterbenden! Welche Vorlieben hat er, welche Themen sollte ich vermeiden, in wieweit kennt er seine wirkliche Situation? Wie steht er zu seiner Familie?

Ich denke, damit sind dann die Helfer in den Selbsthilfegruppen überfordert. Die Krebskrankheit ist fast immer eine lange chronische Erkrankung. Es wäre also wünschenswert, rechtzeitig, wenn es dem Kranken also noch einigermaßen gut geht, Kontakt zu gleichfalls Krebskranken in einer Selbsthilfegruppe aufzunehmen.

Wir dürfen auch nicht außer acht lassen, daß die Sterbebegleitung von ebenfalls an Krebs erkrankten oder erkrankt gewesenen Menschen, erwiesen wird. Diese werden dann immer wieder mit ihrem eigenen Schicksal konfrontiert. Es ist einfach notwendig, daß eine gewisse Vertrautheit, eine Vertrauensbasis besteht, um diesen schweren Weg gemeinsam zu gehen.

Diese Basis besteht, wenn sich bei einem Menschen, den man schon lange kennt, sich das Leben dem Ende zuneigt. Hier ist Offenheit nötig und vor allem Wahrhaftigkeit.

Wenn solch ein Mensch sich an mich wendet und über das Sterben und den Tod reden möchte, so muß ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit, meine menschliche Zuwendung geben. Ich muß „hören". Und nur dieser Mensch mit seinen Fragen, Ängsten und Anliegen sollte für mich maßgebend sein.

Vielfach wünschen die Angehörigen nicht, daß mit dem Kranken über sein Lebensende gesprochen wird. Er wird entmündigt! Es werden Argumente wie: es würde ihn zu sehr aufregen, es ist zu belastend, er würde resignieren und nicht mehr gegen die Krankheit ankämpfen, der Tod ist zu schrecklich, vorgebracht. Es sind oft die Ängste der Angehörigen, die aus diesen Worten klingen. Vor allem die Kinder, gerade wenn sie noch klein sind, sollen nach Meinung der Familie unbelastet vom Sterben und dem Tod bleiben! Dabei haben gerade die kleineren Kinder ein sehr natürliches Verhältnis zum Tod, wenn man sie nicht in Zwänge führt, die sie nicht verstehen können. Welch eine Qual für alle Beteiligten.

Ich möchte Ihnen von meiner Freundin erzählen. Sie war 43 Jahre alt als sie starb. Sie starb an einem metastasierenden Brustkrebs, Hirnmetastasen. Die Patientin, ihre Familie und Freunde wußten um die Diagnose. Sie waren immer noch voller Hoffnung, daß es ihr bald besser gehen würde. Meine Freundin konnte bald nicht mehr laufen, ihr war fürchterlich schwindelig und übel, ihre Sehkraft ließ nach, der Tod war unabwendbar und voraussehbar.

Jedoch, die Familie verbot dem Arzt, mit ihr über den drohenden Tod zu sprechen; als er mich um Vermittlung bat, galt dieses Verbot auch für mich. In ihrer Angst um das Leben der Ehefrau, Mutter und Tochter wurde ein Arztwechsel, mir ein Hausverbot angedroht. Alle fühlten sich elend und deprimiert. Als ich eines Tages meinen morgendlichen Besuch bei meiner Freundin machte, ging es ihr sehr schlecht. Ich setzte mich an ihr Bett und sie fragt mich plötzlich: „Sag mir, werde ich wieder gesund?" Meine Gedanken jagten sich, sie anzulügen kam nicht in Frage und ziemlich mühsam gab ich ihr zur Antwort, sie solle mich doch bitte einmal fragen, was ich an ihrer Stelle tun würde. Ich habe es ihr gesagt. Wir haben uns aneinander geklammert und haben fürchterlich zusammen geweint. Dann haben wir mit der Familie geredet und es war ein sehr gutes Gespräch. Die Zeit, die ihnen noch gemeinsam verblieb, war geprägt von großer Offenheit, Zuneigung und Verständnis. Meine Freundin hatte die Gelegenheit, alle ihre Angelegenheiten zu regeln, einschließlich der Trauerfeier und des Pastorengespräches und als sie starb hinterließ sie ihre Familie friedvoll und getröstet. Auch so kann das Sterben sein.

Wie oft reden die Familien nicht mit ihren Sterbenden? Wie oft möchte man sich eigentlich noch etwas wichtiges oder unwichtiges sagen? Ich denke, auch hier liegt eine Aufgabe für uns, sehr behutsam diese Menschen zu Gesprächen miteinander zu führen, auch aufklärend zu wirken. Ist es doch z.B. viel zu wenig bekannt, daß Menschen, die im Koma liegen, ihre Umgebung wahrnehmen, sich jedoch selbst nicht mehr äußern können.

Ein weiterer Punkt sind die Schmerzen der Sterbenden. Immer noch passiert es, in dieser unseren so aufgeklärten Welt, daß zu Hause Sterbende unzureichend schmerztherapeutisch versorgt werden. Aussagen wie: die starken Schmerzmittel würden süchtig machen oder könnten sich lebensverkürzend auswirken, sind unethisch und unmenschlich.

Doch was können wir, die ehrenamtlichen Helfer aus den Selbsthilfegruppen noch tun? Nun, was wir gern tun, ist, die Familien etwas zu entlasten. Wir setzen uns an das Bett der Schwerkranken und Sterbenden, und geben damit den Familien Zeit und Freiraum für sich selbst. So können ohne Zeitdruck etwaige eigene Arztbesuche, Besorgungen, Friseurbesuche oder auch einfach einmal ein Spaziergang ganz allein vorgenommen werden.

In der Hauptsache habe ich bisher über das Sterben zu Hause, in der Familie gesprochen. Die meisten Menschen sterben jedoch im Krankenhaus. Sei es, daß die Pflege für die Angehörigen zu schwer wird, daß der Sterbende allein zu Hause wäre oder ganz andere Gründe. Mit dieser Tatsache müssen wir leben.

Doch auch dort ist für uns eine Sterbebegleitung möglich, so wie in der Wohnung des Kranken. Auch dort können wir am Bett sitzen und mit ihm reden oder schweigen. Wenn es gewünscht wird, können wir auch dort ein gemeinsames Gebet sprechen. Wir haben Zeit, denn die Zeit dafür muß da sein und wir sind unbelastet von Pflege und anderen Zwängen. Das Gebet wird sehr oft abgetan als unsinnig und unproduktiv. Doch wir haben festgestellt, daß es auch dafür eine Zeit gibt.

Es mag sein, daß es daran liegt, daß sterbende Krebspatienten in der Regel einen jahrelangen Kampf gegen die Krankheit geführt haben. Sie sind nicht mehr so sehr jung und das jugendliche Aufbegehren gegen den Tod ist in den langen Krankheitsjahren vielleicht versiegt. Jedoch, und das geht uns alle an, es sollte auch in den Krankenhäusern die Möglichkeit geben, in menschlicher Würde zu sterben. Nicht, wie immer noch praktiziert, abgeschoben in ein Badezimmer oder eine Besenkammer, sondern in ruhiger und angemessener Umgebung, im Kreise der Familie oder anderer dem Sterbenden wichtigen Menschen. Dazu gehört jedoch auch, daß das Pflegepersonal und die ehrenamtlichen Helfer entsprechende Unterstützung und kostenfreie Fortbildungsmöglichkeiten im Umgang mit dem Sterben und dem Tod erhalten.

Die ehrenamtlichen Helfer aus der Selbsthilfebewegung verstehen sich als Entlastung und nicht als Konkurrenz zu den kommerziellen Fachorganisationen. Nur gemeinsames Handeln und vor allem ein miteinander reden kann für alle die schwere Arbeit etwas leichter machen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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