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TEILDOKUMENT:




Paul Becker
Die Sterbesituation in unserer heutigen Gesellschaft


„Verehrte Sterbliche" – Verstehen Sie, meine Damen und Herren, diese Anrede bitte nicht falsch: Sie ist nicht gewählt worden, um Sie als Zuhörer zu schockieren – vielmehr nur aus dem Grunde, um jedem hier im Raume bewußt zu machen, daß es hier und heute nicht um irgendein interessantes Thema geht, sondern um eine Sache, die jeden von uns betrifft – also auch betroffen machen sollte.

Sterben und Tod (und der Umgang damit) ist ganz offenbar nunmehr auch zu einem gesellschaftsfähigen Thema geworden, aus der Versenkung jahrzehntelanger Tabuisierung (auch dank der Presse) herausgeholt worden und hat so letztendlich nun auch die Ebene politischen Interesses erreicht.

Hier und heute ist es uns nun zur Aufgabe gestellt: Humane, medizinische und finanzielle Aspekte des gesellschaftlichen Umganges mit Sterben und Tod im Kontext zu erörtern. Dabei ist es wohl zunächst einmal mein Auftrag, der Frage nachzugehen, wie sich die Sterbesituation in unserer heutigen Gesellschaft darstellt. Den anschließenden Überlegungen liegt der Auftrag des Veranstalters zugrunde, zunächst einmal einige statistische Angaben zur gegenwärtigen Situation vorzulegen; dann sollen einige Ausführungen zu dem damit verbundenen sozio-demographischen Wandel gemacht werden; letztendlich wären dann Perspektiven vorzustellen, die für die Zukunft von maßgebender gesellschaftspolitischer Bedeutung werden könnten.

Fragen wir also zunächst einmal (bei aller gebotenen Kritik an statistischen Daten) die Statistiker selbst.

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I. Statistische Angaben

Die Ausführungen hierzu möchte ich gliedern in die Fragen: In welchem Alter, an welchen Orten, an welchen Krankheiten stirbt man heutzutage in unserer Gesellschaft und welche Entwicklungen sind diesbezüglich im Vergleich mit der Vergangenheit offenkundig geworden.

1. In welchem Alter stirbt man bei uns?

a.) Im Jahre 1830 lag die Lebenserwartung in unserer Gesellschaft bei 33 Jahren. Im Jahre 1993 liegt diese im Durchschnitt bei 75,4 Jahren (Frauen erreichen eine mittlere Lebenserwartung von 78,2 Jahren, Männer eine solche von 72,6 Jahren).

Abbildung 1: Lebenserwartung

1830

Lebenserwartung bis 33 Jahre


1993

Lebenserwartung bis 75,4 Jahre

davon
Frauen: 78,2 Jahre
Männer: 72,6 Jahre



Daraus ergibt sich derzeit eine:

b.)Altersschichtung, die folgendermaßen aussieht:

Abbildung 2: Altersschichtung heute

0–5jährige 4,3 Millionen


20–25jährige 5,4 Millionen


25–50jährige 5,8 Millionen


70–75jährige 3,3 Millionen




c.) Auf die sogenannten Alterskrankheiten (im Rahmen der Geriatrie) werde ich später zu sprechen kommen.

2. An welchen Orten stirbt man bei uns?

a.) Bis Mitte der dreißiger Jahre kamen die Menschen nicht nur dort zur Welt, wo sie dann auch lebten; sie sind dann letztendlich auch dort gestorben. Lebensort und Sterbeort entsprachen somit einander, waren einander nicht fremd. Damit soll aber keineswegs behauptet werden, daß die damit verbundenen Situationen immer bestens gewesen seien und heute das Rad gleichsam nur zurückgedreht zu werden bräuchte.

Einerseits ginge dies nicht; andererseits waren es nicht nur „gute alte Zeiten", an die man sich erinnert. Jedoch war auch nicht alles schlecht an ihnen, besonders was die Einbindung des Sterbens in das Leben anbetrifft.

b.) Ab Mitte der vierziger Jahre änderte sich diese Situation, nicht zuletzt ausgelöst durch die permanenten Erfahrungen der Menschen mit Sterben und Tod im Krieg. Das Leben erschien der Menschheit wertvoller, schutzbedürftiger, erhaltenswerter und unverzichtbarer als bis dahin. Zugleich wurde die Medizin leistungsfähiger (etwa durch Revitalisierung, Intensivmedizin und Palliativmedizin usw.) und damit beanspruchbarer für den Erhalt des Lebens; zugleich entwickelten sich vielfältige Möglichkeiten der Versicherung gegen alles, was schaden könnte (nur nicht gegen den Tod!).

c.) Dies alles hatte zur Folge, das Leben (und damit auch das Sterben) mehr und mehr Institutionen anzuvertrauen, die für zuständig erklärt wurden, Leben zu erhalten – und dies manchmal um jeden Preis –, ohne dabei zu fragen, ob diese Einrichtungen (wie etwa unsere Krankenhäuser) für den Umgang mit dem Sterben des Menschen in jedem Falle und ohne weiteres geeignet sein könnten.

Zum Sterbeort selbst wäre noch konkret zu bemerken, daß laut Angaben des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden, und des Institutes für Seelische Gesundheit, Mannheim, sich nach der Todesursachenstatistik bzw. Krankenhausstatistik die nachfolgenden Zahlen aufzeichnen lassen:

Abbildung 3:
Todesursachen- und Krankenhausstatistik


Dies kann aber nicht ohne weiteres verallgemeinert werden, beendeten doch beispielsweise in meiner Heimatstadt Bingen (mit 28.000 Einwohnern) im Jahre 1994 80% der Verstorbenen ihr Leben im Krankenhaus, während andererseits in Saarburg (einer etwa gleich großen Stadt) nach den Angaben eines dortigen evangelischen Pfarrers es nach wie vor möglich geblieben ist, „etwa 33% der Menschen zum Sterben heimzuholen", also in den Bereich der Familie oder Gemeinde, selbst aus den Krankenhäusern und Altenheimen heraus!

Dabei ergaben seit Jahren stets wiederholte eigene Befragungen (zuletzt in etwa 1981 im Krankenhaus, 1986 in der eigenen Ambulanz), daß bis zu 92% aller Befragten am liebsten „zu Hause sterben wollten" – eben mit der Begründung: „Dort habe ich auch gelebt."

3. und nun: An welchen Krankheiten stirbt man bei uns?

a. ) Die Todesursachenstatistik ergibt derzeit im Vergleich zu 1963 etwa folgende Zahlen:

Abbildung 4: Krankheiten als Todesursachen


1963

1993

Herz-Kreislauf

238.850 = 59,4%

343.462 = 48,3%

Neoplasma

127.518 = 31,7%

174.103 = 24,5%

Unfälle

14.284 = 3,6%

19.249 = 2,7%

Alterskrankheiten

21.711 = 5,3%

174.290 = 24,5%




Im Ergebnis erscheinen die Verschiebungen in den ersten drei Gruppen nicht überraschend eklatant. Ob dies eine Folge der genaueren Abgrenzbarkeit bestimmter Krankheitsbilder ist oder etwa durch das Problem der Multimorbidität zu erklären ist, muß vorerst offenbleiben. Von besonderer Auffälligkeit ist aber, daß Alterskrankheiten im Jahr 1993 durch die statistischen Ämter nicht mehr aufgeführt wurden. (Die hier angegebene Zahl ist errechnet.) Offizielle Zahlen waren nicht zu erhalten mit der Begründung, daß der Begriff der Alterskrankheiten als unqualifiziert eingestuft werde. Dann ist doch wohl die Frage erlaubt,: „warum?" Soll dieser Begriff wohl vermieden werden, um älter werdende Menschen nicht zu erschrecken, etwa durch die Vorstellung, nun zusätzlich durch Erkrankungen im Rahmen des Alterungsprozesses gefährdeter zu sein als bislang? Ich bin der Meinung, daß ein solches Denken nichts anderes sein dürfte als ein erneuter Verdrängungsmechanismus. Eines ist doch wohl klar: Es gibt tatsächlich Krankheiten, die nur im Alter auftreten, die eben an altersbedingte Atrophien gebunden sind oder im Rahmen von Verschleißerscheinungen ihre Ursachen haben. Vergleichsweise gibt es ja auch den Begriff von Kinderkrankheiten, ohne daß dieser in Frage gestellt werden müßte. Seine Zulassung rechtfertigt doch wohl auch in unserer Gesellschaft den Begriff der Geriatrie, oder etwa nicht? Ich kann mich noch sehr genau erinnern, daß ich während meines Staatsexamens vor über 40 Jahren zum Begriff der Altersdemenz geprüft wurde! Ich selbst kann ohne weiteres mit dem Begriff Alterskrankheiten leben, ohne befürchten zu wollen, als „unqualifiziert" erachtet zu werden – aber vielleicht bin ich dafür doch schon zu alt!

b.) In Vergangenheit und Gegenwart hat sich offenbar – und dies nicht nur statistisch – bezüglich der Sterbesituation in unserer Gesellschaft manches geändert –, wenn auch nicht immer zum Guten hin. Die gegebenen Fakten sollten aber nicht einfach zur Kenntnis genommen werden als unverrückbare Realitäten. Ich denke, sie sind gewiß Anlaß genug dafür, um nachzudenken, wie wir in Zukunft mit den vorgegebenen Entwicklungen umzugehen lernen sollten. Und damit stehen wir schon vor der Frage, wie es um den hiermit verbundenen

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II. Soziodemographischen Wandel

bestellt ist. Auch hierzu wieder einige Daten als Voraussetzung.

1. Altersstruktur:

Diese erlebt derzeit einen kontinuierlichen Wandel. Am ehesten wird dies ersichtlich aus der Skizzierung des Altersaufbau unserer Bevölkerung.

Abbildung 5
Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands am 1. 1. 1992


Während früher dem Altersaufbau unserer Gesellschaft eine Pyramidenform zugrundelag, wird heute mehr und mehr erkenntlich, daß sich die Basis zunehmend verschmälert. Und die Frage ist berechtigt, wie lange bleibt eine solche Basis noch tragfähig. Vielleicht kann man im Augenblick schon von einer gewissen „Bauchlastigkeit" sprechen, der in den kommenden Jahrzehnten mehr und mehr eine kaum noch tragbare und ertragbare „Kopflastigkeit" folgen wird.

Hierzu noch ein paar ergänzende Zahlen, die aus der nachfolgenden Übersicht am ehesten überschaubar werden. Sie lassen erkennen, daß gegenüber der abnehmenden Zahl der jungen Menschen unter 25 Jahren alle anderen Altersgruppen eine deutlich steigende Tendenz aufweisen.

Abbildung 6: Einwohner in der BRD

1972

1993

Differenz

unter 25 Jahren

22.421 Mill.

18.300 Mill.

./. 4 Mill.

25 bis 45 Jahren

16.823 Mill.

20.186 Mill.

+ 4 Mill.

45 bis 65 Jahren

13.760 Mill.

17.176 Mill.

+ 3 Mill.

Über 65 Jahren

8.162 Mill.

10.114 Mill.

+ 2 Mill.




Zugleich ist erwiesen, daß die Lebenserwartung der 60jährigen, die im Jahre 1901 noch bei weiteren 13,5 Jahren lag, im Jahre 1987 schon bei weiteren 19,0 Jahren gelegen ist.

Dies bedeutet, daß nach Beske der Altersanteil der Bevölkerung, im Jahre 1990 bei 11,7 Millionen Menschen gelegen, erwartungsgemäß im Jahre 2010 bei 15,1 Millionen liegen dürfte.

Abbildung 7:

LEBENSERWARTUNG DER
60-JÄHRIGEN


lag in 1901 bei weiteren 13,5 Jahren


lag in 1987 bei weiteren 19,0 Jahren


ALTERSANTEIL DER 60-JÄHRIGEN
IN DER BEVÖLKERUNG


lag 1990 bei 11,7 Millionen Menschen


liegt 2010 bei 15,1 Millionen Menschen



Und dies heißt doch (ebenfalls nach Beske), daß der Anteil der über 65jährigen Menschen vom Jahre 1990 mit 14,91% bis zum Jahre 2010 mit 19,67% der Gesamtbevölkerung ansteigen wird.

Abbildung 8:

Die über 65jährigen machten


1990: 14,91%


1995: 15,49%


der Gesamtbevölkerung aus


Das läßt erwarten für


2000: 16,05%


2005: 18,39%


2010: 19,67%



Diese Entwicklung hat aber nicht nur eine zahlenmäßige Bedeutung. Sie beinhaltet auch eine prozentuale Zunahme altersbedingter Erkrankungen, wie dies (wiederum nach Beske) beispielsweise für die altersbedingte Demenz errechnet worden ist.

Abbildung 9: Zunahme der altersbedingten Demenz

Alter

Zunahme in %



65 – 69 Jahren

2,4 – 5,1%



70 – 74 Jahren

5,3 – 9,1%



75 – 79 Jahren

10,0 – 12,0%



80 – 90 Jahren

20,0 – 24,0%



Und dies wiederum bewirkt unter anderem einen Anstieg des allein altersbedingten Pflegebedarfs bei den 65- bis 85jährigen Menschen in unserer Bevölkerung in einer Weise, wie es aus der anschließenden Übersicht erkennbar wird:

Abbildung 10: Pflegebedarf

Alter

Häufigkeit in %



65 – 69 Jahren

1,7%



70 – 74 Jahren

3,2%



75 – 79 Jahren

6,2%



80 – 84 Jahren

10,7%



über 85 Jahren

26,3%



Ergänzend sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, daß die Pflegebedürftigkeit der hiervon betroffenen Menschen im Jahre 1992:

  • bei mehrfach wöchentlich erforderlicher Pflege bei 465.000 Personen lag,
  • bei täglich erforderlicher Pflege bei 468.000 Personen lag, und bei ständig erforderlicher Pflege schon bei 190.000 Personen lag.

Und nun noch ein paar Hinweise zur sozialen Einbindung der Menschen in unserer Gesellschaft.

2. )

Die Zahl der Einfamilienhaushalte ist, ebenfalls nach Angaben des statistischen Bundesamtes, in den alten Bundesländern zwischen 1957 und 1993 um etwa das dreifache gestiegen. Gleichzeitig nahm im Gegensatz hierzu die Zahl der Mehrfamilienhaushalte nur um etwa ein knappes Drittel zu.

Abbildung 11: Haushalte



3.)

Die in unserer Gesellschaft allein lebenden Menschen, die sogenannten Singles, die also nicht familiär eingebunden sind, stellen (Statistisches Bundesamt) heute schon im Bundesdurchschnitt ein Drittel aller Haushalte dar.

Abbildung 12: Alleinlebende

unter

35.256 Privathaushalten

gibt es

11.858 Ein-Personenhaushalte



Hier bestehen natürlich enorme Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Regionen. Wiederum in meiner Heimatstadt Bingen leben in der Kernstadt unter 20.000 Einwohnern bereits 42% der Menschen in Ein-Personen-Haushalten, in den Vororten etwa 38%.

Zusammenfassend an dieser Stelle nun einige Bemerkungen zu den

4. Folgen des Zivilisationsprozesses:

Nach Norbert Elias, der 1936 erstmals „über den Prozeß der Zivilisation" berichtete und 1982 „über die Einsamkeit der Sterbenden" resümierte und die daraus resultierenden Konsequenzen analysierte, kam zu dem Ergebnis, daß der derzeitige Zivilisationsprozeß die Tendenz zur Individualisierung und damit auch zur Ent-Sozialisierung offenkundig werden läßt. Dies bedeutet für den Sterbenden, daß sein Abschiedsprozeß aus dem Leben heraus, welcher früher in die Lebensfamilie eingebunden und damit geborgen war, mehr und mehr vereinsamen wird, selbst in einer der hierfür bislang zur Verfügung stehenden Institutionen, wie etwa Kliniken, Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen. Denn allein die Zahl der dort wirkenden Menschen ist nicht identisch mit der Zahl der begleitenden Menschen, also der Personen, die in diesen Einrichtungen für eine Sterbebegleitung anbietbar sein sollten.

Je erfolgreicher die Medizin seit den sechziger Jahren geworden ist, um so mehr wurde in dieser Entwicklung der bewußte Umgang mit dem Sterben und dadurch mit den Sterbenden selbst verdrängt.

Je manipulierbarer das menschliche Leben in den vergangenen Jahrzehnten geworden ist, um so mehr wuchs auch in der Erwartung der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Manipulierbarkeit und letztendlich auch einmal die einer illusorischen Vermeidung von Sterben und Tod.

Je „versicherungssicherer" die Menschen unserer Generation wurden, um so mehr wuchs auch da und dort einmal der Gedanke, sich in irgendeiner Form wenigstens gegen das Sterben und damit wohl auch gegen den Tod versichern zu können (konservierte Leichen in den USA).

Doch insgeheim steht doch unverrückbar fest, daß wir außer der Gewißheit unseres Lebens eigentlich nur noch der Gewißheit unseres Alterns und auch der Gewißheit unseres Sterbens sicher sind. Doch wenn dem schon so ist, dann sollte das Sterben möglichst schnell (ohne Abschied), möglichst schmerzlos (ohne Qual) und möglichst nachts im Schlaf (unbewußt) erfolgen. So lauten sehr häufig in der Gegenwart die Wünsche Sterbender, wenn sie danach gefragt werden. Aber auch die Mitbetroffenen haben so ihre Wünsche, nämlich den nach einem Sterben in Verborgenheit („in aller Stille") und dem nach Verdrängung (nur nicht daran denken müssen, nur nicht davon reden müssen).

Alle diese Verdrängungsmechanismen haben dabei (nach Elias) sowohl ein individuelles als auch ein soziales Gesicht.

Die individuellen Verdrängungsinhalte werden dabei in erster Linie geprägt durch Formulierungen wie etwa:

„Mir wird so etwas schon nicht passieren, schon gar nicht so bald"

„Und wenn schon: Mit dem Tod ist sowieso alles aus"

„Das ist ja kein Leben mehr (in Abhängigkeit, Krankheit, Leiden und Unheilbarkeit) – deshalb so schnell wie möglich weg damit!"

Viktor Frankl hat im Rahmen seiner Logotherapie den Begriff vom Leiden am sinnlos erscheinenden Leben geprägt. Könnte man nicht in Abwandlung dieser Formulierung in unserem Falle auch einmal von einem „Leiden am sinnlos erscheinenden Sterben" reden? Und es ist wohl hier die Frage nicht nur erlaubt, sondern zu stellen notwendig, wie wir in Zukunft mit solchen Verdrängungsmechanismen am ehesten umgehen sollten.

Das „soziale Gesicht" von Verdrängungen hat ebenfalls seine ganz spezifischen Ursachen:

Zum einen sind die herkömmlichen Rituale für viele Menschen suspekt und peinlich geworden,

zum anderen machen solche Peinlichkeiten eher sprachlos und stumm,

ferner sind wir in unserem verbalen Kommunikationssprachschatz arm geworden,

und schließlich leben wir gleichsam in einem Zeitalter „der verlorenen Nähe" (Pera) und dies ist körperlich und gesamtpersönlich zu verstehen.

Dies alles hat häufig dazu geführt, daß der soziale Tod dem körperlichen Tod oft sehr bewußt vorausgeht – und dies nicht nur in unseren Altenheimen. „Noch lebend sind sie bereits gestorben"! Und in unseren Krankenhäusern gibt man häufig mit institutionalisierter Routine der Sterbesituation eine (neue) gesellschaftliche Gestalt. Zugleich wird aber in unserer Gesellschaft überhaupt die Sterbesituation umgeformt und zu einem „weißen Fleck" auf der sozialen Landkarte. Und wenn wir uns schon darüber klar sind, daß Entwicklungshilfe in einem allumfassenden Sinne notwendig ist, dann braucht wohl unsere Gesellschaft selbst in unserem Wohlfahrtsstaat solcher Hilfen in einem allumfassenden Sinne: In der Sterbebegleitung sind wir tatsächlich ein Entwicklungsland! Dieser Zustand kann jedoch nicht nur (aber auch) durch finanzielle Maßnahmen geändert werden; er bedarf vielmehr auch bei jedem einzelnen des Mutes, seine Bereitschaft zum Dienen an anderen zuzulassen und in diesem Zusammenhang auch einmal Gefühle der Zugehörigkeit und Geborgenheit zu zeigen. Wenn ein mir bekannter Anaesthesist noch heute sagt, „er halte nichts vom Händchenhalten", dann muß man schon fragen dürfen, ob Medizinisches mit Ärztlichem nichts oder nichts mehr zu tun hat.

Und wie geht es dabei den Betroffenen? Alle diese genannten Unsicherheiten machen insgesamt Angst vor dem Sterben, scheu vor dem Umgang mit Sterbenden und Trauernden. Für den Sterbenden selbst kommt aber hinzu die Angst vor dem Verlust seiner Selbständigkeit durch Abhängigkeit, die Angst vor einem Verlust von Kommunikation durch Isolierung, die Angst vor dem Verlust seiner Integrität durch Entstellung, die Angst vor dem Verlust eines schmerzfreien Lebens bis hin zur psychischen Entartung, aber auch letztendlich die Angst vor dem Verlust von Sinninhalten durch ein sinnlos erscheinendes Sterben.

Alle diese Ängste veranlassen die beschriebenen Verdrängungen sozialer und individueller Art. So hat dann das Leiden an einem persönlich als sinnlos erscheinenden Leben (im Sterben) auch eine soziale Kategorie (Elias):

  • Das in seinem Sterben sich wieder vereinzelnde Wesen verliert anscheinend so seinen Sinnbezug „als ein zugehöriges Subjekt in der Pluralität miteinander verbundener Menschen";
  • das Miteinander in einer gemeinsamen Sinnverwirklichung geht so endgültig verloren;
  • ein bislang sinnvoll gelebtes Leben entbehrt so anscheinend seiner Bedeutung, „da es für andere nichts mehr tun und sein kann" und nur noch zu sterben habe;
  • das Nicht-mehr-erreichen-können von Zielen läßt dann dem von seinem Sterben betroffenen Menschen mehr und mehr alles sinnlos werden.

Dabei „hat der Tod doch an sich nichts Schreckliches" (– den Tod erfährt man nicht mehr); das Sterben dagegen aber immer noch sehr, denn dieses erfährt man:

  • In Schmerzen und Qualen,
  • in Vereinsamung und Absonderung,
  • in der Fremdheit des Ortes,
  • in der Frage nach dem „Warum?"

Doch hierbei gibt es auch Hilfen:

  • Etwa in der Freundschaft der Überlebenden,
  • im offenen und ehrlichen Gespräch,
  • im Überleben in einer Erinnerung anderer,
  • in der Akzeptierung des Sterbens als einem integralen Bestandteil des Lebens.

Kommen wir nun zu den sich ergebenden

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III. Perspektiven:

Solche zu eröffnen sind die Ziele der Hospizidee, ganz gleich,ob sie zu Hause (als Endziel),

ob sie in Hospizen oder Heimen (für Singles, Alte und Pflegebedürftige),

oder ob sie in den Palliativstationen von Krankenhäusern verwirklicht wird.

Was soll und will nun Sterbebegleitung in dieser Situation?

1.

Die Verwirklichung des Hospizgedankens geht im Grunde zurück auf Cicely Saunders, die 1967 das erste Hospiz auf europäischem Gebiet in London eröffnete. (Das, was vorher angeblich schon an Hospizrealisierungen etwa in Polen geschehen sein soll, entsprach eigentlich im Grunde den Diensten in unseren Alten- und Pflegeheimen.) Saunders wollte nichts anderes als die Heimholung der Sterbenden in die Geborgenheit eines Hospizes, nachdem sie als Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin erfahren mußte, wie menschenunwürdig häufig in den Krankenhäusern der Weltstadt London gestorben wurde. Hospize waren dabei für sie von allem Anfang an keine verbindlichen Endstationen um jeden Preis, sondern „Raststätten auf dem Wege" (P. Becker).

1971 wurde durch die erste deutsche Fassung ihres Buches „On death and dying" unter dem deutschen Titel „Interviews mit Sterbenden" von Elisabeth Kübler-Ross auch in unserer Gesellschaft bewußt gemacht, daß Sterben auch ein Teil des Lebens ist (und zwar für alle), daß Kommunikation mit Sterbenden wichtig und möglich ist, daß die Begleiter ein Recht auf Begleitung haben, und daß aller Dienst am Sterbenden auch die Bedeutung hat, „sich an seine eigene Zukunft erinnern zu lassen".

Durch Twycross und Lamerton wurde in den nachfolgenden Jahren die Bedeutung der Schmerzfreiheit bei Bewußterhaltung des Sterbenden erkannt und gesichert und somit die Voraussetzung damit geschaffen, daß Menschen auch zu Hause in vertrauter Umgebung, in der Geborgenheit der Familie und frei von vermeidbaren Qualen und Schmerzen sterben können.

Gerade in diesem Zusammenhang ist und bleibt es geradezu ein Scandalum, daß trotz einer möglicherweise erreichbaren Schmerzfreiheit bzw. Schmerzlinderung bei bis zu 80% bis 90% aller Sterbenden nur etwa 15% bis 20% in den „Genuß einer solchen Sicherheit" gelangen! Im Grunde ist dies nichts anderes als eine unterlassene Hilfeleistung, bei der es nicht bleiben darf.

2.

In unserer Bundesrepublik entwickelten sich ab 1971 erste Ansätze für einen „anderen Umgang" mit dem Sterben und dadurch mit den Sterbenden. Es sei erinnert an erste Initiativen in Limburg, in Aachen und in München.

Seit 1981 wurden erste Schritte zur Realisierung einer antizipierenden Schmerztherapie unternommen, dies wiederum in Limburg bzw. in Ludwigshafen.

Seit 1982 wurden erstmals von hier aus auch in der ehemaligen DDR Seminarangebote zur Einführung in die Sterbebegleitung realisiert.

Seit 1987 kam es dann auch zur Bildung aktiver Hospiz-Helfergruppen in Österreich, der Schweiz, in Luxemburg, im deutschsprachigen Südtirol und in Ostbelgien.

3. Was will nun die Hospizbewegung?

Vielleicht können hier und heute einmal die stets in Entwicklung befindlichen Inhalte der Hospizidee in nachfolgender Weise vorgestellt werden:

  1. Die Inhalte von Sterben Tod und Trauer in unserer Gesellschaft bewußt zu machen und damit zu enttabuisieren.
  2. Den Bedürfnissen, Erwartungen und Hoffnungen der Sterbenden und Trauernden gerecht zu werden (und dies in körperlicher, seelischer, sozialer, spiritueller und rechtlicher Hinsicht).
  3. Die Angehörigen, Freunde, hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter in Medizin, Pflege, Sozialarbeit, Seelsorge, Psychologie und Soziologie miteinander zur Begleitung zu befähigen und darin zu stützen (wie etwa durch das Hospizbildungswerk der Internationalen Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbestand in Bingen und durch die Hospizbildungsstätte der Malteser in Bad Kreuznach).
  4. Das Sterben überall dort, wo es geschieht, menschenwürdig geschehen zu lassen (also zu Hause, in Hospizen, in Palliativstationen, in Heimen, in Gefängnissen, in Klöstern usw.).
  5. Letztendlich die Heimholung des Sterbenden in die Geborgenheit seines Lebensortes oder eines anderen Ortes der Geborgenheit nicht mehr zu verhindern, sondern zu ermöglichen. (Dabei dürfen Hospize niemals zu verbindlichen, gesetzlich vorgeschriebenen Endstationen werden.)


4. Was ist nun bisher geschehen?

  1. Inzwischen existieren in der Bundesrepublik etwa 20 Hospizeinrichtungen (allerdings von sehr unterschiedlicher Form), wobei die Frage schon gestellt werden muß, ob es sich dabei jeweils um echte Hospize im ursprünglichen Sinne handelt.
  2. Nach einem dreijährigen Modellversuch des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) werden inzwischen eine Reihe von Palliativstationen in Krankenhäusern geplant und realisiert.
  3. Haben sich inzwischen unzählige örtliche und regionale Hospiz-Initiativen gegründet.
  4. Wurde in diesem Jahr in Rheinland-Pfalz (wie vorher schon in Nordrhein-Westfalen) eine Landesarbeitsgemeinschaft der Hospiz-Initiativen bei der Regierung angesiedelt und zu einer Kontaktstelle für die Vorbereitung politischer Entscheidungen.
  5. Hat eine bundesweite Bildungsarbeit eingesetzt, die flächendeckend, allgemeingültig und berufsbezogen werden dürfte.
  6. Hat sich eine Bundesarbeitsgemeinschaft aller Hospiz-Initiativen gegründet, die als ein entsprechendes Sprachrohr gegenüber den Bundesbehörden tätig werden wird.


5. Woran fehlt es noch?

  1. Im universitären Bereich an fachbezogenen Lehrinhalten (in Medizin, Soziologie, Psychologie und Theologie) aber auch an unseren Fachhochschulen im Rahmen der Ausbildungsgänge Sozialarbeit/Sozialpädagogik, zum großen Teil auch immer noch an unseren Krankenpflege- und Altenpflegeschulen.
  2. An der allgemeinen Verbindlichkeit einer antizipativen Schmerztherapie (Zulassungsvorschriften) sowie an einer allgemein gültigen Anerkennung der Palliativmedizin im Lehr- und Wirkungsbereich der Medizin überhaupt.
  3. An einem Konsens von Staat, Kirchen und sozialen Institutionen (Caritas, Diakonie, AWO), wobei eine Kooperation unter den Bundesministerien, aber auch mit den jeweiligen Landesministerien, als dringendst erforderlich eingestuft werden muß.
  4. An einheitlichen Bildungskonzepten (so wie sie beispielsweise derzeit in einer Arbeitsgruppe im BMAS erarbeitet werden).
  5. An flächendeckenden ambulanten Hausbetreuungsdiensten, die eine erste und unerläßliche Voraussetzung für jede Hospizarbeit zu gelten hat und einer vorbehaltlosen Kooperation mit den Sozialstationen, den mobilen sozialen Diensten, den Ärzten vor Ort usw. bedarf.
  6. An genügenden Einrichtungen selbständiger Hospize und selbständiger eingegliederter Palliativstationen in unseren Krankenanstalten sowie an einer verbindlichen Definition des Hospizbegriffes.

    Abbildung 13

    • g.) An ausreichender personeller Besetzung mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen (sowie deren Begleitung durch Supervision).
    • h.) An deren rechtlicher (z.B. durch ein Hospizgesetz) und finanzieller (etwa durch eine Mischfinanzierung) Absicherung. Es geht einfach nicht mehr an, daß Helfende von Ministerium zu Ministerium, von Amt zu Amt, von Tür zu Tür, von Paragraph zu Paragraph verwiesen werden und wie in der Vergangenheit auch in Zukunft betteln gehen müssen, um überhaupt sich in ihrem selbstlosen Dienst von „roten Zahlen" freihalten zu können. Wenn ein Hospiz in Recklinghausen nach wie vor auf 60% seiner Finanzierung durch Spenden angewiesen ist, dann ist und bleibt solches ein unhaltbarer Zustand und die Frage nach der politischen Verantwortbarkeit solcher Gegebenheiten darf doch wohl an dieser Stelle einmal gestellt werden.
    • i.) An der mitverantwortlichen Leistungsbereitschaft mancher Krankenkassen, auch in der Anerkennung und Finanzierung psychosozialer Dienste und der damit verbundenen Leistungen, sind sie doch auch „Gesundheitskasse" für die seelische Gesundheit ihrer Mitglieder!
    • k.) An einigen Klärungen im Rahmen der Bundespflegeversicherung, wobei doch endlich auch einmal die Anerkennung psycho-sozialer Dienste und deren Finanzierung gesichert werden muß.
    • l.) An der Zulassung und Unterstützung berechtigter Modellprojekte über den bisherigen bescheidenen Rahmen hinaus, jedoch gebunden an die Voraussetzung entsprechender Kompetenz.
    • m.) An der Rooming-In-Bereitschaft der Familien, Nachbarschaften und Gemeinden vor Ort.

      Nur durch ein Miteinander aller Bereitwilligen und Verpflichteten im Denken, Reden und Tun wird die Realisierung dessen gelingen, was uns heute und hier zusammengeführt hat und in diesen Stunden der Weichenstellungen endgültig bedarf.

      Letztendlich wird der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod nur dann ein anderer, also ein menschenwürdiges Gesicht bekommen, wenn:

      1. Sterbebegleitung in unserer Gesellschaft (und die sind wir) die Anerkennung und Unterstützung erfährt, die sie verdient (und ohne die sie „sterben" wird);
      2. wenn die Sterbenden selbst nicht mehr aus der Gemeinschaft der Lebenden abgesondert und die Betroffenen in ihrer Trauer nicht mehr alleine gelassen werden;
      3. wenn wir schließlich alle bereit sind, uns durch das Sterben anderer an unsere eigene Zukunft erinnern zu lassen und uns damit schon jetzt bewußt zu machen, was einmal in unserem eigenen Sterben von Wichtigkeit sein und bleiben dürfte.

    © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999


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